Westerwelle

Oder: Die Sendung des Alleinunterhalters

Fast ist es schon rührend. Seit Jahr und Tag verspricht Guido Westerwelle seinen Freidemokraten, daß er sie an die Spitze des Zeitgeistes katapultieren werde. Bei Wahlen aber landeten sie mit ihm, dem selbsternannten Avantgardeur, fast immer weit hinten. Und doch glauben die Liberalen unverdrossen an Guido. Sie glauben fest daran, daß Westerwelle tatsächlich mit der neuen Jugend, der nachindustriegesellschaftlichen Moderne, der ganzen internetgesellschaftlichen Zukunft im Bunde steht. So werden sie ihn also, den chronischen Wahlverlierer der 90er Jahre, demnächst zum Vorsitzenden wählen, damit er sie dann zu den lichten Höhnen einer Über-zehn-Prozent-Partei führen möge.

Westerwelle selbst hat keinen Zweifel, daß er dafür exakt der richtige Mann ist. Es gibt da bei ihm ein für Liberale sonst ganz unübliches Sendungsbewußtsein, etwas Missionarisches, gar Doktrinäres. Seit den frühen 80er Jahren, seit seiner Zeit als Chef der Jungliberalen, erzählt Westerwelle den Freien Demokraten unaufhörlich, daß er der Vertreter einer neuen Generation in der Gesellschaft sei, die mit dem linken und alternativen Geist der 68er gebrochen habe. In Wirklichkeit aber setzte sich ‘68 erst in dieser Generation, in der "Generation Westerwelle" flächendeckend durch. Als Westerwelle 16 Jahre war, heftete sich das Gros seiner Altersgenossen die Anti-AKW-Buttons an die selbstgestrickten Pullis; als Westerwelle 20 Jahre wurde, demonstrierte seine Kohorte gegen die Atomraketen der NATO. Diese Jugendkultur wurde zum Kern der grünen Generationenpartei. Die FDP hingegen hat bis auf den heutigen Tag die wenigstens Wähler in den Geburtsjahrgängen der frühen 1960er Jahre - eben der "Generation Westerwelle".

Westerwelle also ist in seiner Generation nicht ein typischer Protagonist, er ist eine Minderheitenfigur. Das muß für eine politische Biographie nicht schlecht sein. Man hat als Minderheitenmensch ziemlich zu kämpfen, muß couragiert austeilen, auch eine Menge einstecken können. Aber es verhärtet auch. Und in der Tat agierte Westerwelle noch in den weltanschaulich längst abgerüsteten 90er Jahren als der letzte Ideologe des deutschen Parteiensystems. Er, der Prophet der Spaßgesellschaft und des neujugendlichen Pragmatismus, war in all seinen Reden - selbst im kleinsten Kreis - immer zu laut, zu agitatorisch, war unzeitgemäß polarisierend, war in seinem neoliberalen Sturm und Drang schon nachgerade fundamentalistisch.

Stets war bei ihm alles entweder schwarz oder weiß, entweder faul oder fleißig, entweder marktwirtschaftlich oder staatswirtschaftlich. Und immer wieder verbiß er sich in die Feinde seiner Jugend, die Grünen. Noch 1999 wetterte er auf zahllosen FDP-Versammlungen gegen "grüne Aussteiger", obwohl von dieser Spezies in der ganzen weiten deutschen Republik vermutlich nicht ein einziges Exemplar mehr existierte. So hatte Westerwelles Philippika zuweilen etwas von der politischen Monomanie eines Sektenführers. Und mehr als eine bessere politische Sekte waren die Freien Demokraten im Herbst 1999 jenseits des deutschen Südwestens auch wirklich nicht.

Doch jagten die Liberalen ihren Guru nicht davon. Denn schließlich war dessen Botschaft und Rhetorik kraftvoll, eindeutig, von Zweifeln nicht angekränkelt. Das tat den von Wahlniederlagen und allerlei medialer Häme gegerbten Freien Demokraten irgendwie gut. Und überhaupt haben nicht nur Sektenhäuptlinge, sondern auch alle großen Parteiführer etwas Monomanisches, etwas Eiferndes, etwas Apodiktisches. Überdies: Das große Versprechen Westerwelles, die FDP zu neuer und ganz unbekannter Größe zu führen, war in der Tat nicht gänzlich unplausibel. Im Jahr 2000 schien es plötzlich aktuell und einlösbar. Denn nun gerieten auch die deutschen Christdemokraten in die gleiche Krise wie seit Jahren schon ihre Schwesterparteien überall sonst in Europa. Nun bot sich auch den deutschen Liberalen die Chance, zu den Gewinnern der gesellschaftlichen Säkularisierung, des Zerfalls der christlichen Milieus, der Auflösung konservativer Leitkulturen und Parteibindungen im Bürgertum zu werden. Westerwelle wies jetzt gern nach Holland, wo die Liberalen zur überragenden Mehrheitspartei der bürgerlichen Schichten geworden waren, und wo sie die einst so ungewöhnlich starken Christdemokraten spektakulär dezimiert hatten. Das große und immer wieder zitierte Vorbild war der damalige Anführer der niederländischen Liberalen, Frits Bolkestein, dem dieses politische Kunststück gelungen war.

Indes: Größer kann der Unterschied kaum sein als der zwischen Bolkestein und Westerwelle. Der holländische Erfolgsliberale ging erst mit 43 Jahren in die Politik. Zuvor war er als Manager der Shell-Gruppe in nahezu allen Erdteilen dieser Welt unterwegs. Er verfügt also wirklich über die wirtschaftliche Kompetenz und Weltläufigkeit, von der Westerwelle lediglich spricht. Überdies ist Bolkestein ein hochgebildeter Mensch, Verfasser anspruchsvoller staatstheoretischer Essays und Bücher. In den 90er Jahren war er der Intellektuelle schlechthin in der niederländischen Politik. Er hatte dazu den Instinkt für populäre Themen, operierte damit aber nicht im Stile eines Populisten. Wenn er für die Begrenzung des Ausländerzuzugs eintrat, wenn er sich dagegen aussprach, die Türkei künftig in die Europäische Union einzubeziehen, wenn er für law and order plädierte, dann geschah dies immer in Form eines geschliffenen formulierten Kollegs über abendländische Kultur, über die Werte der Renaissance, der Aufklärung, der Demokratie. So sammelte er die verschiedenen Teile des Bürgertums, so imponierte er Wirtschaftsführern, so beeindruckte er Professoren, und so vokaliserte er in ganz unhaiderianischer Manier, doch mit den gleichen Effekten die Ängste und Ressentiments der Kleinbürger.

Westerwelle dagegen ist von dieser Integrationskunst weit entfernt. In Wirtschaftskreisen gilt er nicht als ökonomische Leuchte, sondern als unseriöser Sprücheklopfer. Das Bildungsbürgertum rümpft sowieso die Nase über seine Harlekinerien in TV-Talkshows. Und auch im deregulierungsskeptischen Kleinbürgertum gibt es mehr Gegner als Freunde des designierten FDP-Vorsitzenden. Es spricht wenig dafür, daß gerade Westerwelle die liberale Neusammlung des durch die Krise der CDU politisch entstrukturierten klassischen Bürgertums gelingen könnte.

Aber darauf kommt es Westerwelle auch gar nicht an. Er folgt nicht dem holländischen Weg, auch wenn er das seit Jahren behauptet. Es geht ihm schließlich nicht um das konventionelle bürgerliche Lager, nicht um old economy und erst recht nicht um das traditionelle Bildungsbürgertum mit dem überlieferten Tugendkanon von Hochkultur, Innerlichkeit und Askese, von Distinguität und Diskretion. All das ist für Westerwelle die bürgerliche Gesellschaft von gestern, ist gewissermaßen Gerhardt, verliert einfach an Relevanz, bedeutet politisch daher die ewige Zitterpartie um die Fünf-Prozent-Hürde. Westerwelle zielt vielmehr auf die - expandierenden - neumittigen Lebensgefühle und neuökonomischen Existenzen, die auf Distinktion pfeifen, da sie die Selbststilisierung lieben, die Traditionen verachten, da sie allein im schnellen Wechsel den täglich nötigen Kick bekommen.

Westerwelle setzt auf die Selbst-Darsteller und Selbst-Vermarkter, auf die neuen Selbständigen und Lebenskünstler, auf die Generation @, auf Onliner, Chatter und Surfer im Internet. Das, so hämmert er seinem Parteivolk wie eh und je ein, sind die trendmaker der Zukunft; wer sie gewinnt, der hat auch bei Wahlen die Nase vorn. Diese Klientel findet sich nicht in Innungen und Handwerkskammern, nicht in Thomas-Mann-Gesellschaften und an Rilke-Abenden. Dorthin mag man die Gerhardts, Brüderles und Kinkels schicken. Westerwelle will stattdessen die neumittige Generation zur FDP hinüberziehen, durch den gezielten Medienauftritt, durch Eventmanagement, durch campaigning, durch climate setting. Wie das eben so heißt in der BWL- und PR-Sprache dieser Generationenkultur, die nicht die von Westerwelle ist, aber als deren Sprecher er sich emsig andient, wo ihn doch die eigene Kohorte so schlimm enttäuscht hat.

Unrealistisch ist das Projekt Westerwelle nicht. Die dänischen Liberalen haben in den neunziger Jahren vorgemacht, daß so etwas mit einem Medienprofi an der Spitze funktionieren kann. Sie wurden in der Tat zur Partei der jungen Generation, steigerten ihre Mitglieder- und Wählerzahlen beträchtlich, marginalisierten die einst dominanten Konservativen. Und doch hatte man eine Zeitlang den Eindruck, daß sich Westerwelle selbst nicht mehr seiner und seines Projekts sicher war.

Gewiß, das war auch Teil eines Rollenspiels, denn Westerwelle hat registriert, daß ihm das Trompetenhafte, das eifernd Agitatorische seiner rhetorischen Inszenierung mehr Sympathien gekostet als Zustimmung eingebracht hat. Also gab er sich nun nachdenklich, leiser, empfindsamer. Aber er hat natürlich auch für sich bilanziert, daß nicht eine einzige der Kampagnen, die er in seiner Zeit als Parteigeneral medial lancierte, gesellschaftlich wirklich gezündet hat. Es gab keinen freidemokratisch angeführten Aufruhr des deutschen Bürgertums zur radikalen Senkung der Steuern; es gab keine freidemokratisch durchdrungene Volksbewegung für eine liberale Bildungsreform; es gab keine freidemokratisch organisierten Demos vor Schulen oder Hochschulen für die Abschaffung der Wehrpflicht. Immer war davon die Rede. Nie hat man irgendetwas davon zuwege gebracht.

So sind die Liberalen von der Aktionsfähigkeit, um die es gerade Westerwelle vorrangig ging, weit entfernt. Der künftige Parteivorsitzende weiß es besser als jeder andere. Er wird sich häufig genug einsam und verlassen vorgekommen sein, als medialer Alleinunterhalter unter all seinen behäbigen Parteifreunden. Und er wird ahnen, das sein Geschäft als Parteichef noch schwieriger wird, da er dann einfach nicht mehr der große Antreiber und forsche Vorwärtsstürmer sein darf, sondern häufig behutsam integrieren, vermitteln, ausgleichen muß. Dabei sind seine Machtressourcen durchaus begrenzt, da er keinen Landesverband geschlossen hinter sich hat, da er die Fraktion nicht führt, da er kein Regierungsamt bekleidet. Es fehlen ihm also die Patronagemöglichkeiten, die man braucht, um Loyalitäten zu sichern, Kritiker einzubinden.

Und das in einer Partei, die bisher immer gnadenlos mit ihren Parteivorsitzenden umgesprungen ist. Mit Ausnahme von Walter Scheel haben die Freien Demokraten bislang noch jeden Vorsitzenden mit Schimpf und Hohn von seinem Posten vertrieben. In dieser Partei der Individualisten geht das Genörgel über den Vorsitzenden schneller, unbarmherziger und destruktiver los als in den großen Volksparteien, in denen sich die Reste an christlichen und solidarischen Disziplinierungsnormen noch stabilisierend auf die Führungsstrukturen auswirken.

Doch jetzt, in diesen Wochen, steht die FDP erst einmal gut da. Die Freien Demokraten sind gegenwärtig die Profiteure der christdemokratischen Konfusion und Depression. Am Abend der nächsten Landtagswahlen wird man wohl strahlende und kraftstrotzende Liberale vor den Kameras sehen. Aber das muß man noch nicht unbedingt dem Generalsekretär gutschreiben. Diesen Bonus werden gewiß auch die Herren Brüderle und Döring wortreich und vernehmlich für sich reklamieren. Und die werden auch danach dem designierten Parteivorsitzenden nicht nur selbstlos das Leben und die Karriere leicht machen.

Nein, Westerwelle muß erst noch gewinnen. Er muß seine Partei 2002 zurück in die Regierung und sich selber ins Kabinett bringen. Er muß also die Schlacht gegen die Grünen gewinnen. Dafür wird er sich gewiß bis zur Erschöpfung abstrampeln. Denn der Kampf gegen die Grünen, das ist der eigentliche Antriebsstoff im politischen Leben des Guido Westerwelle. Solange er diesen Kampf nicht gewinnt, solange wird Westerwelle nicht zur Ruhe kommen. Solange wird er sich notfalls in jeden Container dieser Republik begeben, sollte darin nur irgendwo eine Fernsehkamera verborgen sein.

zurück zur Ausgabe