Wie der Klimawandel weltweit die Migration anheizt
Der Klimawandel ist die Herausforderung unseres Jahrhunderts. Mehr Klimaschutz tut dringend not, auch weil sich sonst die Konflikte um knapper werdende Ressourcen verschärfen werden und der Migrationsdruck in den Schwellen- und Entwicklungsländern steigt. Die Internationale Organisation für Migration schätzt, dass weltweit derzeit 244 Millionen Menschen migrieren, das heißt ihr Heimatland mit dem Ziel verlassen haben, sich anderswo dauerhaft niederzulassen. Rechnet man die Binnenmigration hinzu, erhöht sich die Zahl auf knapp eine Milliarde. „Migration“ umfasst dabei vielfältige Formen von Mobilität mit unterschiedlichen Beweggründen, die im Zuge der Globalisierung an Komplexität und Dynamik rasch zunehmen. Flucht, Vertreibung oder auch freigewählte Migration resultieren aus der Kombination mehrerer Faktoren: Kommen Naturkatastrophen, eine fragile Landwirtschaft, hoher Bevölkerungsdruck, schwache Staatlichkeit und ethnische oder religiöse Konflikte zusammen und gibt es anderswo eine bessere Perspektive, ist die Wahrscheinlichkeit der Abwanderung groß.
Zur Gruppe der Migranten zählen 65 Millionen Flüchtlinge (darunter 38 Millionen Binnenvertriebene) – so viele wie nie zuvor. Naturkatastrophen und Umweltschäden stehen bei den Fluchtursachen seit einigen Jahren an erster Stelle, deutlich vor kriegerischen Konflikten: Allein im Jahr 2014 haben 19 Millionen Menschen infolge von Naturkatastrophen ihre Heimat verlassen müssen. Klimabedingte Migration ist also kein fernes Zukunftsszenario, sondern strapaziert bereits heute die Kapazitäten vieler Staaten aufs Äußerste. Gleichzeitig steigt das Risiko, dass unterlassener Klimaschutz und die globale Erwärmung in den kommenden Jahrzehnten Wanderungsbewegungen bislang unbekannten Ausmaßes hervorrufen. Dabei reichen die in Studien genannten Zahlen potenziell Klimavertriebener von 25 Millionen bis zu einer Milliarde Menschen.
Zu den Brennpunkten klimabedingter Migration zählen vor allem dichtbevölkerte Flussdeltas wie das Delta des Amazonas, vom Meeresspiegelanstieg besonders betroffene Küstenstädte (etwa Guangzhou oder Ho Chi Minh City), Inselstaaten wie die Malediven und Trockengebiete zum Beispiel in Ostafrika oder Zentralasien. Allein im afrikanischen Dürregürtel südlich der Sahara leben 300 Millionen Menschen in fragilen Verhältnissen.
Der Klimawandel fungiert als Risikomultiplikator, der bereits bestehende Probleme so verschärfen kann, dass Menschen gezwungen sind, ihre Heimat zu verlassen. Eine gemeinsame Studie des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung, von Climate Analytics und der Berliner Humboldt-Universität aus dem Jahr 2016 kommt zu dem Schluss, dass der Klimawandel besonders in ethnisch zersplitterten Gebieten das Risiko von bewaffneten Konflikten und Flucht deutlich erhöht. In einem Viertel aller Fälle von Gewaltausbrüchen fielen diese mit Naturkatastrophen zusammen. Damit ist Klimastress ein deutlich größerer Auslöser von gewaltsamen Konflikten als etwa soziale Ungleichheit. Beispielsweise spitzte sich der blutige Bürgerkrieg im Südsudan, der zehntausende Opfer forderte und noch mehr Menschen zur Flucht zwang, während einer Dürre infolge des starken El-Niño-Klimaeffektes 2015 und 2016 zu. Ethnische Spannungen zwischen Viehzüchtern und Ackerbauern wurden in dieser Phase durch den massiven Druck auf knappe Ressourcen wie Wasser und Land weiter verschärft.
Migration als letzter Ausweg
Am Beispiel von Bangladesch lässt sich ebenfalls zeigen, wie der Druck auf natürliche Ressourcen die Lebensbedingungen der Menschen so verschlechtert, dass es zu Abwanderung kommt: Bei Umfragen des Center for Participatory Research and Development unter 600 ländlichen Haushalten des Landes gaben 90 Prozent der Befragten an, unter klimabedingten Schäden zu leiden. Besonders stark betroffen waren hierbei Haushalte, die von der Fischerei oder Landwirtschaft leben. Um Einkommensverluste durch Überschwemmungen, Versalzung oder tropische Wirbelstürme auszugleichen, hatten 90 Prozent der Befragten zunächst Kleinkredite aufgenommen, was zu weiterer Verschuldung führte. In 70 Prozent der Fälle war die Ernährungssicherheit zumindest zeitweise gefährdet. Je nach Bezirk gaben zwischen 26 und 46 Prozent der Befragten an, dass schließlich mindestens ein Teil der Familie auf der Suche nach Arbeit abgewandert sei. Die meisten blieben dabei in der Region, um der Familie möglichst nahe zu sein. Migration war für die Mehrzahl der Befragten kein Wunsch, sondern der letzte Ausweg.
Diese und viele andere Untersuchungen zeigen, dass es den Klimavertriebenen nicht gibt, dass Beweggründe und Verläufe von Flucht und Migration vielschichtig sind. Zugleich zeigen sie aber auch, dass die Zerstörung der Lebensgrundlagen infolge des Klimawandels und der Ressourcenknappheit zum wichtigsten Treiber von Migration geworden ist. Deutlich wird ebenso, dass meistens die Schwächsten zurückbleiben, die auf Unterstützung angewiesen sind: die ganz Alten, die zu Jungen, die ganz Armen und vor allem die Frauen.
Je stärker der globale Migrationsdruck und je größer die damit verbundene humanitäre Not werden, desto wichtiger wird ein klar regulierter Umgang mit menschlicher Mobilität. Das ist nicht zuletzt auch eine entwicklungspolitische Aufgabe: Ein Unterziel der nachhaltigen Entwicklungsziele der Vereinten Nationen sieht vor, sichere, reguläre und verantwortungsvolle Migration und Mobilität von Menschen durch eine gut gesteuerte Migrationspolitik zu erleichtern. Noch klaffen Anspruch und Wirklichkeit jedoch weit auseinander. So hat der Begriff des „Klimaflüchtlings“ seit 2007 zwar Eingang in den öffentlichen Diskurs gefunden und es wurden Forderungen nach rechtlicher Anerkennung der Betroffenen laut. Aber die Chancen für Klimaflüchtlinge auf einen eigenen Rechtsstatus tendieren in absehbarer Zeit gegen null.
Worin jetzt die Verantwortung Europas besteht
Wie steht es um die Verantwortung und Rolle Europas? Obwohl sich die EU spätestens seit 2010 mit der Thematik im Rahmen ihrer Klima-, Flüchtlings-, Außen- und Sicherheitspolitik auseinandersetzt, verfügt sie nach wie vor über keine abgestimmte Strategie. Vielmehr scheint „Abwehr durch Negation“ die Devise zu sein. Der Mangel an Ambitionen sowohl beim Klimaschutz als auch im Umgang mit klimabedingter Migration führt dazu, dass die EU ihrer politischen Verantwortung nicht gerecht wird. Als drittgrößter Treibhausgasemittent und eine der reichsten Erdregionen, deren wirtschaftlicher Erfolg historisch betrachtet nicht unwesentlich auf der Verbrennung fossiler Energien basiert, trägt Europa unzweifelhaft eine große moralische Mitverantwortung dafür, dass Menschen unverschuldet zur Flucht vor dem Klimawandel getrieben werden.
Um ihrer Verantwortung gerecht zu werden, benötigt die EU eine Politik, die auf drei Pfeilern beruhen sollte. Erstens: Sie muss die Emissionslücke schließen, indem die 2030-Minderungsziele auf mindestens 55 Prozent angehoben werden und eine vollständige Dekarbonisierung bis zum Jahr 2050 angestrebt wird. Zweitens: Die EU sollte mithilfe eines Klimarisiko-Managements, das auf gestärkte Widerstandsfähigkeit setzt, und durch die solidarische Unterstützung vulnerabler Staaten die Risikolücke schließen. Drittens gilt es, die humanitären Schutzdefizite zu minimieren: durch eine freiwillige Vereinbarung menschenrechtsbasierter Mindeststandards zum Schutz von Menschen vor Klimakatastrophen, mithilfe der Weiterentwicklung der „EU-Richtlinie zum vorübergehenden Schutz“ sowie der Einrichtung eines freiwilligen internationalen Fonds für klimabedingte Umsiedlung und Rehabilitation.
Menschen, die temporär oder dauerhaft vor Klimakatastrophen oder prekären Umweltsituationen fliehen, bedürfen eines Mindestmaßes an Sicherheit. Ihre Menschenrechte zu sichern, ist ein humanitäres Gebot. Weil derzeit eine globale, im Völkerrecht verankerte Regelung keine Aussicht auf Erfolg hat, sollte die EU dabei mitwirken, subsidiären Schutz im Rahmen freiwilliger Vereinbarungen auf nationaler oder regionaler Ebene zu gewähren. Beispiele hierfür sind die von der Nansen-Initiative angestoßene und von der Platform on Disaster Displacement fortgeführte „Global Protection Agenda“ für grenzüberschreitende Klimamigration sowie die „Peninsula-Prinzipien“ im Falle klimabedingter Binnenvertreibung.
Die EU kann über eine Erweiterung ihrer „Richtlinie zum vorübergehenden Schutz“ Betroffenen zeitweise Obhut bieten und parallel Einwanderungsmöglichkeiten verbessern. Indem sie einen freiwilligen internationalen Fonds schafft, könnte Europa betroffene Länder finanziell dabei unterstützen, menschenrechtskonform und nachhaltig klimabedingte Umsiedlungen durchzuführen. Damit würde die EU zugleich ein Zeichen setzen und den Menschen wieder in den Mittelpunkt stellen – entgegen einer um sich greifenden und von Donald Trump auf die Spitze getriebenen Abwehrhaltung, bei der Menschen auf der Flucht nur noch als Sicherheitsrisiko und Bedrohung wahrgenommen werden.
Eine so weiterentwickelte EU-Klimapolitik, flankiert durch eine vorausschauende Migrationspolitik, wäre ein internationales Signal und würde Vertrauen in die europäische Handlungsfähigkeit wiederherstellen. Zugleich könnte die Europäische Union hieraus ein Narrativ darüber entwickeln, was den Wesenskern ihrer Migrations-, Klima-, Menschenrechts- und Entwicklungspolitik in unsicheren, von Umbrüchen gekennzeichneten Zeiten ausmacht.