Wissensbasierte Sensibilisierung
Die vielfach diagnostizierte Krise lässt sich mit einem ganzen Bündel von Indikatoren beschreiben. Mitgliederverluste und Repräsentationsdefizite gehen einher mit der unbestritten schwierigen Suche nach Gestaltungsmöglichkeiten unter den veränderten Bedingungen eines beschleunigten Strukturwandels im Kontext der sich internationalisierenden Wirtschaft. Auffallend ist auch, dass das Verhältnis zum ehemals natürlichen Partner auf der parlamentarischen Bühne, der Sozialdemokratie, vor einer historisch beispiellosen Zerreißprobe steht. Zugleich ist das Image der Gewerkschaften an einem historischen Tiefpunkt angelangt. Dies ist für die sie insofern problematisch, als ihre Wahrnehmung als Blockademacht und organisierte Besitzstandswahrer den Nährboden für Diskurse bereitet, die nicht mehr die konkrete Politik der Gewerkschaften kritisieren, sondern gleich zentralen Elementen des Gesamtsystems ihre Legitimität absprechen.
Eine konstruktive Auseinandersetzung über die Rolle der Gewerkschaften in der Bundesrepublik, über Grundfragen der Ausgestaltung des Arbeits- und Sozialrechts und über Reformen im Bereich der Regulierung von Arbeitsverhältnissen ist vor dem Hintergrund reflexartiger Maximalforderungen kaum möglich. Notwendig wäre es, sich auf eine differenzierte Sichtweise einzulassen, die beispielsweise im Flächentarifvertrag weder der Ursprung allen Übels, noch in einer weit reichenden ?Verbetrieblichung" der Tariffindung die Lösung aller Standortprobleme sieht. Ohne die Gewerkschaften von Mitschuld an ihrem schlechten Image freizusprechen, kann doch konstatiert werden, dass die Voraussetzung für konstruktive und problemorientierte Sachlösungen ein hohes Maß an Wissen über die Gewerkschaften, ihre Geschichte und Traditionen, ihre internen Strukturen, ihre alltägliche (bisweilen unerwartet flexible) Politik und schließlich auch ihrer Handlungsrestriktionen ist - letzteres auch, um übersteigerte Erwartungen einzudämmen.
Destruktionspotential haben sie immer noch
Solch eine wissensbasierte Sensibilisierung, die nicht mit wohlwollender Schonung verwechselt werden darf, könnte einen Dialog unterfüttern, der trotz aller Misserfolge in der jüngeren Vergangenheit (wie etwa im Rahmen des "Bündnis für Arbeit") den Ausgangspunkt einer gemeinsamen Reformagenda bilden könnte. Denn eines ist klar: Mögen die Gewerkschaften auch an Einfluss verloren haben, so sind sie doch noch immer in der Lage, einen Reformprozess sowohl positiv zu begleiten (und in ihre nach wie vor beträchtliche Mitgliedschaft hineinzukommunizieren), wie auch erhebliches Destruktionspotenzial zu entfalten. Die Maximal- beziehungsweise Radikalforderungen von Neoliberalen gegenüber den Gewerkschaften aber stärken dort eher konservative (auch als traditionalistisch bezeichnete) Kräfte und würgen die gewerkschaftsinterne Debatte um notwendige Reformen ab. Kompromisse sind in einem solchen Klima nur schwer vorstellbar; aber unter den gegebenen Rahmenbedingungen erscheinen sie umso dringender erforderlich.
In diesem Kontext bietet die Lektüre des von Wolfgang Schroeder und Bernhard Weßels herausgegebenen Handbuchs Studierenden, Dozenten, Journalisten, der interessierten Öffentlichkeit, aber auch Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft insgesamt den ?Stoff", aus dem profundes Wissen über die Komplexität der deutschen Gewerkschaftslandschaft erwachsen kann; Wissen, das den Umgang miteinander erleichtert, Missverständnisse ausräumen hilft und womöglich Nukleus einer Annäherung sein kann. Das Handbuch Die Gewerkschaften in Politik und Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland ist, nach einer kurzen Einführung in die Thematik des Bandes durch die Herausgeber, in fünf thematische Blöcke gegliedert, die sich wiederum aus mehreren (insgesamt 23) sach- und gegenstandsbezogenen Kapiteln zusammensetzen. Die Blöcke im Einzelnen thematisieren erstens die Geschichte und Funktion der Gewerkschaften, zweitens gewerkschaftliche Organisation, drittens Kontexte: Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, viertens gewerkschaftliche Politikfelder und gewerkschaftliches Handeln und schließlich fünftens Gewerkschaften im internationalen Umfeld. Die einzelnen Kapitel folgen demselben Gliederungsschema. Nach einer Gegenstands- und Problemdefinition folgt ein Überblick über den Stand der Forschung und ein abschließendes und zusammenfassendes Fazit. Die einzelnen Kapitel können - auch hier liegt eine der Stärken des Buches - sowohl chronologisch als auch einzeln gelesen werden, zumal jedes Kapitel die relevante Literatur ausweist. Die sehr übersichtliche Gesamtstruktur entspricht also den Erwartungen an ein Handbuch, das schließlich schnelle Zugriffe auf bestimmte Sachverhalte und Fragestellungen erlauben soll.
Kein übertrieben positives Zerrbild
Dennoch ist die Bezeichnung Handbuch partiell irreführend. Die im Band versammelten Autoren sind allesamt ausgewiesene Gewerkschaftsexperten, die nicht nur bereits Bekanntes in neuer Form präsentieren, sondern mehrheitlich darüber hinausgehen, indem sie neue Aspekte thematisieren und so den Stand der Forschung voranbringen. Hinzu kommt, dass Themen Berücksichtigung gefunden haben, die in der Literatur bislang eher randständig behandelt wurden. Exemplarisch kann in diesem Zusammenhang auf die Kapitel "Funktionäre in den Gewerkschaften", "Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände" sowie "Gewerkschaften in der Mediengesellschaft" verwiesen werden.
Die abschließende Bewertung des Handbuchs ist uneingeschränkt positiv. Mag es aufgrund seiner 700 Seiten auf den ersten Blick auch etwas sperrig auf dem Schreibtisch liegen, so ist den Herausgebern und Autoren hier doch eine sehr lesenswerte Darstellung und Analyse der deutschen Gewerkschaftslandschaft gelungen. Und dies unabhängig davon, ob man den Band - je nach vorhandenen Vorkenntnissen - eher als Handbuch, als Einstieg in die Thematik oder als Weiterentwicklung bereits vorhandenen Wissens benutzt. Macht man sich die Mühe, das Handbuch von vorne bis hinten zu lesen, so kann die anfangs skizzierte "wissensbasierte Sensibilisierung" für das Thema Gewerkschaften weit voranschreiten. Und dies, ohne dass sich beim Lesen der Eindruck einstellt, die Herausgeber wollten ein übertrieben negatives Zerrbild durch ein übertrieben positives ersetzen.
Wolfgang Schroeder und Bernhard Weßels (Hrsg.), Die Gewerkschaften in Politik und Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland: Ein Handbuch, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2003, 725 Seiten, 42,90 Euro