Wie die Gesellschaft besser wird

Amartya Sens Gegenvorschlag zu Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit

Antworten auf die Frage, wie eine „gute“ Gesellschaft aussieht, werden zurzeit vielfältig angeboten, teils zu Discount-Preisen. Gewiss ist eine „gute“ Gesellschaft eine „gerechte“ Gesellschaft – aber wie ist diese zu bestimmen? Den bis heute einflussreichsten Versuch einer Antwort hat vor fast 40 Jahren John Rawls in seiner grandiosen „Theory of Justice“ unternommen. Amartya Sen widmet die hier vorgelegte Synthese seines nicht weniger beeindruckenden philosophisch-ökonomischen Lebenswerks dem Andenken an Rawls (bei dem der Ökonom Sen in den sechziger Jahren selbst in die philosophische Lehre gegangen war) – um dessen vertragstheoretischen Ansatz auf ebenso scharfsinnige wie respektvolle Weise bis auf die Grundmauern zu demolieren.

Wenn Ungerechtigkeit evident ist

Dies könnte eine philosophische Fachdebatte bleiben, wenn der Autor nicht Amartya Sen wäre, der im indischen Bundesstaat West-Bengalen aufgewachsene Träger des Nobelpreises für Ökonomie mit seiner seit den sechziger Jahren aus Oxford und Harvard zu Gehör kommenden Stimme aus der „Dritten Welt“. Sen ist Mit-Erfinder des Human Development Index der Vereinten Nationen und (zusammen mit Joseph Stiglitz und Jean-Paul Fitoussi) Autor des Report by the Commission on the Measurement of Economic Performance and Social Progress, der bisher gründlichsten Kritik an der herrschenden (und doch so abwegigen) wirtschaftstheoretischen Lehre, die wirtschaftliches Wachstum als Hauptmaßstab für das Wohlergehen von Menschen und Gesellschaften kanonisiert.

Anders als in vielen technisch anspruchsvollen Teilen seines schon quantitativ beeindruckenden Lebenswerkes geht es in diesem Buch gedanklich und sprachlich so zu, dass der leidlich vorgebildete Laie gut mitkommt. Zwei dem Leser immer wieder in Erinnerung gerufene Weichenstellungen bestimmen den Gang der Argumentation. Erstens: Auf was kann das Prädikat „gerecht“ überhaupt Anwendung finden? Antwort (contra Rawls): jedenfalls nicht allein auf die institutionelle Ordnung einer Gesellschaft, sondern primär auf ihre „realizations“, das heißt die beobachtbaren und von den Beteiligten erlebten, erlittenen, und bewerteten Zustände und Verteilungsergebnisse, insofern sie die Freiheit der Betroffenen tangieren, ihr Leben nach eigenen Werten und Plänen zu führen. Und zweitens: Um zu wissen, was ungerecht ist, brauchen wir uns auf ein definitives Kriterium für „Gerechtigkeit“ gar nicht zu einigen, zumal ein solcher Versuch ganz aussichtslos wäre. Hungersnot, Sklaverei, die selektive Abtreibung weiblicher Föten und das Massensterben an leicht behandelbaren Krankheiten sind Beispiele für evidente Ungerechtigkeit, ebenso wie bei uns die dauerhafte Brachlegung der Arbeitskraft großer Bevölkerungsteile und ihre daraus folgende materielle Lage. Es geht demnach nicht um die „fundamentalistische“ Bestimmung einer „gerechten“ Gesellschaft (mit der sich bisherige Gerechtigkeitsphilosophen aus der Affäre gezogen haben), sondern um die vergleichende Beobachtung von mehr oder weniger ungerechten Zuständen – nicht um die „gute“, sondern um eine durch konkrete Änderung vor Ort weniger schlechte und ungerechte, mithin „bessere“ Gesellschaft.

Unter welchen Bedingungen können Menschen ihr eigenes Leben leben?

Das Vehikel dieser Besserung ist die berühmte, von Sen zusammen mit Martha Nussbaum ausgearbeitete Idee der capabilities, meist übersetzt als „Verwirklichungschancen“ oder auch „gesellschaftliche Befähigungen“. In Anlehnung an einen durchaus materialistisch ausgelegten Freiheitsbegriff geht es bei den capabilities um die Voraussetzungen, die es Menschen erlauben, in Würde ein von ihnen mit Gründen gewolltes Leben zu führen – also um Nahrungsmittel und Wohnung, Bildungswesen, Verkehrs- und Kommunikationsmittel, Gesundheitsversorgung, aber auch Polizeischutz, funktionierende Rechtsordnung, Demokratie. In seinem Werk Poverty and Famines aus dem Jahr 1981 hatte Sen bereits den empirischen (wenn auch in jüngster Zeit in Indien wieder fragwürdig gewordenen) Nachweis geführt, dass in Demokratien deshalb keine großen Hungersnöte auftreten, weil demokratische politische Rechte den Hungernden erlauben, ihre Stimme zu erheben. Hunger, so Sen, eklärt sich nicht aus dem Mangel an Nahrungsmitteln, sondern aus dem fehlenden Recht auf Nahrungsmittel beziehungsweise der fehlenden Verantwortung von Regierungen für die Ernährungssicherheit ihrer Bevölkerung.

Es gibt ungerechte Lagen, bei denen sofort klar ist, wer moralisch verpflichtet ist, ihnen durch welche Handlungen abzuhelfen. Das gilt zum Beispiel für die elterliche Sorgepflicht. In den meisten Fällen möglicher Besserung sind jedoch die Antworten auf beide Fragen potenziell strittig. Es handelt sich dann um unbestimmte moralische Pflichten, die als Pflichten nicht bestreitbar sind, sondern „nur“ hinsichtlich der Prioritäten und der Zuständigkeiten für ihre Erfüllung. In solchen Fällen kann nur ein von Sen (unter Berufung auf Jürgen Habermas) skizziertes Verfahren deliberativer Urteilsbildung mit globaler Beteiligung helfen. Eine Folgerung, die zugleich den Schlüssel zu Sens eigener entwicklungspolitischer Praxis für die Vereinten Nationen liefert.

Weniger ungerechte Gesellschaften werden überall gebraucht

Das Buch ist das Kompendium von Sens Lebenswerk. Es wäre ein bequemes Missverständnis zu meinen, seine Antworten wären nur auf die Entwicklungsländer beschränkt und würden „uns“ daher nichts angehen. Denn zum einen gehen uns in der einen Welt, in der wir leben, jene Länder durchaus etwas an. Zum anderen fehlt es auch in den fortgeschrittenen Gesellschaften nicht an Anlässen und Möglichkeiten, aus ihnen bessere, weniger ungerechte Gesellschaften werden zu lassen. «

 Amartya Sen, The Idea of Justice, Cambridge, Mass.: Harvard University Press 2009, 496 Seiten, 11,95 Euro


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