Wie Europa aus dem Geist der Region erfunden wurde
Die Bedeutung dieser jüngsten Institution der EU ist allerdings bisher gering geblieben: Sie stellt ein beratendes Organ dar, von dem Kommission und Rat bei Entscheidungen zu regionalen und kommunalen Sachverhalten lediglich Stellungnahmen ersuchen müssen. Auch in den jüngsten Debatten um Vertiefung und Erweiterung spielte die Region nicht die entscheidende Rolle - nicht an der Subsidiarität, sondern an der Souveränität der Nationalstaaten entzündeten sich zuletzt die zentralen Auseinandersetzungen zur Zukunft des politisch verfassten Europas. Die Karawane ist also offensichtlich weiter gezogen.
Vielleicht bedurfte es dieses zeitlichen Abstands, um das Modell des "Europa der Regionen" einmal historisch zu beleuchten und nach seinen konzeptionellen Ursprüngen zu fragen. Diesem Problem ist nun Undine Ruge nachgegangen, und sie hat die erste fundierte, ideengeschichtlich angelegte Studie zum "Europa der Regionen" verfasst.
Den Begriff erstmals verwandt haben danach keineswegs süddeutsche Landespolitiker - obwohl besonders von dort die Forderung nach einem "Europa der Regionen" in die europäische Öffentlichkeit drang. Vielmehr wurde er 1962 von dem Philosophen und Essayisten Denis de Rougemont geprägt und in zahlreichen Texten zu einem eigenständigen Konzept entwickelt. Rougemont ging davon aus, dass das Zeitalter der Nationalstaaten zu Ende gehen müsse und plädierte vor diesem Hintergrund für ein föderales Europa, in dem die Regionen langsam zu den Basiseinheiten werden sollten. Dieses "Europa der Regionen", das Rougemont seit den siebziger Jahren außerdem mit ökologischen und pazifistischen Ideen anreicherte, sollte bürgernäher sein und vor allem mehr politische Partizipation ermöglichen als die westeuropäischen Nationalstaaten und das Europa der EG.
Der Dritte Weg von rechts
Was sich politisch somit eher "links" anhört, muss - wie Undine Ruge verdeutlicht - allerdings "rechts" einsortiert werden. In einer soliden ideengeschichtlichen Analyse kann sie zeigen, dass Rougemont an Debatten der dreißiger Jahre anknüpfte. Im Frankreich der Zwischenkriegszeit hatten die "Nonkonformisten", zu denen auch Rougemont selbst gehörte, das Prinzip des Föderalismus auf alle nur denkbaren Lebensbereiche angewandt und damit die Denkschule des "Integralföderalismus" begründet. Ihr politisches Programm fußte auf der Philosophie des Personalismus, der sich als grundsätzlicher Gegenvorschlag zu den großen Systemalternativen des 20. Jahrhunderts, dem Liberalismus, dem Kommunismus und dem Faschismus, verstand.
Die Nonkonformisten wollten die Gesellschaft nach dem Subsidiaritätsprinzip ordnen. Die politische Macht war demnach bei der "wahren Heimat", der Region, anzusiedeln. Von ihr ausgehend sollte ein föderalistisches Europa entstehen. Damit einher ging eine radikale Kritik am Konzept der Nation: Allein als Kulturnation ließen die Nonkonformisten diese noch gelten. Ihr radikaler Antietatismus unterschied sie von der traditionellen Rechten, mit der sie jedoch die Kritik am Liberalismus, Parlamentarismus und der angeblich "vermassten" Demokratie teilten. Da viele Nonkonformisten zudem mit "Blut" und "Boden" argumentierten, um die Bindung des Menschen an die Region zu erklären, handelt es sich insgesamt um eine rechtsrevolutionäre Strömung, die man am ehesten mit der "Konservativen Revolution" in Deutschland vergleichen kann. Mit dieser teilten die Nonkonformisten auch eine gewisse Affinität zum Faschismus, woraus sich erklärt, dass einige ihrer führenden Köpfe nach 1940 hohe Posten im Vichy-Regime einnahmen.
Vom Dritten Weg zur Dritten Ebene
Aus diesem ideengeschichtlichen Reservoir schöpften nach 1945 die französischen Regionalisten ebenso wie jene, die für eine Stärkung der Region in Europa plädierten. Wie Undine Ruge betont, bezogen sie sich somit auf ein ursprünglich konservatives, antiliberales und antinationalstaatliches Modell. Die Kontinuitäten zeigt sie anhand einer ausführlichen Analyse der Schriften von Rougemont sowie von Guy Héraud, der eine ethnoregionalistische Variante zu Rougemonts personalistischem Konzept entwickelte. Allerdings weist Undine Ruge auch darauf hin, dass sich das Konzept des "Europas der Regionen" in den folgenden Jahrzehnten deutlich wandelte. Vor allem veränderte sich die Sicht auf die Nation: Entgegen dem, was Undine Ruge die "originären Konzepte eines , Europa der Regionen′ aus den 1960er/1970er Jahren" nennt, schliff sich in den Debatten langsam die Fundamen-talkritik am Nationalstaat ab. Fortan ging es darum, die Region als eine dritte, substaatliche Ebene neben der Nation und Europa politisch zu etablieren. Erst so wurde das Konzept für die europapolitischen Debatten kompatibel und gesellschaftlich konsensfähig.
Ideengeschichtlich ist Undine Ruges Arbeit sehr verdienstvoll: Ausführlich rekonstruiert sie das Ideengut der französischen Nonkonformisten. Dieses ist allgemein in der deutschen Frankreichforschung der letzten Jahre auf vermehrtes Interesse gestoßen, wobei besonders die spannenden Verbindungen zu den Debatten der Konservativen Revolution in Deutschland in den Blick geraten sind. Undine Ruge untersucht mit dem Regions- und Europaverständnis nun wichtige Elemente im nonkonformistischen Denken, die bisher zu wenig Aufmerksamkeit gefunden haben. Überzeugend - wenngleich ein wenig langatmig - ist auch der personenzentrierte, historische Längsschnitt, den sie vorlegt: Durch die Konzentration auf einige wenige Denker kann sie die Konstanten und Veränderungen in deren Denken von der Zwischenkriegszeit bis in die 1980er Jahre zeigen.
Erstling oder Ursprung?
Zur Geschichte des politischen Konzepts des "Europa der Regionen" vermag Undine Ruge freilich nicht sehr viel beizutragen. Sonst hätte sie sich nicht auf die Publikationen dieser Intellektuellen konzentrieren dürfen, sondern auch die politischen Debatten in Brüssel und anderswo zur Institutionalisierung dieses Modells untersuchen müssen, was zumindest für die achtziger und neunziger Jahre aufgrund der 30-jährigen Sperrfrist der Archive noch eine ganze Weile nicht möglich sein wird. Wie einflussreich das integralföderalistische, nonkonformistische Denken aus Frankreich für die politische Integration war, muss deswegen offen bleiben. Denn aus der Tatsache, dass in europapolitischen Runden gelegentlich auch einer dieser Intellektuellen gehört wurde, lässt sich deren Einfluss nicht ermessen.
Undine Ruge überschätzt die Bedeutung der von ihr untersuchten Denker. Auch ihr Verständnis von Ideengeschichte, wonach es klar benennbare "Ausgangsideen" gibt, mit denen alle später entwickelten Konzepte verbunden sind, ist eigentlich schon seit der Begriffsgeschichte Reinhart Kosellecks überholt. Konkret heißt das: Selbst wenn das erste Konzept eines "Europa der Regionen" konservativ und antiliberal geprägt war, ist es keineswegs notwendigerweise der Ursprung aller folgenden Konzepte unter dieser Überschrift.
Das dröhnende Schweigen der Intellektuellen
Für eine Untersuchung der politischen Etablierung des "Europa der Regionen" hätten vielmehr zahlreiche weitere Faktoren stärker berücksichtigt werden müssen, etwa die ideengeschichtlichen Stränge aus anderen Mitgliedsstaaten der EU, die Rezeption des Subsidiaritätsprinzips als Teil der christlichen Soziallehre oder die Artikulation ökonomischer Interessen. Diese Probleme streift die Studie nur am Rande.
Insgesamt kann man Undine Ruges Arbeit vor allem all jenen empfehlen, die wissen wollen, wie wenig Intellektuelle im 20. Jahrhundert zum politischen Prozess der europäischen Integration beigetragen haben. Wer ihr dröhnendes Schweigen zu Vertiefung und Erweiterung der Europäischen Union vernommen hat, zuletzt etwa anlässlich des Scheiterns des Brüsseler Gipfels, kann sich fragen, ob sich daran bis heute viel geändert hat.
Undine Ruge, Die Erfindung des "Europa der Regionen". Kritische Ideengeschichte eines konservativen Konzepts, Frankfurt am Main / New York: Campus 2003, 388 Seiten, 43 Euro