"Yes, we Gauck"

Wie Medien eine Volksbewegung beschworen und dabei gegen den "Parteienstaat" zu Felde zogen

„Der Parteibürger wird schon sehr bald und Tag für Tag zu verstehen bekommen, dass es sich in unserer Demokratie noch lange nicht von selbst versteht, Mitglied einer politischen Partei zu sein.“ Dieser Satz des Pädagogen Karl Friedrich Kindler ist heute, mehr als 50 Jahre später, unter dem Begriff Politik- beziehungsweise Parteienverdrossenheit aktueller denn je. Ein Lehrstück für den Wahrheitsgehalt dieser Feststellung lieferte die öffentliche Debatte über die Wahl des Bundespräsidenten am 30. Juni. Es lohnt sich, die Dynamik des „Wahlkampfes“ um das höchste Amt im Staat unter diesem Gesichtspunkt einmal nachzuzeichnen.

Nach der Nominierung der beiden Kandidaten Christian Wulff und Joachim Gauck am 3. Juni bezogen die Medien sehr schnell eine einheitliche Position pro Gauck. Schon am 6. Juni titelte die Bild am Sonntag  „Yes, we Gauck“. Und der Spiegel druckte ein Titelbild von Joachim Gauck mit der Überschrift „Der bessere Präsident“. Der heimliche Anführer dieser „Gauckomanie“ (Die Zeit) aber war der Herausgeber der Welt, Thomas Schmid. Bereits am 4. Juni kommentierte er: „Gauck ist der Richtige!“ Egal, welche Tageszeitung man aufschlug, von links (taz) über liberal (Süddeutsche Zeitung) bis hin zu bürgerlich-konservativ (FAZ) dominierten die Hymnen auf Gauck. Wenig überraschend bezog allein das Neue Deutschland Stellung gegen die Kandidatur Gaucks, und nur die Berliner Morgenpost unterstützte Wulff „als Konservativen mit starken liberalen Zügen, gestählt im Politikgeschäft ohne Fluchtgefahr.“ Ansonsten galt, wie Hans Leyendecker in der Süddeutschen Zeitung schrieb: „Deutschland, einig Zeitungsland“. Mehr Medienpluralismus herrscht zurzeit wohl auch im putinschen Russland nicht.

 Die Beweggründe, warum die Medien so einhellig und eindeutig für Joachim Gauck votierten, lassen sich in drei Kategorien einteilen: „Gauck der Superstar“, „Der böse Parteienstaat“ und „Gauck der Bürger“. Die „Gauck der Superstar“-Argumentation bezog sich vor allem auf die persönlichen Eigenschaften des evangelischen Pfarrers. Er sei ein brillanter Rhetoriker, der einen Erfahrungsschatz aus der DDR mitbringe, den Deutschland gut gebrauchen könne. Er stehe für die Freiheit wie kein anderer und sei in der gegenwärtigen Krise ein „großer Mutmacher“ und „Therapeut“ (Der Spiegel). Das kann man so sehen (ich selbst war auch für Gauck), das wäre in Ordnung gewesen.

Parteilosigkeit als Qualitätsmerkmal

Doch die Medien beließen es nicht bei dieser Begründung. Stattdessen verknüpften sie die Rede von „Gauck Superstar“ aufs Engste mit einer „Der böse Parteienstaat“-Argumentation. Auf dem Höhepunkt der Debatte sagte der ostdeutsche Schriftsteller Erich Loest: „Christian Wulff hatte eine Karriere, Joachim Gauck ein Leben.“ Hier offenbart sich ein gefährlicher Anti-Parteieneffekt: Wer in Parteien mitarbeitet, der macht dies offenbar niemals selbstlos, nicht aus moralisch integren Motiven, sondern nur für sein persönliches Fortkommen. Parteimitgliedschaft als Makel. Und die Medien griffen die Anti-Parteienstimmung dankbar auf. Der Stern überschrieb das „Duell“ Gauck-Wulff: „Der Parteimensch aus dem Westen gegen den Intellektuellen aus dem Osten“. Die Parteilosigkeit Gaucks galt als besonderes Qualifikationsmerkmal. Er sei dadurch kein Kandidat „aus dem politischen Establishment, der sich durch das Stahlbad einer Politkarriere gekämpft hat“ (Bild), während Christian Wulff das Ergebnis des „kleinkarierten Parteiproporzes“ (Frankfurter Rundschau) sei. Das Nominierungsverfahren des niedersächsischen Ministerpräsidenten sei doch nur das Ergebnis von Angela Merkels „Küchenkabinettspolitik“ (Welt) gewesen. Die Bundeskanzlerin sei „parteipolitisch durchmarschiert“ (wieder Die Welt) und mache „den Staat zur Beute der Parteien“ (Der Spiegel). Aber auch SPD und Grüne kamen nicht ungeschoren davon. Schließlich hätten sie Gauck ja ebenfalls nur aus parteipolitischen Motiven nominiert. Mit einer eigenen Mehrheit in der Bundesversammlung wäre Gauck nie aufgestellt worden. Und selbstverständlich wurden auch die handelsüblichen Forderungen nach einer Aufhebung des angeblichen Fraktionszwangs (Kurt Biedenkopf) und einer Direktwahl des Bundespräsidenten wieder laut. Kein Zweifel: Die alte Volk-gegen-Parteien-Dichotomie war omnipräsent. Oder, wie es die ostdeutsche Schriftstellerin Monika Maron ausdrückte: „Jetzt gerade wird dem Volk vorgeführt, wie wenig seine Willensbildung gilt, wie wenig sie die Parteien interessiert.“

War Gauck im Grunde unbeliebt?

Woher aber nahmen die Medien die Legitimation, Gauck als den vom deutschen Bürger gewünschten Bundespräsidenten zu präsentieren? Hier kommt die „Gauck der Bürger“-Argumentation ins Spiel, laut der sich angeblich eine breite Volksbewegung für Joachim Gauck stark machte. Dabei ergab die erste repräsentative Meinungsumfrage vom 6. Juni 41 Prozentpunkte für Christian Wulff, aber nur 32 für Joachim Gauck. Eine Woche und diverse einhellige Kommentare zugunsten von Gauck später hatte sich die Bevölkerungsgunst gedreht. Nun lag dieser in Umfragen bei 42 Prozent und damit zehn Punkte vor Wulff. Auch andere demoskopische Erhebungen spiegelten die mediale Einigkeit kaum wider. Im ZDF-Politbarometer vom 18. Juni votierten 39 Prozent für Joachim Gauck, 31 Prozent für Christian Wulff, wo eigentlich ein Erdrutschsieg für Gauck zu erwarten gewesen wäre. Der ehemalige Bürgerrechtler erreichte noch nicht einmal die parallel erhobenen Zustimmungswerte zu SPD und Grünen (46 Prozent).

Mehr SPD-Mitglieder als Gauck-Fans?


Aber die Umfragen spielten für die Beweisführung der Medien, dass es sich hier um eine Volksbewegung „Pro Gauck“ handele, ohnehin eine untergeordnete Rolle. Viel wichtiger war ihnen das Internet – allen voran eine von dem Hamburger Jungliberalen Christoph Giese gegründete Facebook-Unterstützergruppe für Gauck, auf der sich bis zur Wahl knapp 50.000 soziale Netzwerker tummelten. Für die Frankfurter Rundschau war das immerhin Beweis genug für eine „Lawine von unten“. Aber was bedeuten eigentlich 50.000 Online-Unterstützer? Sind das viel oder wenig? Ein Vergleich mit anderen Facebook-Gruppen liefert Anhaltspunkte: Genau 46.978 Menschen versammeln sich hinter der Forderung „Wir wollen das Tschisi-Eis zurück!“. Und 81.534 nutzen ihre Online-Partizipation dazu, der Welt mitzuteilen: „Ach wie gut, dass niemand weiß, auf was und wen ich alles scheiß“. Nach medialer Lesart sind das alles Volksbewegungen (für das Tschisi-Eis gibt es sogar noch weitere Unterstützer-Homepages). In Wirklichkeit waren in der Gauck-Gruppe gerade mal 0,5 Prozent der zehn Millionen deutschen Facebook-Nutzer Mitglied. Der Anteil der SPD-Mitglieder an der Gesamtbevölkerung liegt mit 0,67 Prozent erheblich höher. Die gute alte Partei als Volksbewegung? Das würden die Medien sicherlich nicht schreiben.


Der Versuch, diese „Online-Bewegung“ in die „Offline-Welt“ zu übertragen, scheiterte denn auch kläglich. Die groß angekündigten „Demos-für-Gauck“ gerieten zum Fiasko. In Berlin versammelten sich gerade einmal 30 Unterstützer vor dem Brandenburger Tor, so dass die Polizei den Demonstranten verbot, in Richtung Alexanderplatz auf der Straße zu marschieren. Eine so geringe Beteiligung rechtfertige keine massive Verkehrsbehinderung. Also: Volksbewegung auf dem Bürgersteig! Auch an den anderen Demonstrationen für Gauck nahmen im Schnitt nur 50 Menschen teil, was der medialen Inszenierung aber keinen Abbruch tat. Der Organisator der ersten Berliner Pro-Gauck-Demonstration, Christoph Giesa, bilanzierte in seinem Blog: „Die Berichterstattung wird keine Enttäuschung werden.“

Zwei Lehren können wir aus der Debatte um die Bundespräsidentenwahl ziehen. Erstens: Ein Mausklick im Internet ist noch keine Partizipation, geschweige denn eine Volksbewegung. Wer eine halbe Minute seiner kostbaren Zeit opfert, um Mitglied einer Facebook-Gruppe zu werden, wird sich noch lange nicht tatsächlich und kontinuierlich für dieses Ziel engagieren. Zweitens: Das Gerede vom unerträglichen Parteienstaat ist mehr als schädlich. Wenn eine Parteimitgliedschaft als persönlicher Makel gilt – wer soll sich dann noch in Parteien engagieren?

Einen Tag vor der Wahl hat Christian Wulff diese Gefahr auf den Punkt gebracht. In einem Interview mit der Rheinpfalz warnte er: „Die Anti-Parteienstimmung mancher Anhänger Joachim Gaucks ist gefährlich, denn wir brauchen Hunderttausende, die sich ehrenamtlich und freiwillig vor allem auf kommunaler Ebene für ihre Gemeinde engagieren und sich dafür Zeit nehmen.“ Wo der Bundespräsident recht hat, hat er recht. «

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