Wirtschaftskonservatismus
Die Konjunktur von Krisenanalysen und Schuldzuweisungen, die in der „Vorfahrt für Arbeit“-Rede des Bundespräsidenten und der überraschenden Kapitalismuskritik des SPD-Vorsitzenden Franz Müntefering gleich zwei Höhepunkte erlebte, täuscht gleichwohl über den vorgeblich analysierten Sachverhalt hinweg: die Ursachen der deutschen Wirtschaftsmisere. Die vielstimmig vorgetragenen Klagen suggerieren vollständige Informiertheit, aber ignorieren das womöglich größte Hindernis auf dem Weg zu einem dynamischen Wirtschaftsprozess, in dem sich die heute Erwerbslosen wieder reale Chancen ausrechnen können.
Eine dynamische Wirtschaft, die ihre Antriebskräfte aus sich selbst heraus erzeugt und die von der Gesellschaft auferlegten Regeln und Pflichten nicht als Hemmnis, sondern als Entwicklungsbedingung wahrnimmt, entsteht nicht in erster Linie durch „Umbesinnung“ oder „Charakterwandel“ der existierenden Akteure, sondern durch den Eintritt neuer „Spieler“, sprich: Unternehmer und Investoren in- und ausländischer Provenienz. Um ihr den Weg zu bahnen, bedarf es einer unvoreingenommenen und für neue Einsichten offenen Betrachtung des Wirtschaftsgeschehens. Vor allem darf das, was man anstrebt, nicht einfach als Wiederbelebung der existierenden Wirtschaftslandschaft verstanden werden. Denn das Status-quo-bezogene Wirtschaftsverständnis missversteht Wirtschaft als die Reproduktion überlieferter Verhältnisse – in Gestalt der bekannten Akteure, der bestehenden Unternehmen, der tradierten Berufe und der existierenden Wirtschaftsstruktur. Alles das steht aber zur Disposition, wenn das Wirtschaftsgeschehen als ein kontinuierlicher Prozess von Unternehmensgründungen, Wandel von Produktions- und Arbeitsstrukturen sowie tausendfacher Innovationskonkurrenz erkannt wird, den stets nur ein Teil der Teilnehmer gewinnen kann, die womöglich eines Tages wiederum von anderen und insbesondere neu hinzugekommenen Teilnehmern überflügelt werden. Zum Aufstieg von Unternehmen, Wirtschafts- und Berufsstrukturen im internationalen Wettbewerb gehört der im Einzelfall keineswegs zwingende, aber per Saldo unvermeidliche Abstieg anderer Akteure und Strukturen.
Die als Hartz IV titulierte Sozialreform kann als Prüfstein für das vorherrschende Wirtschaftsverständnis gelten. Hartz IV bricht mit einem zentralen Sicherheitsversprechen des Wohlfahrtsstaats. Statt den sozialen Status der abhängig Erwerbstätigen weiterhin gegen die Unwägbarkeiten von Wirtschaftskonjunktur und Arbeitsnachfrage abzuschirmen, beschränkt sich die sozialstaatliche Sicherheit nurmehr auf eine bedarfsgeprüfte Grundsicherung. Gleichzeitig ist jeder Empfänger des bescheidenen Arbeitslosengeldes II verpflichtet, seine Arbeitskraft der Gesellschaft zur Verfügung zu stellen. Nie zuvor ist der deutsche Sozialstaat dem Prinzip „Wer nicht arbeitet, soll nicht essen“ so nahe gekommen.
Ist deshalb die Radikalreform des Sozialstaats von ungerechtfertigter Härte? Die Antwort fällt nicht leicht, es sei denn, wir fragen Radio Eriwan. Nein, Hartz IV kann nicht falsch sein, verfolgt die Reform doch das löbliche Ziel, alle erwerbslosen, aber arbeitsfähigen Erwachsenen anzuhalten, sich um eine eigene Einkommensquelle zu bemühen. Ja, Hartz IV erscheint so lange als Fehlgriff übermütiger Reformer, wie eine wichtige Erfolgsbedingung des ALG II-Mechanismus unerfüllt bleibt: nämlich dass es den Betroffenen nicht nur zumutbar, sondern auch möglich ist, durch eigene Arbeit der Einkommensarmut zu entgehen. Hartz IV rückt zwar die Erwerbsarbeit – in den beiden Varianten als abhängige und als selbständige – unmissverständlich in den Mittelpunkt jeglichen Umgangs mit Arbeitslosigkeit. Aber welche Antwort erhalten die Arbeitswilligen auf die Frage, wer das nunmehr deutlich ausgeweitete und auf mittlere Sicht verbilligte Arbeitsangebot „einzukaufen“ bereit ist?
Vertreter der Wirtschaft und der Opposition hatten diese Frage kommen sehen und empfahlen die ergänzende Lockerung des Arbeits- und Tarifrechts. Das wurde von der Regierung ebenso hartnäckig abgelehnt. Tatsächlich spricht einiges gegen die Annahme, dass eine Arbeitsrechtsreform im nennenswerten Umfang Jobs kreiert. Ein weiter reduzierter Kündigungsschutz verschafft den Unternehmen nicht nur eine risikoärmere Wachstumschance, sondern auch die Möglichkeit, Personalkosten einzusparen. Auch scheint die Kündigungspraxis hierzulande nicht mehr so viel strenger reglementiert zu sein als anderenorts. Ebenso wenig ist von einer Senkung der Lohnnebenkosten um zwei, drei oder vier Prozentpunkte ein Durchbruch an der Beschäftigungsfront zu erwarten, nachdem die Lohnstückkosten in Deutschland (laut Economist vom 19.2.2005) schon seit mehreren Jahren langsamer gestiegen sind als in anderen EU-Ländern. Und was das Plädoyer zugunsten betrieblicher Lohnpolitik angeht, belegen Arbeiten aus dem Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, dass die Vorherrschaft verbindlicher Flächentarifverträge längst vorbei ist.
Kündigungsschutz, Lohnkosten und überbetriebliche Tarifpolitik sind zwar wichtige Einflussfaktoren der Arbeitsnachfrage, aber keineswegs die einzigen Ursachen der nun schon drei Jahrzehnte andauernden Massenarbeitslosigkeit. Was das komplette Verursachungsmuster angeht, muss man vielmehr einige Aspekte des einst als „Modell Deutschland“ gepriesenen Institutionensystems in den Blick nehmen und das darin begründete Wirtschaftsverständnis beleuchten, das auf die gängigen Problemdiagnosen und Handlungsrezepte abfärbt.
Über die Besonderheiten des „Modell Deutschland“, die Faktoren seines unbezweifelten Erfolgs (bis zu den Ölpreiskrisen der siebziger Jahre), aber auch seines Niederganges in der zusammenwachsenden Weltwirtschaft mit ihrer Vielzahl von neuen Produktionsstandorten, IT-basierten Kooperationsformen und beschleunigten Innovationszyklen, ist schon viel Wissenswertes gesagt worden. Zwei Jahrzehnte politik- und wirtschaftswissenschaftlicher Forschung über die „varieties of capitalism“ haben sowohl die nationalwirtschaftlichen Besonderheiten als auch eine tendenzielle Konvergenz der Problem- und Erfolgsfaktoren ans Licht gebracht. Man bemerkte auch, dass sich das Verhältnis von Stabilität und Wandel deutlich zu Gunsten des Wandels verschiebt. Die Besonderheiten der nationalen Wirtschafts- und Sozialordnungen scheinen nur in so weit zu überdauern, wie sie dem stetigen Wandel von Technologie, Organisation und Produktionsprogramm nicht im Wege stehen, sondern ihn in Gang zu halten erlauben.
Die früheren Stärken des deutschen Modells werden zur Hypothek
Auch wenn hier nicht der Ort ist, alle Besonderheiten des „Modell Deutschland“ im Detail zu erörtern, gilt es doch, das Missverständnis zu korrigieren, es handele sich um ein konsistentes Geflecht von Institutionen und Spielregeln, das als Ergebnis wohl abgewogener Entscheidungen zu Stande kam. Zutreffender ist seine Charakterisierung als ein im Ganzen ungeplantes Produkt von inkrementalistischen Entscheidungen (so die Politikwissenschaftler Herbert Kitschelt und Wolfgang Streeck). Einige der maßgeblichen Entscheidungsprämissen entstammen der Zeit der Frühindustrialisierung sowie den Sozialkonflikten des Kaiserreichs und der Weimarer Republik; andere gehen auf politische Präferenzen der alliierten Sieger zurück. So ist das Regelwerk der deutschen Wirtschaft eine eigentümliche Mischung aus zwei widerstreitenden Ordnungsvorstellungen, einerseits dem marktwirtschaftlich orientierten (Ordo-)Liberalismus, andererseits dem Modell einer staatlich kontrollierten Wirtschaft als „managed capitalism“.
Nachdem sich diese „two faces of the German model“ (Kenneth Dyson) eine Weile lang vorteilhaft ergänzten und in hohen Produktivitäts- und Wachstumsraten bewährten, wurde der „managed capitalism“ allmählich zu einer Hypothek. Er inspirierte Politiker zu umfangreichen Engagements in wettbewerbsgefährdeten Branchen mit der Folge, dass sich die Untergangsphasen unrentabler Wirtschaftssektoren und Großunternehmen über Jahrzehnte ausdehnen. Dagegen sind die viel gelobten Exporterfolge der deutschen Industrie nur zum geringsten Teil dieser defensiven Spielart von Wirtschaftspolitik zugute zu halten. Sie werden vor allem den am Marktwettbewerb orientierten Institutionen (wie der unabhängigen Zentralbank, dem Wettbewerbsrecht und dem Freihandel) zugeschrieben.
Ein anderes Merkmal des „Modell Deutschland“ ist die Stabilität der Institutionenordnung, die unter anderem auf der von den Alliierten gewollten Machtteilung zwischen den Gebietskörperschaften beruht. Dass sie alle politischen und wirtschaftlichen Konjunkturen überdauerte, hatte zunächst ebenfalls recht positive Wirkungen, bot sie der wachsenden Wirtschaft doch einen verlässlichen Rahmen. Unter den veränderten Bedingungen der Gegenwart bedingt die institutionelle Stabilität jedoch die spezifische „Lernschwäche“ des Systems, wie sie kürzlich auch im Scheitern der Föderalismuskommission deutlich sichtbar wurde.
Unter dem stolz getragenen Mantel der institutionellen Stabilität entwickelte sich der implizite Konservatismus des verbreiteten Wirtschaftsverständnisses. Weil dieses aber eng mit positiven Erfahrungen verbunden ist, in allen politischen Lagern geteilt wird und lange Zeit jeglicher Kritik entzogen blieb, lässt es sich erst heute, das heißt unter Krisenbedingungen und im vergleichenden Blick auf nicht betroffene Länder, als Missverständnis und Handikap identifizieren. Auf eine einfache Formel gebracht lautet es: „Wirtschaft ist das, was war und ist.“ Diese scheinbar harmlose Feststellung hat eine gravierende Konsequenz. Sie schließt nicht nur die Betrachtung all dessen aus, was (womöglich ohne tiefere Wurzeln in der Vergangenheit) im Werden begriffen ist, sondern rechtfertigt scheinbar alle Bestrebungen, dem Bestehenden Bestandsschutz zu gewähren. Was war und was ist, soll sich – in der Regel mit staatlicher Unterstützung – gegen die Möglichkeit seiner Verdrängung, ja selbst Ergänzung durch Neues behaupten. Innovation ist nur dann willkommen, wenn sie aus dem Handeln der existierenden Akteure erwächst, mit eingespielten Faktorkombinationen verträglich und innerhalb bestehender Verfahren des Interessenschutzes reproduzierbar ist. Alles andere und besonders jede „kreative Zerstörung“ im schumpeterschen Sinne scheint von Übel – obwohl es, wie wir heute wissen sollten, die Essenz des globalen Wirtschaftsgeschehens der Gegenwart ist.
Das statische Wirtschaftsverständnis betrifft alle politischen Lager
Es mag auf den ersten Blick befremden, wenn hier das statische Wirtschaftsverständnis allen politischen Lagern attestiert wird. In der Tat trifft man es auf der politischen Bühne in zwei Varianten an. Die sozialdemokratische Variante des Wirtschaftskonservatismus, die mitunter in dem von der Regierung praktizierten Verhältnis von Staat und Wirtschaft aufscheint, orientiert sich an teils manifesten, teils patrimonial unterstellten Interessen der Arbeitnehmer. Sie äußert sich im Stolz über industrielle Exporterfolge wie in tiefer Skepsis gegenüber Standortdiversifizierung, Lohndifferenzierung, „Rationalisierung“ und „feindlichen“ Übernahmen. Der Bestandslogik würde man am liebsten durch ein flächendeckendes „Rationalisierungsschutzabkommen“ Rechnung tragen, das die Produktions-, Arbeits- und Berufsstrukturen des 20. Jahrhunderts für die nächsten 100 Jahre festschreibt. Denn ein zentrales Element des kritisch-defensiven Wirtschaftsbegriffs ist das Verlangen nach Kodifizierung und Absicherung von Statuspositionen, wie es sich im Katalog der „anerkannten“ Berufe und Ausbildungsgänge manifestiert. Allerdings sind viele der rund 350 Ausbildungsberufe in funktionaler Hinsicht als überspezifiziert und hinsichtlich der vermittelten Qualifikationen als überaltert anzusehen. In einer dynamischeren Wirtschaft würden sie ihre Funktion als wettbewerbshinderlicher Innovations- und Interessenschutz rasch verlieren.
Als gravierend für die Struktur der Wirtschaft und der öffentlichen Haushalte erwies sich das gemeinsame Interesse von Belegschaften, Gewerkschaften und Anteilseignern an Veränderungsschutz und Erhaltungssubventionen. Unter dem als „sozial“ etikettierten Deckmantel des Protektionismus wurde die Gesamtheit der Bürger mit enormen Summen an Bestandshilfen für wettbewerbsbedrohte Unternehmen und ganze Wirtschaftszweige belastet. Während der Vorteil nur schmalen Teilgruppen zugute kam, schmälerten die Bestandshilfen das Chancenpotenzial für eine rasche Anpassung an zukunftsträchtige Entwicklungen. Gleichzeitig bestimmten staatliche Planungsambitionen die Richtung der Technologie- und Wissenschaftsförderung. Auf der Liste der kostspieligsten Programme stehen sowohl die unter Adenauer begonnene Förderung der Kernenergie als auch die von SPD-Regierungen über jedes Maß hochgerüsteten Stahlwerkskapazitäten Nordrhein-Westfalens. Besonders Sozialdemokraten bescheinigen ihren Parteitagsdelegierten und Ministerialbürokraten gern eine überlegene Begabung, künftige Wirtschaftsstrukturen zu erahnen und ihnen beschäftigungsförderliche Pfade zu bahnen. Man ist bestrebt, frühzeitig die „Beschäftigungsfelder“ der Zukunft zu entdecken, um sie sodann (warum eigentlich?) mit gezielten Fördermitteln zu pflastern.
Dass sich die Praxis CDU-geführter Regierungen nicht grundsätzlich anders ausnimmt, ist bekannt. Doch zeigt die im Mitte-Rechts-Spektrum gepflegte Variante des Wirtschaftskonservatismus interessante Eigenheiten. Indem man sich gern als Anwalt beider Seiten, also der Unternehmer und der Arbeitnehmerschaft geriert, fühlt man sich noch stärker als die Sozialdemokratie den manifesten Gegenwartsinteressen verpflichtet. Auch begründet das Wissen um die Relevanz mikroökonomischer Entscheidungen eine „Politik der offenen Ohren“ für Unternehmerklagen und Mittelstandssorgen. Dabei bleibt regelmäßig außer Acht, dass viele selbstinteressierte „Wünsche der Wirtschaft“ einen wettbewerbsfeindlichen Grundzug aufweisen.
Denn es sind regelmäßig nicht die wettbewerbsstarken, sondern die vom Wettbewerb bedrohten Sektoren und Unternehmen, die um staatlichen Schutz und wirtschaftsfreundliche Regulationen buhlen. Dadurch entsteht in der Kommunikation von Wirtschaft und Politik leicht ein verzerrtes Abbild der Wirklichkeit. Allerdings würden die Berater und Interessenvertreter der Unternehmen ihren Auftrag glatt verfehlen, wenn sie der Politik die tatsächliche Differenziertheit der je aktuellen Wirtschaftsinteressen vermittelten und dabei der Sichtweise erfolgreicher und „politisch anspruchsloser“ Unternehmen genauso viel Raum gäben wie den partikularistischen Forderungen der unter Anpassungs- und Innovationsschwäche leidenden Betriebe. Folglich ist mit der Wirtschaftssoziologin Ulrike Berger ein hohes Maß an „Selektivität der öffentlichen Repräsentation“ von Unternehmensinteressen festzustellen.
Saving capitalism from the capitalists
Wenn die Wirtschaftspolitik von Konservativen und Liberalen gelegentlich eine etwas höhere Erfolgschance aufweist, so verdankt sich das nicht unbedingt einem per se realitätstüchtigeren Wirtschaftsverständnis als einer geringeren Neigung, sich auf die Risiken etatistischer Wirtschaftsplanung einzulassen. Zudem mag man es als unhöflich gegenüber den existierenden Unternehmern und Selbständigen ansehen, wenn immer wieder eine Teilgruppe der Unternehmerschaft gegen die anderen ausgespielt wird. Indes stellt Klientelismus im Verhältnis von „konservativer“ Wirtschaftspolitik und realer Wirtschaft keine Rarität dar. Mitte-Rechts scheint ebenso weit wie Mitte-Links von der Erkenntnis entfernt, dass es bevorzugte Aufgabe staatlicher Wirtschaftspolitik zu sein hat, die Wirtschaftsordnung vor den wettbewerbsfeindlichen Aktionen ihrer Akteure zu schützen: „saving capitalism from capitalists“, wie es in einem Bonmot aus dem Umkreis der Weltbank heißt (vgl. Raghuram Rajan und Luigi Zingales).
Die Status-quo-Bezogenheit des herrschenden Wirtschaftsverständnisses hat also eine solide Basis in den sozialen Beziehungen, welche die ökonomischen und politischen Akteure zueinander unterhalten. Beider Weltbild speist sich aus dem Erleben „befreundeter“ Interessenten unter weitgehender Ausklammerung dessen, was bei größerer Offenheit für emergenten Wandel und Innovationsdynamiken möglich wäre. Im Resultat ergibt sich ein Übermaß an Interessenschutz zugunsten der bestehenden Strukturen, das sich in Gestalt von Marktzutrittsbarrieren, Wettbewerbsbeschränkungen, Steuererleichterungen, Subventionsansprüchen und Identität stiftenden Berufsbildern äußert. Ignoriert bleiben dagegen die Charakteristika des eigendynamischen Prozesses, der aus der wechselhaften Karriere (im Klartext: des Aufkommens und Verschwindens) vieler unterschiedlicher Elemente resultiert. In diesem Zusammenhang ist interessant zu wissen, dass durch Wettbewerbsbeschränkungen geschützte Besitztitel der systematischen soziologischen Theorie als letzte Ursache sozialer Ungleichheit gelten. Sie ermöglichen einem begrenzten Kreis von Nutznießern die Erzielung leistungsloser (Zusatz-) Einkommen als ökonomische Renten (so Johannes Berger).
Warum wir Bestehendes gegen neue Möglichkeiten abschotten wollen
Damit ist noch nicht erklärt, warum es in Deutschland so lange üblich war (und noch immer üblich ist), die Eigendynamik einer kompetitiven Wirtschaft mit Skepsis zu betrachten und das Bestehende gegen den Horizont neuer Möglichkeiten abzuschotten. Hier wäre ein ganzes Bündel von Ursachenfaktoren zu erwähnen. Zu den historischen Traditionslinien zählen vor allem die (auch in Hegels Staatsphilosophie angelegte) Überschätzung der Rationalität staatlichen Handelns, eine seit der Frühindustrialisierung kultivierte Aversion gegen das angelsächsische Wettbewerbsverständnis („Manchesterkapitalismus“), eine dauerhafte Präferenz für ständisch-korporatistische (das heißt letztlich undemokratische und wettbewerbsfeindliche) Ordnungen sowie das im Nationalsozialismus exzessiv propagierte Volksgemeinschaftsdenken mit seinen Beimischungen von Nationalchauvinismus und Modernisierungsskepsis. Der Wirtschaftshistoriker Albrecht Ritschl hat nachgewiesen, dass viele der als selbstverständlich geltenden Wirtschaftsnormen – vom Ladenschluss und Gewerberecht bis zur Handwerksordnung – ihre Wurzeln im nationalsozialistischen Steuerungsetatismus haben.
Das Status-quo-bezogene Missverständnis findet sich jedoch nicht in allen Erfahrungsräumen der Gesellschaft. Ein großer Teil der Unternehmer und Selbständigen sowie viele Erwerbstätige in technologisch avancierten Sektoren der Wirtschaft scheinen dagegen weitgehend immun. In Bereichen, die internationalem Wettbewerb ausgesetzt und darum von stetigem Wandel geprägt sind, zählen die kreativen Aspekte der Unternehmerfunktion zum Allgemeinwissen. Anders liegen die Dinge in Politik und Wissenschaft. Politische Repräsentation, die ja nicht ohne soziale Beziehung zu den Repräsentierten zu organisieren ist, und seriöse wissenschaftliche Forschung, die sich an beobachtbaren Tatsachen festzumachen pflegt, sind dem Risiko der überzogenen Orientierung am Status quo wesentlich stärker ausgesetzt.
Um noch einmal auf die Erfolgsvoraussetzungen der jüngsten Sozialreform zurückzukommen: Es ergibt einen entscheidenden Unterschied, ob das durch Hartz IV gesteigerte Arbeitsangebot auf Bedingungen stößt, die es risikobereiten und organisationstüchtigen Personen erlauben, ihre noch unerprobten Unternehmensideen versuchsweise zu realisieren, oder ob die neuen Arbeitskraftanbieter weiterhin mit einer Wirtschaftsstruktur konfrontiert sind, die sich durch wenige und hürdenreiche Zugangskanäle auszeichnet. Soweit das erhöhte Arbeitsangebot im zuletzt genannten Fall nicht in den bestenfalls wertschöpfungsneutralen Beschäftigungsverhältnissen („Ein-Euro-Jobs“) versickert, wird es im Niedriglohnsegment des Arbeitsmarktes gefangen bleiben, ohne zur wirtschaftlichen Dynamik beizutragen. Bliebe noch zu fragen, ob es nicht eine mit defensivem Etatismus vereinbare Alternative zum Evolutionsmodell wirtschaftlicher Aktivität gibt. Das könnte vielleicht – „nichts ist unmöglich“ – eine nach dem Muster von Schul- und Wehrpflicht konzipierte „Unternehmerpflicht“ sein, sagen wir für jeden zehnten Erwachsenen. Warum wohl wirkt das so unpraktikabel?
Offensichtlich haben es die Urheber der Sozialreform versäumt, sich in den als Vorbild erkorenen Ländern auch über die institutionellen Bedingungen der Wirtschaftsdynamik zu informieren. Alternativ hätte auch ein Blick in die Weltbank-Studie „Doing Business in 2004“ genügt, um wichtige Ansatzpunkte für wachstums- und beschäftigungsförderliche Reformen zu finden. So geht beispielsweise die Gründung einer kleinen Kapitalgesellschaft in Deutschland nicht unter sechs Wochen ab, während dasselbe Unterfangen in anderen Ländern weniger als eine Woche braucht. Es spricht einiges dafür, dass dieser Sachverhalt – ebenso wie eine Staffelung der Sozialversicherungsbeiträge, eine Reform der Unternehmensbesteuerung und glaubwürdige Signale einer stufenweisen Vereinfachung von Arbeits- und Gewerberecht – von größerer Bedeutung für die Wirtschaftsdynamik ist als die exzessive Höhe mancher Vorstandsgehälter.
Es kann nicht verwundern, dass die Parteien das Thema Wirtschaftskonservatismus scheuen. Status-quo-Orientierung und Klientelbezug bedingen einander. Die Übernahme eines dynamischen und potenzialorientierten Wirtschaftsverständnisses würde den Abschied von klientelistischer Bestandsschutzpolitik bedeuten und als Benachteiligung manifester Interessen, ja als Umverteilung ökonomischer Chancen zu Lasten von Personen und Betrieben in schwieriger Lage verstanden werden.
Jeder Vorschlag beschwört ein Plädoyer für das Gegenteil herauf
Bedenkt man allerdings den Ernst der Lage, der einerseits durch die Erwerbslosigkeit von etwa 6,5 der rund 45 Millionen Erwerbspersonen (also 14,4 Prozent), andererseits durch die weitgehend erschöpften Möglichkeiten einer staatlichen Belebung des Wirtschaftsprozesses gekennzeichnet ist, verdiente die Idee einer klug gewählten Umverteilungspolitik durchaus Beachtung. Ihr Handicap mag sein, dass sich Umverteilungsmaßnahmen vor allem an den Enden der politischen Wettbewerbsachse großer Beliebtheit erfreuen. Ihr politischer Gebrauchswert scheint regelmäßig dadurch vermindert, dass jeder Vorschlag ein Plädoyer für diametral entgegengesetzte Begünstigungen heraufbeschwört. Welche Variante der Forderungen nach höheren respektive niedrigeren Steuern, Löhnen, öffentlichen Investitionen und so weiter sich auch immer einen Aufmerksamkeitsvorsprung verschaffen mag – nie würde sie das Odium los, ein Teil des Problems statt ein Beitrag zu seiner Lösung zu sein.
Etwas ernster gemeint, weil das autonome Wirtschaftsgeschehen scheinbar akzeptierend, sind die – zum Beispiel von Wolfgang Engler in seinem Buch Bürger, ohne Arbeit – wieder aufgefrischten Vorschläge zur Arbeitsumverteilung per Arbeitszeitverkürzung und zur Einführung eines Bürgergelds als allgemeines Grundeinkommen. Während sich Befürworter der Arbeitsumverteilung an der realitätsfremden Vorstellung einer beliebig teilbaren gesellschaftlichen Arbeitsmenge orientieren, spekulieren die Grundeinkommensbefürworter auf ein deutlich sinkendes Arbeitsangebot, sobald nur jeder und jede mit sicheren Einkünften von, sagen wir, 750 Euro pro Monat rechnen könnte. Beiden „Patentrezepten“ gemeinsam ist, dass sie sich auf die Illustration eines Zielzustandes beschränken, ohne gangbare Wege dorthin anzudeuten. Außerdem sehen sie von den zu gewärtigenden Auswirkungen auf Kostenstrukturen, Investitionsraten und Erwerbsstrategien ab.
Vor diesem Hintergrund gewinnt die Alternative einer radikalen Umverteilung politischer Gunsterweise zum Vorteil von Neugründungen und Risikoinvestitionen besonderen Reiz. Das breitflächige Abräumen von Marktzutrittsbarrieren, Wettbewerbsbeschränkungen und Insiderprivilegien hätte nicht nur den Vorzug, mit den Sparzwängen der öffentlichen Haushalte zu harmonieren, sondern würde direkt an der Wurzel der deutschen Wachstums- und Beschäftigungskrise ansetzen. Es wäre die Ersetzung von Symptomkuren durch eine gezielte Kausaltherapie. Unter den gegebenen Bedingungen – eines in seinen Grundzügen funktionsfähigen Sozialstaats, des bestehenden Umweltrechts und eines lückenlosen Haftungsrechts – würde sein Ertrag auch nicht durch gleichzeitige Auslösung neuer materieller oder finanzieller Übel gemindert.
Eine Revolution in den Systemen von Bildung und sozialer Sicherheit
Allerdings wäre es mit einer gründer- und unternehmensbezogenen Strategie allein nicht getan. Sie bedürfte des Pendants einer Revolution in den Systemen von Bildung und sozialer Sicherung mit dem Ziel, die Individuen zu größerer beruflich-fachlicher und räumlich-sozialer Mobilität zu befähigen. Breite und laufend aktualisierbare Basisqualifikationen, statt einer engen Fachausbildung auf der einen Seite und eine Palette flexibler Arbeitsverhältnisse unter dem Schutzschirm bedarfsgerechter Fluktuations- und Überbrückungshilfen auf der anderen, könnten die Schotten zwischen unterschiedlich attraktiven Teilarbeitsmärkten öffnen und die Zuweisung von Einstiegs-, Aufstiegs- und Qualifizierungschancen stärker an individuelle Motivation und Leistungsbereitschaft koppeln.
Nun ist es wohl absehbar, dass die Volksparteien CDU/CSU und SPD durch handfeste Klientelinteressen noch einige Zeit gehindert bleiben, dieser Alternative anders als mit Ablehnung zu begegnen. So sehr sie auch unter der Verantwortungszuschreibung für die akkumulierte Krisensituation leiden, so wenig sind sie im Stande, sich à la Münchhausen am eigenen Schopf aus dem Morast irrealer Wählererwartungen zu ziehen. Stattdessen erliegen sie immer noch der Versuchung, sich durch uneinlösbare Entlastungsversprechen (siehe Gesundheitsreform, Mindestlohndebatte und Kapitalismuskritik) kurzfristig Luft zu verschaffen, auch wenn dadurch der aufgeschobene Kurswechsel umso radikaler auszufallen droht. Aber mit der Dauer der Krise dürften sich die Chancen für eine Kausaltherapie verbessern. Deren großes Plus ist es dann nicht bloß, ursachenadäquat und verteilungsgerecht (weil die Statusinteressen privilegierter Akteure ignorierend), sondern auch kostengünstig zu sein. Schritte in die aufgezeigte Richtung dürfen deshalb als Test auf das Vernunftpotenzial von Zivilgesellschaft und Staat in Deutschland gewertet werden.
Literatur
Johannes Berger, Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen: Zur Vergangenheit und Gegenwart einer soziologischen Schlüsselfrage, in: Zeitschrift für Soziologie 33 (2004) 5, S. 354-374.
Ulrike Berger, Organisierte Interessen im Gespräch: Die politische Kommunikation der Wirtschaft, Frankfurt am Main und New York 2004.
Kenneth Dyson, The German Model Revisited: From Schmidt to Schröder, in: German Politics 10 (2001) 2, S. 135-154.
Herbert Kitschelt und Wolfgang Streeck, From Stability to Stagnation: Germany at the Beginning of the Twenty-First Century, in: West European Politics 26 (2003) 4, S. 1-34.
Raghuram Rajan und Luigi Zingales, The Road to Prosperity: Saving Capitalism from Capitalists, in: Transition (World Bank) 14 (2003) 7-9, S. 1-3.
Albrecht Ritschl, Der späte Fluch des Dritten Reichs: Pfadabhängigkeiten in der Entstehung der bundesdeutschen Wirtschaftsordnung, in: Perspektiven der Wirtschaftspolitik 2005 (im Erscheinen).