Wodurch entsteht BSE?
Alternative Forschungsergebnisse deuten nicht auf eine Seuche, sondern auf Umweltgifte
BSE - Eine britische Krankheit?
Auf der Insel begann der Rinderwahn, dort forderte er die meisten Opfer, dort wurden die ersten Fälle einer menschlichen Variante von BSE, kurz vCJK, nachgewiesen. Die wissenschaftlichen, medizinischen, wirtschaftlichen und politischen Implikationen sind jedoch europäischer, ja globaler Natur. In Europa hat man in den vergangenen Monaten lebhaften Anschauungsunterricht über die Wirkung von BSE erhalten. Der Rinderwahn wirkt auf die westlichen Gesellschaften wie ein hochinfektiöser Virus. Die Beziehungen zwischen Nationen wurden vergiftet, Rinderkriege brachen aus, Regierungen bezichtigten sich gegenseitig der Verschleierung, Politiker und Medien reagierten mit unverhohlener Schadenfreude auf die Nachricht, daß der Rinderwahn nun auch die Herden in Ländern befallen hat, die bislang gefeit schienen gegen BSE.
Europäische Beschlüsse wurden zur Makulatur, wenn es galt, die eigenen Grenzen gegen die Fleischprodukte der Nachbarn dicht zu machen. Die Politik ist unter enormen Druck geraten. Regierungen und Parlamente werden zu Handlungen getrieben, wie ungewiß, ja oft genug fragwürdig die wissenschaftliche Basis dafür auch sein mag. Die Wähler verlangen schnelle, eindeutige Antworten. Die Medien heizen die Situation zusätzlich an durch ihre immer stärkere Neigung zur Übertreibung zumal bei potenziellen Gefahren für die menschliche Gesundheit.
Tatsächlich ist es bei Rinderwahn und vCJK, der menschlichen Entsprechung von BSE, notwendiger denn je, Vereinfachung und Sensationalisierung zu widerstehen. Ansonsten werden die irrationalen, manches Mal beinah pathologisch wirkenden Züge in unseren Gesellschaften weiter verstärkt. Erforderlich ist eine Debatte, die sich nicht beschränken darf auf jene Vorgaben, die von Großbritanniens lange Zeit "kontaminierter" Wissenschaft geliefert wurden. Vor allem darf man nicht in den Fehler verfallen, dort Klarheit vorzutäuschen, wo keine herrscht.
Das Epizentrum des Rinderwahns liegt nach wie vor eindeutig auf der Insel, das darf man auch jetzt nicht vergessen, da in einer Reihe von kontinentaleuropäischen Ländern erkrankte Kühe entdeckt wurden. Um die Größenordnung des Problems zu verdeutlichen - 99,5 Prozent aller BSE Fälle wurden bislang auf der Insel registriert, dazu noch 95 Prozent aller vCJK Erkrankungen, die immer tödlich enden. Selbst im Jahr 2000 notierte man auf der Insel über 1200 BSE Fälle - 4 Mal soviel wie im Rest der EU zusammen genommen. Zugleich sei auf den Umstand verwiesen, daß in Großbritannien alle über 30 Monate alten Rinder aus der menschlichen Nahrungskette ferngehalten und beseitigt werden - bislang über 1,5 Millionen Kühe, die aber keinem BSE-Test unterzogen werden. Niemand weiß also, wie hoch die Dunkelziffer an BSE Fällen ist.
Der Verweis auf die britische Sonderstellung entspringt nicht der Absicht, die kontinentaleuropäische Situation zu ‚übertrumpfen‘; doch ist es wichtig, die Relation nicht aus dem Auge zu verlieren, wenn es um so entscheidende Fragen geht wie den Ursprung von BSE, die Verbreitungsmechanismen der Krankheit und die - weithin angenommene - kausale Verbindung zu vCJK. In den Gründen für Großbritanniens außergewöhnliche Stellung liegt der Schlüssel zum Verständnis.
Der wissenschaftliche Kenntnisstand - "gewußtes Nichtwissen"
Die klassische Frage bei der Suche nach einem Täter oder Verursacher lautet "Who dunnit?" Was verursacht BSE? Die wissenschaftlichen Institutionen, für die nun auch auf dem Kontinent goldene Zeiten reichlicher staatlicher Forschungsgelder anbrechen, wissen es nicht. Das ist bemerkenswert, weil auf der Insel bereits seit fast 14 Jahren geforscht wird.
Die Wissenschaft würde und am liebsten einen einzelnen Täter präsentieren, einen Virus oder einen Virino, einen Minivirus, oder eine Bakterie. Damit wäre vielen gedient, denn solch eine monokausale Erklärung würde es unnötig machen, ein womöglich komplexes Bündel von Faktoren zu erforschen. Auch könnten Verdächtige aus dem Spiel herausgenommen werden, die viel zu verlieren hätten, würden sie zum Kreis der Täter gezählt oder gar der (BSE)-Tat überführt.
Die Virologen, deren bekanntester Exponent Professor Heino Dieringer aus Berlin ist, hatten trotz aller Anstrengungen keinen Erfolg bei der Suche nach einem Virus. Das heißt allerdings nicht, daß sie aufgeben werden. (Die Verteidigungsmechanismen wissenschaftlicher Positionen, die obsolet geworden sind, wurden von Thomas Kuhn in dem epochalen Werk Structure of scientific revolutions erhellend beschrieben; die Lektüre lohnt sich auch zum besseren Verständnis der wissenschaftlichen Debatte über BSE, die uns mit Gewissheit noch lange erhalten bleiben wird.)
Nach 14 Jahren der BSE-Forschung sind die weißen Flecken auf der Landkarte wissenschaftlicher Erkenntnis erstaunlich groß. Dies deutlich zu machen, ist zumindest ein bleibendes Verdienst der britischen BSE-Untersuchung, die von der Regierung Blair unmittelbar nach Amtsantritt eingesetzt worden war. Deren Report, veröffentlicht Ende Oktober vergangenen Jahres, war ein Meisterwerk britischer Establishment Kultur. Er war relativ ehrlich, spielte jedoch vieles herunter; manch peinliche, weil der herrschenden Lehre widersprechende Erkenntnisse wurden zwar aufgegriffen, aber in den Papierbergen des voluminösen Reports (16 Bände, Gesamtgewicht 25 Kilogramm) versteckt, in der leider gerechtfertigten Erwartung, daß Journalisten und selbst Wissenschaftler dorthin gewiß nicht vordringen würden.
Auch vermied man es, Politiker, Beamte und Wissenschaftler allzu hart zu verdammen. Selbst den ärgsten Abwieglern, Vertuschern oder Verhinderern unter Beamten, Experten und Politikern ließ der Report erstaunliche Milde angedeihen, er unterstellte ihnen stets das bestmögliche Motiv. Nicht offengelegt wurde so das wahre Ausmaß, in dem unabhängige Forschung verhindert wurde; unbequeme Forscher oder Warner wurden kaltgestellt und verunglimpft. Man bewilligte Gelder lange Zeit nur für Forschungsaufträge, die genehme Antworten versprachen.
Einen anderen entscheidenden Aspekt enthüllt der BSE-Report nicht: das Ausmaß der symbiotischen Beziehung zwischen Ministerialbürokratie, offizieller Wissenschaft und den Konzernen des Agrobusiness, eine Verflechtung, die gewiß nicht nur in Großbritannien existiert. Auf der Insel ist die Verflechtung von Wissenschaft und ökonomisch-politischen Interessen im Vergleich zum Kontinent wahrscheinlich noch ausgeprägter; der Trend zur Corporate Science, einer Wissenschaft in direkter oder indirekter Abhängigkeit von Konzernen, ist in Großbritannien weit vorangeschritten. Es ist dies ein Resultat der neokonservativen Revolution der 80er Jahre, in der Forschung weitgehend privatisiert wurde. Viele Universitätsinstitute sind für ihre Forschungsetats auf Gelder "kommerzieller Partner" angewiesen.
Woran immer es liegen mag, ob an der Struktur der Forschung, die bestimmte Fragen erst gar nicht stellte, oder der Komplexität des Problemfeldes der TSEs (Transmissible Spongiforme Enzephalopathien) oder Prionenkrankheiten - Tatsache ist, daß die entscheidenden Aspekte des BSE-Dramas nach wie vor der Klärung harren, auch wenn mediales Dauergetöse und wissenschaftliche wie politische Aussagen oftmals einen anderen Eindruck vermitteln. Man kennt die Ursache für BSE nicht, auch wenn der ständig verwendete Begriff "BSE-Erreger" anderes suggeriert.
Was die Ursache von BSE betrifft, so behelfen sich die offiziellen wissenschaftlichen Instanzen der Insel mit dem Verweis, irgendwann in den 70ern sei irgendwo in Südengland bei einer einzelnen Kuh eine "spontane genetische Mutation" aufgetreten, deren infiziertes Gewebe dann durch Verfütterung zu weiteren lokalen Mini-Epedemien führte, bevor es zur BSE-Explosion Mitte der 80er Jahre kam. Plausibler scheint die Annahme, daß BSE schon immer in einer sporadischen Form, ähnlich der sporadischen vCJK beim Menschen existiert hat, ohne daß man der bislang seltenen Krankheit große Bedeutung beigemessen oder einen Namen gegeben hätte.
Dafür gibt es, nicht nur in Großbritannien, zahllose anekdotische Hinweise von Veterinären und Bauern. In England hießen Kühe, die sich komisch benahmen und herumtorkelten downer cows. Sie wurden notgeschlachtet. In Bayern sprach man angesichts der erratischen Bewegungen vom "Veitstanz" erkrankter Rinder oder nannte Kühe "wespig", während in Mecklenburg die Bezeichnung "verrückte Kühe" gebräuchlich war. Der Chefveterinär des Londoner Agrarministeriums bezeichnete 1913 die Krankheit eines Rindes als "Oxscrapie". All das sind ernst zu nehmende Hinweise darauf, dass Enzephalopathien bei der Kuh schon lange existiert haben. Was sporadische Enzephalopathien auslöst, ist im Detail nicht wissenschaftlich geklärt. Man geht von toxischen Substanzen aus, Strahlung oder Umweltgiften, die das Abwehrsystem eines genetisch entsprechend disponierten Säugetiers eben gelegentlich überwinden. Wenn es zu Ballungen, zu Clustern kommt, muß man schauen, ob zusätzliche toxische Faktoren in die Umwelt gelangt sind - eine Faustregel, die eigentlich immer beachtet werden müßte, immer häufiger jedoch vergessen wird - auch weil die Antwort heikel sein könnte.
Ein Verdächtiger sollte von der Liste verschwinden, das Scrapieschaf. Schon lange ist widerlegt, Scrapie sei vom Schaf durch die Verfütterung von Schafskadavern aufs Rind übergesprungen. Die offiziellen Instanzen in England machten sich allerdings wenig Mühe, ihre europäischen Kollegen über die erdrückende Evidenz dagegen aufzuklären; es erwies sich als nützlich, daß die Scrapiethese weiter durch Medien wie Politikerköpfe geisterte: Die mögliche Gefahr für den Menschen konnte so heruntergespielt werden - schließlich hatte Scrapie beim Schaf dem Menschen niemals geschadet. Doch sei gleich hinzugefügt, daß die Ursache von Scrapie auch nach 200 Jahren Forschung immer noch nicht feststeht.
Tiermehl - Vehikel der Infektion?
Das Fleisch- und Knochenmehl wird generell als das Vehikel gesehen, durch die Infektion verbreitet und übertragen wurde und wird: Gehirngewebe von BSE-Kühen, belastet mit Prionen, einem mutiertem Eiweiß, sei durch den Akt der Kannibalisierung auf andere Rinder übergesprungen und habe sie erkranken lassen. Die Kannibalisierung von Pflanzenfressern hat solch verständliche Abscheu ausgelöst, daß die Ungereimtheiten und Widersprüche der Tiermehlthese selbst von Umweltgruppen ignoriert oder übersehen wurden. Laut offizieller, weithin akzeptierter Auffassung wird BSE durch die tierische Protein-Komponente, das mutierte Eiweiß oder Prion von BSE-Kühen per Tiermehl auf andere Rinder übertragen.
Doch Mitte der 90er stellten sich Zweifel ein. Man mußte immer mehr BAB (‚Born after the Ban‘) Fälle bei Rindern erklären, die nach dem Verbot der Verfütterung von Tiermehl an Wiederkäuer geboren und mit dem Kadavermehl nie in Berührung gekommen waren. Inzwischen liegt die Zahl dieser BAB‘s bei über 50.000. Zunächst bezichtigte man Bauern, sie hätten jahrelang Restbestände des inkriminierten Tiermehls verfüttert. Diese Erklärung, von vielen Wissenschaftlern wiederholt, verriet Unkenntnis der agrarischen Realität. Bauern werden zumeist in 7 Tage oder 14 Tage Rhythmus von den Tiermehlerzeugern beliefert, sie legen keine Vorräte (und binden zugleich Kapital) von einem Produkt an, das nur begrenzt haltbar ist. Später behalfen sich die Regierungsinstanzen mit dem Argument, die steigende Zahl von BAB-Fällen sei durch "Restverschmutzungen" in den Mühlen der Tiermehlfabriken verursacht worden.
Wenn aber kleinste Mengen des Mehls Infektion auszulösen vermögen, warum ist BSE nicht schon seit vielen Jahren ein globales Problem. Nach dem Verfütterungsverbot im Sommer 1988 wurde das Fleischmehl der britischen Produzenten zu Dumpingpreisen auf den Weltmarkt geworfen. Frankreich hätte bereits 1993/94 von einer landesweiten Epidemie mit Tausenden von BSE-Rindern heimgesucht sein müssen, angesichts einer durchschnittlichen Inkubationszeit für BSE von vier bis fünf Jahren. (Gelegentlich sind sogar Kühe im zarten Alter von 22 Monaten an BSE erkrankt.) Immerhin wurden zwischen 1988 und 1990 15.000 Tonnen britischen Tiermehls nach Frankreich exportiert. Das Produkt hätte zugleich in vielen Ländern Europas, in Belgien und Holland, aber auch im Nahen Osten und Südafrika Tausende von Rindern dahinraffen müssen.
In den USA werden seit Jahrzehnten schon die zermahlenen Kadaver von Schafen und Kühen an die Rinderherden verfüttert; auch hatten die amerikanischen Mehl-Produzenten - wie Dokumente des Agrarministeriums in Washington aus den frühen 70er Jahren belegen - bereits zehn Jahre vor den britischen Fabrikanten die Verarbeitungsmethoden verändert, inklusive der Anwendung niedrigerer Temperaturen (continuous flow method), die eine zeitlang für Großbritanniens Sonderrolle in Sachen BSE verantwortlich gemacht wurde. Bereits 1996 kam die EU-Kommission nach einer europaweiten Untersuchung zu dem Schluß, daß keine der Verarbeitungsmethoden in den Tiermehlfabriken die Prionen abtöten würde, jenes mutierte Eiweiß also, daß als hochinfektiös gilt.
Die Tiermehlthese hat bislang nicht jenen essenziellen Futtertest bestanden, der sie von einer legitimen Spekulation in eine begründete Theorie verwandelt hätte. Voraussetzung dafür wäre ein Experiment mit einer großen Versuchsherde gewesen; in zwei Subpopulationen geteilt, hätte man die eine Hälfte mit dem Fleisch und Knochenmehl aus den Säcken der Industrie füttern müssen. Nach Ablauf einer längeren Periode hätte der eine oder andere Fall auftreten müssen.
Der Test ist von britischen Veterinären gemacht worden, auf einer der Versuchsfarmen des Agrarministeriums in Liscombe, Exmoor, in der Grafschaft Somerset. Doch ist nach außen nie etwas über diesen Langzeitversuch verlautet. Warum? Weil dort nach elf Jahren kein BSE-Fall registriert wurde - ein peinlicher Zwischenbescheid, der hinter die offizielle These über die zentrale Rolle des Tiermehls zumindest ein kräftiges Fragezeichen gesetzt hätte. Es stellt der wissenschaftlichen Zunft auf dem Kontinent kein gutes Zeugnis aus, daß sie den britischen Experten nie den Nachweis eines Langzeittests der Tiermehlthese abverlangte. Doch weil sowohl Forscher wie Wissenschaftsjournalisten die Tiermehlthese kritiklos geschluckt haben, gerieten die britischen Experten nie unter
Erklärungsdruck. Zugleich konnte sich eine Vermutung zu einer Gewißheit mausern.
Eine alternative Erklärung für die Sonderstellung Großbritanniens entwickelte bezeichnenderweise ein Außenseiter (schon Max Planck hatte angesichts der verkrusteten Strukturen des Wissenschaftsbetriebes gesagt, Durchbrüche seien in Zukunft wohl nur noch von Laienforschern zu erwarten). Der Biofarmer und Forscher Mark Purdey stellte die Hypothese auf, wonach der Rinderwahn Ergebnis einer chronischen Vergiftung durch Umweltschadstoffe wie Insektizide und Schwermetalle sei. Eine Kombination aus Kupfermangel, zuviel Mangan und einem chemischen Auslöser, einem auf Nervengas basierenden Insektizid - Phosmet, das zur Produktpalette der Organanophosphate gehört - verursache die Mutation des Eiweißes im Gehirn genetisch disponierter Rinder. Nur in Großbritannien war in den 80er Jahren den Bauern gesetzlich vorgeschrieben, die Dasselfliege durch die chemische Giftkeule auszurotten. Dieses Insekt nistet sich im Organismus der Kuh ein; es wird durch eine chemische Attacke auf sein Nervensystem mittels des systemisch wirkenden OP Präparates Phosmet getötet.
Die OP-Theorie wurde vom Agrarministerium zunächst als abwegig zurückgewiesen. Man lehnte es ab, vergleichsweise billige und einfache Tests durchzuführen, die die Hypothese hätten bestätigen oder widerlegen können. Der Regierungswechsel bewirkt nun, mit einer gewissen Verzögerung, einen Sinneswandel. "Chemische Prozesse könnten bei der Mutation von Prionen am Werke sein", erklärte Prof. Fergusson Smith, Genetiker an der Universität von Cambridge und wissenschaftlicher Leiter der britischen BSE-Untersuchung. Er kündigte Testreihen mit Rindern an, die mit Organophosphaten behandelt werden sollen; "wir wollen sehen, ob BSE so schneller ausbricht."
Umweltminister Michael Meacher hatte sich schon 1996, als Schattenminister seiner Partei, für eine Erforschung der OP Hypothese ausgesprochen. Nun, nach dem Exodus der alten Garde von Beamten und Veterinären, ist das Ministerium bereit, Forschung in die OP- und Mangantheorie zu finanzieren.
Die zentrale Rolle des Prion
In Großbritannien werden derzeit unter großen Kosten - über 650 Millionen Mark - Einweg Operationsbestecke für bestimmte Operationen, unter anderem bei Mandeln, vorgeschrieben und die alten Bestecke ausgemustert. Der Grund: Man hält das mutierte Eiweiß, das Prion, für zugleich hochinfektiös und beinah unzerstörbar. Bei der Sterilisation (Temperaturen von 130 Grad) wird das Prion nicht vernichtet. Ergo ist die Sorge, es könne eine Enzephalopathie über die Operationsbestecke bei bestimmten Eingriffen (Gehirn, Augen oder Mandel) auf Patienten übertragen werden.
Die Wissenschaft begründet die These von der hohen Infektiosität des "unzerstörbaren" Prions mit einer Reihe von Experimenten, bei denen es gelang, andere Tiere mit BSE zu infizieren und die Artengrenze zu überschreiten. Diese Laborversuche sind zugleich die Grundlage für die Annahme, vCJK beim Menschen sei durch Verzehr BSE-infizierten Fleisches entstanden.
Doch Vorsicht bleibt auch hier geboten. Die Übertragung der Infektion bei den Versuchstieren gelang nicht auf dem üblichen Weg, also durch Mund, Nase oder Blut, sondern durch sog. Intrazerebrale Injektion. Den Versuchstieren wurde Gewebe aus BSE-Kuhhirnen ins Gehirn gespritzt, ein brutales Verfahren, das oft mit dem sofortigen Tod der Versuchstiere endet. Die intrazerebrale Injektion hat einige Erkenntnisse über die Natur der Prionenerkrankungen erbracht, reicht aber nicht als Beweis für die These von der Infektiosität des Prion. Außerhalb des Labors ist solch eine Übertragung nicht möglich. Aussagekräftiger wären erfolgreiche orale Tests, also Übertragbarkeit per Verfütterung. Doch auch die produzierten keine schlüssigen Ergebnisse. Das Futter, das man Mäusen verabreichte, hat im übrigen sehr wenig gemein mit dem Tiermehl der realen Welt. Man verwendet ein homogenisiertes Konzentrat aus BSE-Hirn, das zusammen mit Flüssigkeit in einen Mixer getan wird. Bei dem Prozeß des Mixens werden Zellwände aufgebrochen, Metalle freigesetzt und chemische Reaktionen ausgelöst. Nach den Worten von Bruno Oesch, Leiter des Prionics Instituts in Zürich, dessen Umsatz dank des dort entwickelten Früherkennungstests für BSE gerade in astronomische Höhen schießt und der nun gewiß keinen Grund hat, Gefahren herunter zu spielen, "ein ganz anderes Zeug" als das Tiermehl.
Zu den Tests selbst: An zwei Mäusegruppen, einmal zehn und dann acht, wurden über sieben Tage jeweils neun Gramm BSE Hirn verfüttert, was extrapoliert auf den Menschen 100 Kilogramm an infizierter Gehirnmasse von Rindern entspräche. Von den zehn Mäusen eines Inzuchtstammes (C57B) starben nach 14 bis 17 Monaten 5, die die typischen Merkmale einer Prionenkrankheit im Gehirn aufwiesen; bei den übrigen fünf war auch nach 24 Monaten kein Anzeichen zu entdecken. Von der anderen Mäusegruppe (vom Inzuchtstamm CRH), die nach 24 Monaten getötet wurde, wies kein Tier Indikatoren für eine Prionenkrankheit auf. Alles andere als eindeutig also; das meinte auch der Leiter des Max Planck Institutes, Jörg Tatzelt, der feststellt, die Frage der oralen Infektion mit dem BSE-Agens, dem Prion, sei "leider nicht ausreichend beantwortet".
Bemerkenswert auch, was Professor John Collinge, führender BSE- und vCJK Forscher und als Mitglied von SEAC (Spongiform Enzephalopathie Advisory Committee) Berater der britischen Regierung, kürzlich nach einer Serie von Tests über die Infektiosität des Prions zu sagen hatte. Man wisse "immer noch nicht, was die Nervenzellen im Gehirn (von Mensch und Tier) zugrunde gehen läßt," stellte Collinge fest. Zwar bezeichnet er das Prion immer noch als "infektiös", aber das Eiweiß sei für sich genommen "nicht giftig für die Nervenzellen", allein sei es nicht in der Lage, die Nervenzellen zu schädigen. Dazu bedürfe es eines weiteren "chemischen Faktors". Diese Aussage kann als behutsames Abrücken von der herrschenden Prionenlehre gedeutet werde, die zur Zeit das Feld beherrscht und die zumeist sehr kostspieligen Aktionen der Politik bestimmt.
Es scheint ratsam offen zu bleiben für die Möglichkeit, daß die Prione keine neue, revolutio-näre Klasse von infektiösen Erregern darstellen, sondern daß sie lediglich die Reaktion des Eiweißes darstellen auf das Zusammenspiel jener Toxine (Schadstoffe), die Enzephalopathien auslösen.
BSE und vCJK - ein kausaler Zusammenhang?
Besonders brisant ist die Frage, ob es der Verzehr infizierten Fleisches war, der das Leben von bislang über 90 Menschen, zumeist Briten, gekostet hat, die an vCJK erkrankten. Nach wie vor gilt dies zwar als die "wahrscheinlichste Erklärung" für das Entstehen von vCJK, doch der Beweis dafür ist noch längst nicht erbracht. Die Indizien, die darauf hinweisen - allen voran der identische chemische Fingerabdruck von BSE und vCJK - lassen wissenschaftlich den genau so legitimen Schluß zu, daß diese beiden Krankheiten eine gemeinsame Ursache haben. Wie sehr die Forscher auch versucht haben, den Nachweis für einen kausalen Zusammenhang zu erbringen und je mehr Fälle von vCJK vorliegen, desto schwerer fällt eine klare Antwort.
Einige Vegetarier erkrankten an vCJK, darunter ein Mädchen, das seit 1985 auf eine strikt fleischfreie Ernährung geachtet hatte. Der britische Norden wie die Landbevölkerung ist prozentual häufiger betroffen als der Süden Großbritanniens und die städtischen Ballungsgebiete; dabei wurden vor allem in den Städten jene besonders garstigen Hamburger verzehrt, in die das sogenannte mechanically recovered meat - das Rezeptorenfleisch - aus Innereien, Gehirnmasse und minderwertigen Fleischresten hineinwanderte, die allesamt als besonders prionengesättigt gelten. Hamburger, die am Rande der Fußballstadien von kleinen, oft dubiosen Klitschen verkauft wurden, hatte der Volksmund bereits vor dem Auftreten von BSE makabrerweise Deathburger getauft.
Die Experten der Creutzfeld Jakob Forschungszentrums in Edinburgh gelangten kürzlich nach der bislang gründlichsten Studie von 50 vCJK Fällen zu dem Schluß, es gebe bei den Todesopfern keinerlei Hinweise auf Besonderheiten bei der Ernährung, verglichen mit einer Kontrollgruppe. "Wir sind auf keine Beweise eines besonderen Risikos, sei es durch Ernährung, Beruf oder Impfung gestoßen", erläutert Professor Robert Will den Befund seines wissenschaftlichen Teams, das sich auf die Ernährungsthese für vCJK festgelegt hat. Natürlich bedeutet Abwesenheit von Beweisen nicht, daß sich nicht doch noch Beweise finden lassen werden. Doch vorerst gibt es sie nicht.
Die Indizien aber, die für eine gemeinsame Ursache von BSE und vCJK sprechen, mehren sich. Besondere Kopfschmerzen bereiten den Experten die Cluster von vCJK im ländlichen England. Das erste um Ashford in Kent, wo sieben Menschen erkrankten, tat man noch als statistische Belanglosigkeit ab. Mittlerweile gibt es weitere lokale Ballungen.
In Queniborough, einer Ortschaft in Leicestershire in Mittelengland, verdichten sich die Hinweise auf ein Bündel von Umweltfaktoren, die womöglich verantwortlich sein könnten. In Queniborough mit vier vCJK Toten
befand sich bis vor einigen Jahren eine Farbenfabrik, die schon im Normalbetrieb Emissionen unter anderem des Schwermetalls Mangan in der Umgebung verbreitete; Mitte der 90er Jahre kam es zu einem Großbrand in dieser Anlage; das Unternehmen leitete einen Teil seiner hoch belasteten Rückstände in das lokale Abwassersystem ein; am Rand des Ortes liegt eine Anlage, die den Kloakenschlamm der Gegend aufbereitet; zusammen mit tierischem Kot aus der Intensivhaltung wird der Schlamm dann als Düngemittel auf die Felder der Umgebung gebracht. Der Kloakenschlamm um Queniborough herum ist besonders stark mit Mangan belastet; darüber hinaus haben Farmer der Gegend ihre Felder mit hohen Dosen Manganoxid gedüngt. (Großbritannien hatte Anfang der 90er die Verklappung von rund fünf Millionen Tonnen Kloakenabwässern ins Meer eingestellt und ging danach dazu dazu über, die ungeklärte Brühe intensiver als andere europäische Länder zur Düngung zu verwenden.) Es sei noch angemerkt, daß in besagtem Dorf und Umgebung elf Menschen an ME (Chronic Fatigue Syndrom) leiden, einer neurologischen Störung, die erstmals in den 80er Jahren diagnostiziert wurde (mittlerweile liegt die Zahl der Betroffenen bei rund 200.000). Sie wird auf Chemikalien der Organophosphat-Produkte zurückgeführt.
BSE und vCJK - Seuchen oder Umweltkrankheiten?
Könnten beide Krankheiten, BSE wie vCJK, durch eine Kombination von Umweltfaktoren, wie etwa hochgiftigen Chemikalien und Schwermetallen ausgelöst worden sein? Purdeys Theorie, wonach Phosmet, ein spezifisches OP-Pestizid, zusammen mit Kupfermangel und erhöhter Manganzufuhr, das Gehirn der Kuh in eine schwammartige Form verwandelt, konnte durch Laborversuche ansatzweise erhärtet werde. Eine Testreihe des Londoner Institutes für Psychiatrie demonstrierte, daß bestimmte Pestizide zumindest "die Empfänglichkeit für BSE" erhöhen.
Die britische BSE-Untersuchung hat sich diesem Befund angeschlossen, obgleich der Verweis auf Organophosphat-Pestizide als Faktor bei der Entstehung von BSE für die Londoner Regierung gewisse Risiken in sich birgt. Würde ein direkter, kausaler Zusammenhang zwischen OP′s und dem Entstehen von BSE nachgewiesen, müßte die Regierung mit enormen Schadensersatzforderungen der Bauern rechnen. Der Verlauf von BSE in Frankreich fügt sich übrigens in das neue Bild ein. Zunächst wurden BSE-Rinder in der Bretagne registriert, wo man zu Beginn der 90er begonnen hatte, die chemische Keule gegen die Dasselfliege einzusetzen, wenn auch mit geringeren Dosen als auf der Insel. Seit Mitte der letzten Dekade wurde das Programm auf das gesamte Land ausgedehnt; seither treten BSE-Fälle überall in Frankreich auf. Das gleiche geschah in Portugal, wo an die 500 BSE-Fälle registriert wurden und auch die Schweiz hat den Bauern die toxische Behandlung der Herden gegen das Insekt verordnet.
Bezeichnend ist, daß die Tests mit OPs nicht vom britischen Agrarministerium oder den diversen, mit hohen staatlichen Etats ausgestatteten wissenschaftlichen Instanzen gemacht oder auch nur initiiert, sondern erst durch private Gelder von einigen Farmern ermöglicht wurden. Die Resultate der OP-Tests wurden vom Agrarministerium und den Expertengremien lange Zeit ignoriert.
Biochemiker der Universität Cambridge haben inzwischen weitere Elemente der Purdey-Hypothese bestätigt. Sie wiesen nach, daß Mangan, wenn es mit Gehirngewebe zusammengebracht wird, das gesunde Eiweiß (Prion Protein) im Nervensystem in die krankhafte Form, das Prion, mutieren läßt. Forschungsteams aus Cambridge wie aus Frankreich fanden in gerade erst abgeschlossenen Untersuchungen im Gehirn von CJK - Toten, also Opfern der sporadischen Form dieser Krankheit, zehn Mal höhere Manganrückstände als im Normalfall.
Von besonderer Signifikanz sind in diesem Zusammenhang die Resultate diverser Feldstudien von Purdey, der in verschiedenen Teilen der Welt Cluster von Encephalopathien untersucht hat, sporadische Creutzfeld-Jakob-Krankheit beim Menschen (in Kalabrien und der Slowakei), Scrapie bei Schafen (in Island und Sardinien) und Chronic Wasting Disease bei Hirschen und Elchen (in Colorado). Überall zeigten Boden, Vegetations - und Wasserproben ungewöhnlich hohe Werte von Mangan auf. Es war entweder in der natürlichen Umwelt vorhanden, etwa in vulkanischen Böden, oder gelangt durch menschlich-industrielle Aktivitäten in die Umwelt, etwa Manganbergwerke oder Emissionen von diversen Fabriken (Farben, Lacke, Plastik, Stahlschmieden).
In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts traten Fälle einer tödlichen Gehirnkrankheit auf, die in der wissenschaftlichen Literatur als Manganese Madness firmierte. Sie grassierte unter Bergarbeitern in Chile, Südafrika und Nordamerika. Frappierend ist die Ähnlichkeit des Krankheitsbildes mit dem von vCJK - der gleiche rasche körperliche und mentale Verfall, der die Betroffenen am Ende auf den Zustand eines Kleinkindes reduziert.
Industriezivilisation und Risikofaktoren
Schwermetalle und Chemikalien sind in den Industriegesellschaften und der intensiven Agrarwirtschaft allgegenwärtig. Die moderne Landwirtschaft bringt zahlose hochtoxische Substanzen in die Umwelt, chemische Sprays, Dioxine, pharmazeutische Produkte und Schwermetalle. Hühnerkot, hochbelastet mit Mangan und anderen Industrieabfällen, wurde in Großbritannien und anderswo in Europa ins Tiermehl oder Kraftfutter hineingemischt.
Der BSE-Kuh im Allgäu wurde Kraftfutter mit Rückständen und Abfallprodukten der Geflügelindustrie verabreicht, was im Klartext eine Mixtur aus Kot, Mangan, Pharmazie und Chemierückständen bedeutet - mutierte Prionen aus BSE-Rindern waren im Kraftfutter dieser Kuh nach Erkenntnissen des deutschen Bauernverbandes nicht enthalten. Mangan wird an
Geflügel in Intensivhaltung verfüttert, um die Knochen zu stärken; Hühner sind jedoch schlechte Manganverwerter; sie scheiden 98 Prozent des Mangans aus. Der belastete Hühnerkot wie die Reste des Futters, das durch den Rost der Großkäfige fällt, wandern als Proteinbeigabe ins Tiermehl oder Kraftfutter.
Auch in Deutschland ist die Verfütterung von Schalen der Zitrusfrüchte (als Zitruspellets) im Viehfutter erlaubt, mit Rückständen u.a. des Organophosphats vom Typ Phosmet (bis zu 2mg pro kg).
Rinderherden, gerade auch im Allgäu, werden zum Grasen auf Wiesen getrieben, auf denen hochbelastete Gülle verspritzt wird. Die moderne Landwirtschaft hat sich in einen Abladeplatz für Problemmüll verwandelt. Der Klärschlamm, der als Dünger auf die Felder wandert, enthält einen giftigen Cocktail, diverse Schwermetalle, Chemikalien, sogar gentechnisch veränderte Organismen, mutagene, kanzerogene und neuro-toxische Substanzen bis hin zu Hormonen, Antibiotika und Steroiden.
Agrobusiness und Bauernverband wissen um diese Zusammensetzung. Experten des Bauernverbandes räumten bei internen Sitzungen vor Weihnachten ein, man habe schon lange große Schwierigkeiten, die gesetzlich erlaubten Höchstwerte für Zusätze zu Kraftfutter und Tiermehl einzuhalten, also für diverse Schwermetalle und Chemikalien. Agrobusiness und Verbände ziehen es aus verständlichen Gründen vor, daß die BSE-Debatte um die tierischen Substanzen kreist und nicht über die anorganischen Beigaben in Tiermehl wie Klärschlamm geredet wird.
Immerhin, der Bauernverband forderte Mitte Februar, plötzlich, aus heiterem Himmel, den Klärschlamm "unverzüglich" sicherer zu machen oder "zu verbieten". Da ersteres nicht möglich ist, kann man nur letzteres tun. Die Forderung des Bauernverbandes ist umso bemerkenswerter, als die Bauern für die "Entsorgung" der Giftfracht des Klärschlammes bezahlt wurden und ihnen damit in schwierigen Zeiten der Verlust einer Einnahmequelle droht.
Großbritanniens Sonderstellung bei BSE und vCJK läßt sich dadurch erklären, daß auf der Insel manche Praxis der modernen Agrarwirtschaft intensiver betrieben wurde als anderswo in Europa. Sie traf zusammen mit dem massiven Einsatz der chemischen Giftkeule in den Rinderherden. Prinzipiell gesehen aber existieren die britischen Risikofaktoren auch in Deutschland und anderen Ländern des Kontinents. Verschiedene Wissenschaftler bezeichnen BSE und vCJK als neue "postindustrielle" Umweltkrankheiten, typisch für Europa, wo Industrie, Landwirtschaft und Wohngebiete oft extrem dicht aufeinanderstoßen, anders etwa als in den Vereinigten Staaten von Amerika.
David Brown, Cambridge, rechnet auf Grund der vermehrt auftretenden toxischen Faktoren in der Umwelt mit einer "langsam weiter wachsenden Zahl" neurologischer Störungen und Erkrankungen, von vCJK, aber auch Alzheimer und Parkinson, die alle mit Schwermetallen und Pestiziden in Verbindung gebracht werden. Womit Brown und andere nicht rechnen ist eine vCJK-Epidemie, verursacht durch Fleischverzehr. Die offizielle Linie, vertreten etwa durch das Creutzfeld-Jakob-Referenzzentrum in Edinburgh unter Leitung von Professor Robert Will, betrachtet dagegen den Fleischverzehr als alleinige Ursache von vCJK, verweist auf die unbekannte Inkubationszeit dieser Krankheit und erwartet für Großbritannien im besten Falle ein paar hundert Tote, im schlimmsten Falle aber über 150000 vCJK Opfer. Die britische Politik hat sich an dieser Auffassung orientiert. Auf dem Kontinent folgt man bislang noch dieser Vorgabe, obgleich eine kritische Überprüfung der Thesen zwingend geboten erscheint.
Politik in der Risikogesellschaft
Zunächst einmal ist eine ehrliche Debatte vonnöten, die Risiken offen benennt, aber auch die Interessen nicht verschleiert, die mit dem Status quo in der Landwirtschaft heutigen Zuschnitts verbunden sind. Ansonsten werden politische Entscheidungen immer stärker bestimmt von erratischen, emotionalen Schüben der Angst, die in unseren Gesellschaften beinah periodisch um sich greifen.
Auf der einen Seite gibt es ein hochentwickeltes, manches Mal geradezu hysterisches Bedürfnis nach Sicherheit. Verbunden ist es oft genug mit der Weigerung, das eigene Verhalten als Verbraucher in einem Zusammenhang zu sehen mit möglichen Risiken, die unsere Industriezivilisation produziert. Wir wollen Komfort, Mobilität, billige Nahrung, das Filet jeden Tag, aber sind nicht willens, Konsequenzen zu sehen, die sich daraus für Gesundheit und Umwelt ergeben.
Wissenschaft darf nicht Diener wirtschaftlicher Interessen sein. Mehr denn je brauchen wir unabhängige, dem öffentlichen Wohl verpflichtete Experten, weil technologischer Fortschritt neue Chancen, aber auch Risiken mit sich bringt. Das läßt es nicht ratsam erscheinen, die Forschung noch stärker in ökonomische Abhängigkeit hinein zu treiben. Wissenschaftler müssen unbehindert forschen können und unbequeme Fragen stellen. Die britischen Erfahrungen lehren, daß eine Wissenschaft im Schlepptau ökonomischer und politischer Interessen sich allzu leicht nur auf die Bestätigung genehmer Schlußfolgerungen konzentriert oder unerwünschte Indizien ausblendet. Wo "Corporate Science" sich breit macht, sind die Medien mehr denn je gefordert. Umso bedauerlicher, daß man den Medien kein gutes Zeugnis ausstellen kann. Zumal die intellektuelleren Teile des vierten Standes versagt haben. Der Wissenschaftsjournalismus folgte in den 90ern zumeist unkritisch den Vorgaben der wissenschaftlichen Institutionen, die allzu oft ökonomischen und politischen Interessen dienen. Die Fachjournaille agierte zumeist so, als gebe es diese Interessen nicht - kritische Fragen wurden nicht gestellt, Zweifel nicht geäußert; ignoriert wurden selbst handfeste Forschungsresultate, die in Fachjournalen veröffentlicht wurden, nur weil sie der offiziellen Linie widersprachen.
Es wäre fatal, wenn nun auch in Deutschland viele Millionen in Forschungen flössen, die an wichtigen, aber unpopulären Feldern vorbeisteuerten, zumal angesichts der handfesten Resultate, die auf der Insel trotz massiven Widerstandes inzwischen von einigen Forschern erzielt werden konnten. In Großbritannien wurden seit 1996 allein der Prionenforschung 100 Millionen Mark zugestanden; der Organophosphattest, der bei Monsanto, ICI und anderen Chemiegiganten nicht besonders populär war, um es milde auszudrücken, kostete rund 35.000 Mark und war privat finanziert.
Krisen bringen stets auch Gewinner hervor. Wissenschaftler wissen, das Politiker zu großzügiger Finanzierung von Forschungsprojekten bereit sind, wenn nur die Angst vor einer menschlichen BSE-Epidemie groß genug ist. Vorsicht ist auch angesichts des Rates von Genforschern geboten, die der Bundesministerin für Forschung in Berlin nahelegten, das Prionenproblem durch die Anwendung genetischer Modifizierung zu entschärfen. Das Prion Protein, so ihre Idee, könne aus Rindern und Schafen entfernt werden, dann könne es auch nicht mehr ins Prion, die krankhafte Form mutieren, was immer die Ursache für diese Mutation sei.
Den Vorschlag hatte Professor Charles Weissmann, einst EU-Berater für BSE und vCJK, bereits 1996 in der Glaxo Wellcome Lecture der Royal Society gemacht. Der Vorschlag wirkt nur auf den ersten Blick frappierend. Japanische Wissenschaftler haben das bereits mit gentechnisch modifizierten Mäusen versucht. Die Tiere starben an einer unbekannten neurologischen Krankheit (nachzulesen in einem Papier, veröffentlicht in Nature, Anfang 1996). Weder Weissmann noch die Berater von Ministerin Bulmahn verwiesen auf diesen Ausgang, der darauf hindeutet, daß dem Prion Pro-tein eine uns zwar unbekannte, aber wichtige Rolle im großen Spiel tierischer wie menschlicher Biologie zugedacht ist.
Wichtig wäre es vor allem, die Ursache für BSE zu finden, weil nur dann eine überzeugende Prophylaxe entwickelt werden kann. Die bislang vorliegenden Erkenntnisse und Indizien legen es allerdings nahe, diverse Praktiken der intensiven Agrarwirtschaft zu korrigieren - die Kannibalisierung von Pflanzenfressern, die Exzesse der Massentierhaltung, den massiven Einsatz der chemischen Keule, die Düngung von Feldern mit Klärschlämmen und Gülle. Weshalb die agrarische Kurskorrektur, die sich in Deutschland abzeichnet, durchaus in die richtige Richtung geht, auch wenn die Begründung dafür noch nicht hinreichend sein mag. Das BSE-Problem dürfte sich in Zukunft eher noch verschärfen; irgendwann wird es, so steht zu fürchten, auch zum ersten Fall von vCJK kommen.
Die Politik muß nicht als Verlierer aus dem BSE-Drama hervorgehen. Vielmehr hat das ökonomische Prinzip eine Niederlage erfahren. Profitmaximierung ohne Rücksicht auf öffentliches Interesse, auf Gesundheit und Umwelt, ist nicht akzeptabel und verlangt nach einer Kurskorrektur. Ulrich Beck beschreibt die moderne Risikogesellschaft als eine Epoche, in der Entscheidungen, die das Leben vieler Millionen Menschen berühren, auf der Grundlage "gewußten Nichtwissens" getroffen werden. Die politischen Entscheidungsträger wußten nicht, was die Düngung mit Klärschlämmen und Gülle langfristig für Folgen zeitigen könnte; sie kannten nicht den möglichen Fallout der Entscheidung, die Freisetzung gentechnisch veränderter Organismen in die Umwelt zu genehmigen. Sie ahnten nicht, welche Folgen die intensive Kadaververwertung haben und was alles in Tiermehl, aber auch Fettabschneider oder den Milchersatz hineinwandern würde. Eine aufgeklärte Politik kann sich dieses Defizit an Wissen nicht länger leisten. Sonst wird sie sich auf Symbolpolitik und Blutopfer verlassen müssen, die nichts an den Realitäten ändern.