Wo nur Wissen hilft
Auf der Ziellinie zur Europawahl argumentierte die Bundeskanzlerin Angela Merkel: „Die Europäische Union ist keine Sozialunion.“ Berechtigte Einwände gegen diese populistische Wahlkampfrhetorik folgten sogleich aus den Reihen der Opposition und des SPD-Koalitionspartners. Und spätestens seit der CSU-Kampagne „Wer betrügt, fliegt“, mit der die Unions-Schwesterpartei zum Jahreswechsel ihrer erprobten Strategie folgte, rechts von sich keine politischen Räume offen zu lassen, schienen die Grenzen zwischen den politischen Lagern in der aktuellen Zuwanderungsdebatte klar markiert: Rechter Populismus dort, verantwortungsbewusste und sich den Problemen stellende Politik hier.
Wie schwierig es ist, dazwischen eine Grenze zu ziehen, verdeutlicht der aktuelle Koalitionsvertrag zwischen den Unionsparteien und der SPD. Auf Seite 76 heißt es dort, „der ungerechtfertigten Inanspruchnahme von Sozialleistungen durch EU-Bürger“ sei entgegenzuwirken, und „Anreize für Migration in die sozialen Sicherungssysteme“ sollten „verringert“ werden. Folglich wurde ein interministerieller Ausschuss zu „Rechtsfragen und Herausforderungen bei der Inanspruchnahme der sozialen Sicherungssysteme durch Angehörige der EU-Mitgliedsstaaten“ einberufen. Von Januar bis August 2014 ermittelten elf Bundesministerien, die Beauftragte für Migration, Flüchtlinge und Integration sowie das Bundespresseamt den Umfang solcher Inanspruchnahme sowie mögliche Gegenmaßnahmen. Obwohl bereits der Zwischenbericht vom März keinen Sozialmissbrauch beziffern konnte, richten sich die Ende August vorgestellten Maßnahmen deklaratorisch dagegen. Entsprechend lautet das Kapitel in dem Abschlussbericht: „Maßnahmen zur Missbrauchsbekämpfung und Überlegungen zu Rechtsänderungen.“ Darunter sind in erster Linie Verwaltungsvorschriften und Durchführungsbestimmungen zusammengefasst, derer es unabhängig von der Zuwanderung bedarf. Wie beispielsweise die Unterbindung einer möglichen Mehrfachzahlung von Kindergeld oder die strengere Prüfung von Schwarzarbeit. Die anvisierten Sanktionen bei Verstoß gegen das Freizügigkeitsgesetz sind mangels Kontrollierbarkeit rein deklaratorisch. Es sind deshalb nicht allein Zweifel an der Verhältnismäßigkeit dieses Vorgehens begründet, sondern die gesamte Diskussion scheint eine Stellvertreterfunktion zu erfüllen. Worum geht es also? Und auf wessen Kosten wird debattiert?
Klar ist zunächst, dass hier eine Gruppe angeblich gesellschaftlich Unwürdiger konstruiert wird, die die Gesellschaft unberechtigt (weil als nicht zugehörig definiert) finanziell in Anspruch nehme. Zur Veranschaulichung werden Bürger Bulgariens und Rumäniens – zwei Länder mit hohem Fremdheitsgrad – an den Pranger gestellt. Darüber hinaus finden sich in der Debatte regelmäßig Hinweise auf Roma als europäische Problemgruppe.
Die Vorurteilsforschung zeigt, dass es in der öffentlichen Diskussion über Minderheiten nur selten in sachlicher Weise um die Minderheit geht, sondern in Wirklichkeit um die Vorstellung, die die Gesellschaft von sich selbst hat. Dafür eignen sich nicht alle Minderheiten gleichermaßen. Sind sich die Diskussionsteilnehmer der breiten gesellschaftlichen Zustimmung nicht sicher und ist mit gleichrangiger Widerrede zu rechnen, fallen die Äußerungen entsprechend verhalten aus. Im jüngsten Reden und Schreiben über Bulgaren, Rumänen oder Sinti und Roma wurden diese Hemmungen beiseite gelassen, da es keine substanzielle Gegenrede gab. Vielmehr war eine breite gesellschaftliche Gleichgültigkeit und auch Ablehnung zu erwarten, wie die nun die jüngst erschienene Studie „Zwischen Gleichgültigkeit und Ablehnung – Bevölkerungseinstellung gegenüber Sinti und Roma“ herausgearbeitet hat.
Europäische Freizügigkeit auf bayerisch
Den Kern der Debatte legte der ehemalige Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich gegenüber der Leipziger Volkszeitung im Mai 2011 offen: „Wir brauchen die, die uns nutzen und nicht die, die uns ausnutzen. Das sollte unser Programmsatz für die Zuwanderungspolitik sein.“ Dieses Zitat steht im Zusammenhang mit der vollen Freizügigkeit für die Länder der ersten EU-Erweiterungsrunde. Wie bereits in den Beitrittsjahren 2004 und 2007 wurde vielfach vor einer unkontrollierten Zuwanderung gewarnt, ohne dass sich eine gesellschaftliche Debatte entwickelte. Auch im Jahr 2013 waren Friedrich und sein Ministerium Stichwortgeber: Sozialtourismus, Freizügigkeits- und Leistungsmissbrauch! Diesmal meldeten sich jedoch Lokalpolitiker, Stadtverwaltungen und soziale Träger mit ihren Interessen zu Wort. Kommunale Probleme waren nun leicht in die Öffentlichkeit sowie auf die bundespolitische- und die europäische Ebene zu heben. Als Mittel zum Zweck wurden soziale Fragen innerhalb der EU mit ethnischen Zuschreibungen verwoben.
Vor dem Hintergrund des hiesigen Fachkräftemangels und des demografischen Wandels wurde dem unstrittigen Nutzen von Zuwanderung sogleich eine Kosten- und Aufwandrechnung gegenübergestellt. Entscheidend war dabei die ungleiche Verteilung von beidem. Denn die bundesdeutsche Integrationspolitik ist davon geprägt, dass die Gewinne privatisiert werden (beispielsweise bei der Gastarbeiteranwerbung), während die Kosten die Allgemeinheit (beispielsweise im Schulsystem) trägt. Anstelle einer aktiven politischen Gestaltung, werden regelmäßig Zuwanderer verunglimpft. Schlankerhand wird versucht, zwischen Willkommenen und Unerwünschten zu unterscheiden. verfügt Die Mehrheit der Zuwanderer verfügt nicht über umfassende Ressourcen, sondern kommt aus weniger privilegierten Schichten. Wohlgemerkt bleiben viele auch trotz guter Ausbildung unterprivilegiert, nachdem sie eingewandert sind. Prekäre Beschäftigungs-, Wohn-, Gesundheits- und familiäre Verhältnisse sind keine Seltenheit. Der Grund ist, dass die negativen Effekte des Kapitalismus unter den Zuwandernden um ein Vielfaches stärker zum Tragen kommen.
Wo Solidarität ein Fremdwort für Sozialdemokraten ist
Dass Vollzeitbeschäftigung nicht vor Armut schützt, lässt sich in unserer Gesellschaft vielfach belegen. Deshalb ist eine Trennung von Arbeits- und Armutsmigration ein Scheinwiderspruch, der es verhindert, sich mit den strukturellen Ursachen auseinanderzusetzen. Es zeigt sich das wohlbekannte Muster, dass Menschen für ihre soziale Lage an den Pranger gestellt werden, während gesellschaftliche Hintergründe ausgespart bleiben. Damit einher geht eine voranschreitende Entsolidarisierung und Abwertung sozial Schwacher. Ihnen wird vorgeworfen, keine Arbeit aufnehmen zu wollen und Eigenverantwortung zu meiden.
Diese pauschalen Vorurteile in der Zuwanderungsdebatte sind keineswegs ein politisch konservatives Einstellungsmerkmal. Die Sozialdemokratische Gemeinschaft für Kommunalpolitik in der Bundesrepublik Deutschland e.V. wendete sich in ihrem Positionspapier zur „Armutszuwanderung“ mit „klaren Botschaften“ an die Zuwanderer. Diese sollten sich auf „eine Willkommenskultur mit klaren Leitplanken“ einstellen. Deutschland sei „ein Land, in dem Bildungswillen und Leistungsbereitschaft erwartet werden“. Warum es dieser Botschaften bedürfe, blieb undurchsichtig. Da sie jedoch nicht auf gesichertem Wissen beruht, gibt es breiten Raum für Spekulationen und Vorverurteilungen. Allzu schnell wird dann auf die ethnische Zugehörigkeit der Zuwanderer verwiesen.
Die Roma sind hier unerwünscht
So wie der ehemalige Innenminister halten sich viele zugute, die Roma nicht explizit zu benennen, wenn sie Probleme beschreiben. Um eine erwünschte Zuwanderung von einer unerwünschten zu unterscheiden, verursacht die Gleichsetzung oder Unterscheidung von Bulgaren, Rumänen, Sinti und Roma keine Schwierigkeiten. Die Zuschreibung „Sinti und Roma“ wird vorgenommen, um die Plausibilität der Aussagen über die Zuwanderer zu stärken. In diesem Vorgehen konnten sich die Akteure sicher wähnen: Nach der erwähnten Studie handelt es sich um eine Minderheit, der mit geringer Sympathie und großer Gleichgültigkeit in der deutschen Bevölkerung begegnet wird. Auch deshalb konnte medial und auch politisch auf drastische Bilder zurückgegriffen werden: Verslumung, Vermüllung, Ghettobildung, Ungezieferbefall, Krankheitsrisiken, Prostitution, kriminelle Schlepper-, Banden- und Clanstrukturen. Schließlich wurde den Zuwanderern gänzlich der Wille zur Integration abgesprochen. Zugeschriebene Eigenschaften und prekäre Lebenssituationen werden kulturell und traditionell interpretiert und als gesellschaftliche Sondersituationen verstanden. Verbunden mit hohen Zuwanderungszahlen entstehen daraus leicht Bedrohungsszenarien.
Die Migration (von Roma) wird als Bedrohung der öffentlichen Ordnung und des sozialen Friedens interpretiert. Zudem wir die Sorge genährt, dass Deutschland durch angemessene Bedingungen für Zuwanderer zu einem Ort unkontrollierbarer Massenmigration wird. Dabei sind die größten Probleme nicht an spezifische, kulturell geprägte Lebensformen gebunden. An der Gruppe der Zuwanderer wird sichtbar, unter welchen Bedingungen unterprivilegierte Migranten in der EU ganz allgemein leben.
Je größer die Wissenslücke, umso fantastischer die Vorurteile
Aufgrund der EU-Mitgliedschaft von Bulgarien und Rumänien und ihrem erwünschten Arbeitskräftepotenzial besteht scheinbar die Notwendigkeit, die gewollte, weil nützliche Migration, von der ungewollten, respektive unnützen zu unterscheiden. Um die Trennung der „würdigen“ von den „unwürdigen“ Armen in eine moderne Form zu bringen, eignen sich die Roma offensichtlich besonders. Dieses Vorgehen allein ist schon gefährlich, da es eine lange Konstante der Zigeunerbilder gibt. Ihr Kennzeichen ist unter anderem, dass mit der Größe der Wissenslücken die Beschreibungen der Minderheit umso drastischer oder auch fantastischer ausfallen.
Es geht dabei in erster Linie nicht um die Minderheit, sondern sie wird herangezogen, um andere Probleme zu verhandeln und auch eigene Versäumnisse zu verdecken. Im Kern ist es eine Debatte, die auf Kosten aller geführt wird, die auf solidarische Gesellschaftsstrukturen angewiesen sind. Und sie ist geprägt von einem Wohlstands- oder Sozialchauvinismus, dessen gesellschaftliche Normvorstellungen nicht unwidersprochen hingenommen werden dürfen.
(Dieser Text ist am 9. September 2014 als Online-Spezial-Beitrag der Berliner Republik erschienen.)