Zukunftshoffnung Biomedizin
Betrachtet man die Technologieschübe in den letzten eineinhalb Jahrhunderten, dann fällt eine gewisse Gesetzmäßigkeit auf. 1828 gelang Friedrich Wöhler die erste Laborsynthese eines organischen Moleküls aus anorganischen Molekülen. 1913 baute Carl Bosch die Ammoniaksynthese zu einem großtechnischen Verfahren aus. 1926 legte Hermann Staudinger durch die chemische Synthese von Riesenmolekülen den Grundstein für die industrielle Massenfertigung von Kunststoffen nach Maß. Analog zu dieser Geschichte der Kunststoffchemie, allerdings eineinhalb Jahrhunderte später beginnend und auf einen Zeitraum von nur elf Jahren zusammengedrängt, verlief die Geschichte der "Synthetischen Biologie"/Gentechnologie: 1972 entdeckt Werner Arber die Restriktionsenzyme, mit denen man DNA-Sequenzen an spezifischen Stellen schneiden kann. 1976 brachte Har Gobind Khorana zum ersten Mal ein im Labor synthetisiertes Gen zur Expression. 1982 brachte die Firma Eli Lilly das erste gentechnisch gewonnene Produkt auf den Markt.
Seit 1987 sind die Molekularbiologen dabei, künstliche Proteine mit völlig neuen Eigenschaften per Computersimulation zu konstruieren. Folgt also nun in der Geschichte der Beherrschung unserer materiellen Lebensgrundlagen nach den Zeitaltern der physikalischen Technologien (Mechanisierung, Energienutzung und Informatik) und der chemischen Technologien das Zeitalter der Bio-Technologie? Der atemberaubende Siegeszug der elektronischen Datenverarbeitung, inzwischen zur global vernetzten IT-Branche avanciert, wirkt seinerseits als Schubkraft in den Life-sciences. Ohne die entsprechenden EDV-Programme und den internationalen Datenaustausch per Mausklick hätten wir auf die in diesem Jahr erfolgte Totalsequenzierung des menschlichen Erbgutes noch lange Zeit warten müssen.
Die Ausgangsvermutung lautet: Da die Bio-Techniken die Verwendung einer für "biologische Systeme" grundlegenden "Sprache" darstellen, lassen sich Manipulationen in bisher ungeahntem Ausmaß durchführen. Mit Biotechnik - Gentechnik und Zellkulturtechnik - wird nicht grob per Energie oder Materie in den Lauf der Natur eingegriffen, sondern sehr subtil und raffiniert per Information. Es ist die Kunst der Beherrschung der biologischen "Programmcodes" und "Botenstoffe" auf den untersten Ebenen biologischer Organisation, die möglicherweise einen ungeheuren Machtzuwachs darstellt. Nukleinsäuren und Proteine, Hormone und Zelloberflächenrezeptoren, vielleicht bald auch feinste Energieströme sind die Hebel, Leitungen und Schalter dieser Ingenieurskunst. Dies unterscheidet die Biotechnologie der 80er Jahre von der ohnehin schon rasanten Entwicklung der Agrar-, Enzym- und Medizintechnologie seit den 60ern und 70ern.
Bisher terminologisch gerne geschieden, wachsen inzwischen auch die beiden Zweige der Genetik und der Reproduktionsbiologie zu einem stabilen Ast zusammen. Jüngstes spektakuläres Beispiel ist die Hoffnung auf "Organzucht" aus tierischen und menschlichen Stammzellen, von den einen als "Verheißung" begrüßt, von anderen als "Obsession" abgelehnt. Aus den noch "pluripotenten" Stammzellen von Embryonen oder auch von Erwachsenen kann vieles werden: Haut, Nerv, Ader etc.. Transferiert man ihren Kern in eine entkernte Eizelle, kann sogar ein komplettes Individuum daraus entstehen. Um moralischen Zweifeln möglichst zuvorzukommen, unterscheiden die Experten mittlerweile zwischen "reproduktivem" Klonen - strikt abzulehnen - und "therapeutischem" Klonen - gefordert als medizinische Notwendigkeit! Nun werden Organe im Labor kaum jemals wie Äpfel an Bäumen wachsen, dennoch bietet die Stammzelle ein faszinierendes Feld, auf dem die "Sprache" der Zell- und Organdifferenzierung erlernt werden kann. Noch weiß niemand, aus welchen Zellinien einst welche Gewebe generiert werden können. Erste Beispiele jedoch sind etwa Hautregenerationen und die Besiedlung der Gerüste tierischer Herzklappen mit menschlichem "Zellrasen". An drei elementaren Fragestellungen kristallisiert sich die jüngste Kontroverse bei der technischen Umsetzung biomedizinischer Erkenntnisse:
Wie sicher ist die Grenze zwischen "reproduktiv" und "therapeutisch"?
Wer ist im Rahmen therapeutischer Zielsetzungen das "therapeutische Objekt", der Einzelne, seine Angehörigen (Medizin) oder ganze Populationen (Eugenik)?
Welchen Status hat überhaupt der menschliche Keim in seinen unterschiedlichen Entwicklungsstadien angesichts des möglicherweise unvermeidlichen "Embryonenverbrauchs" auf dem Weg zu den therapeutischen Zielen?
Gerade die Beantwortung der letzten Frage hat eine erstaunlich lange Tradition in der abendländischen Philosophie-, Theologie- und Rechtsgeschichte. Alle drei Fragen sind eigentlich nur im Zusammenhang zu erörtern, an dieser Stelle soll eine Skizze zur dritten Frage ausreichen. Sehr anschaulich werden die Zusammenhänge am Beispiel der aktuell in die rechtspolitische Diskussion gekommenen Präimplantationsdiagnostik, also der mikroskopischen Untersuchung extrakorporal gezeugter Nachkommen von Paaren mit erblichen Risiken vor der Einsetzung des Embryos in die Gebärmutter. Es zeichnet sich angesichts der Stammzellforschung und der Präimplantationsdiagnostik folgende Grundsituation ab: Mit der Wahl des zellulären und extrazellulären Mediums bestimmen wir den Expressionsspielraum des genetischen Programms und damit die Fundamente des biologischen Schicksals eines Menschen bzw. einzelner seiner Organe. Welches aber sind die Kriterien einer solchen Entscheidung?
Louise Brown, das erste "IVF-Kind" (IVF: In-vitro-Fertilisation) ist inzwischen über zwanzig Jahre alt, nach ihr kamen Hunderte weitere extrakorporal gezeugte Kinder zur Welt. Etwa zehn Jahre nach ihrer Geburt begannen verschiedene Versuche, bei Fertilitätsproblemen des Mannes die Spermien künstlich durch die Eihülle (zona pellucida) zu leiten. Diese intracytoplasmatische Spermieninjektion (ICSI) führte 1992 erstmalig zur Geburt eines Kindes und gilt heute als erfolgreichste reproduktionsmedizinische Methode. Bereits zwei Jahre zuvor wurde erstmals erfolgreich die Präimplantationsdiagnostik (PID) durchgeführt. Bis zum Herbst 1997 wurden etwa 1.200 extrakorporale Befruchtungen durch eine PID flankiert und etwa 170 Kinder nach PID geboren.
Der Begriff Präimplantationsdiagnostik ist bezeichnend. Generell werden Diagnostiken nach ihrer methodischen Grundlage oder ihrer fachlichen Zugehörigkeit benannt: "Differentialdiagnostik", "Röntgenuntersuchung", "orthopädische Untersuchung". Ebenso kann eine Diagnostik nach den Organen, Geweben, der Stoffgruppe oder auch der Krankheit benannt werden, auf die sie gerichtet ist: "Mammographie", "Blutprobe", "HIV-Test". Einige Diagnostiken werden nach ihrem Bezug zur derjenigen Lebensphase benannt, auf die sie bezogen sind: "Pränataldiagnostik", "gerontopsychiatrische Untersuchung". Die PID gehört nun zu den Diagnostiken, die nach einem anderen Verfahren benannt werden, das sie begleiten sollen. Das eigentliche Verfahren ist die "Implantation", die PID enthält von ihr Sinn und Logik, folgerichtig wird inzwischen ein neuer Begriff der "Reprogenetik" angeboten. Die PID soll also als ein Verfahren im Rahmen medizinisch assistierter Zeugung begriffen werden, sie soll ihren Sinn haben im Rahmen der Kinderwunschsprechstunde und soll darin insbesondere die Geburt eines gesunden Kindes gewährleisten oder mit einer leichten Verschiebung: Sie soll die Gesundheit des erwünschten Kindes gewährleisten.
In Wahrheit aber ist nicht die PID das flankierende Verfahren zur IVF, sondern umgekehrt: Die IVF ist die Voraussetzung für die PID, die ihrerseits durch den Verdacht auf genetische Fehlbildungen indiziert ist! Die Verschiebung signalisiert, dass sich humangenetische, reproduktionsmedizinische und pädiatrische Aspekte in der PID verschränken. Man könnte die PID mit selbem Recht auch als U-2 im Rahmen von Kinder-Früherkennungsuntersuchungen bei Risikoschwangerschaften bezeichnen, also als eine erste Maßnahme am Kind, die dann von Pränataldiagnostik (U -1), Neugeborenen-Erstuntersuchung (U 1), Neugeborenenbasisuntersuchung (U 2) etc. gefolgt wird. Dieser doch eigentlich wichtigere Aspekt wird aber im Namen nicht genannt. Sicherlich sollte man nun keineswegs das werdende Kind isoliert betrachten, sondern auch den Kinderwunsch der Eltern nicht aus den Augen verlieren, insofern wäre eine Bezeichnung am besten, die sich am Verlauf der Mutter und Kind gemeinsam thematisierenden Schwangerschaft orientierte, also analog zu "vorgeburtlicher Diagnostik" wäre etwa von einer "Diagnostik vor der Einnistung" also eigentlich präzise und vollständig von "Genetischer Pränidationsdiagnostik" (GPND, dies entspräche auch mehr dem internationalen Terminus "preimplantation genetic diagnosis", PGD) zu sprechen. Der Begriff "Implantation" stellt das vergleichsweise abgerückte Handeln des Arztes in den Vordergrund, mit dem Hinweis auf die Nidation wäre dagegen auf den synergetischen Prozess der Konzeption verwiesen: Der mütterliche Organismus nimmt die befruchtete Zelle oder Zygote (zygotos = griech. "verbunden") etwa bis zum 14. Tag fest in die Schleimhaut der Gebärmutter auf, die Zygote bildet dann nach der Einnistung als Embryo (em bryo = griech. "im Moos") die Plazenta aus. Mit dem Prädikat "genetisch" wäre sichergestellt, dass es sich um Paare mit bekannten erblichen Risiken handelt.
Bei der PID wird aus der Zygote nach den ersten Teilungen, also meist am dritten Tag der Befruchtung, eine Zelle herausgelöst und auf chromosomale oder genetische Aberrationen untersucht. Bei positivem Ergebnis wird die Zygote nicht implantiert, sondern "verworfen". Selbst wenn sie implantiert wird, ist die herausgelöste, bisher als totipotent geltende Zelle auf jeden Fall "verbraucht". Auch aus ihr hätte sich demnach potentiell ein Embryo und späterer Fötus weiter bis zur vollen Person entwickeln können. Nicht der Erhaltung dieser Zelle gewidmet, ist die verbrauchende Nutzung der herausgelösten Zelle bei dieser Betrachtung mit § 8 des deutschen Embryonenschutzgesetzes nicht vereinbar. Eine PID darf in Deutschland also bis auf den heutigen Tag nicht durchgeführt werden.
Diese Position wird inzwischen angefochten mit der These, bei der Zygote handle es sich bereits nach dem Acht-Zell-Stadium nicht mehr um einen Verband totipotenter, sondern nur noch pluripotenter Zellen; jede von ihnen könne sich zwar von den anderen isoliert eine ganze Weile weiter differenzieren, nicht mehr aber zu einem Embryo heranreifen. Der um eine Zelle verminderte Zellverband kann den Verlust der einen Zelle voll kompensieren. Die PID an einer 12- oder 16-Zell-Zygote sei folglich mit dem Gebot des Embryonenschutzes nicht nur vereinbar, vielmehr sei fraglich, ob umgekehrt ein Embryonenschutzgesetz ethisch vertretbar sei, dass die PID unmöglich mache.
Um in dieser Frage zu einer ethischen Bewertung zu kommen, muss man nun noch einmal einige Schritte zurückgehen und den therapeutischen Ansatz würdigen: Selbstverständlich ist es zu begrüßen, wenn auf der Grundlage einer rechtzeitigen Gendiagnose der Ausbruch einer Krankheit verhindert werden kann oder wenn die Angst vor dem Ausbruch einer Krankheit sich auf Grund der diagnostischen Daten als unbegründet erweist. Ebenso kann natürlich die Diagnose den Anlass geben, sich frühzeitig auf ein Leben mit einem Kind mit einer Behinderung oder auf ein angemessenes Geburtsmanagement oder auch auf therapeutische Maßnahmen bei Behinderungen vorzubereiten. Insofern muss auch ein freier und gerechter Zugang zu humangenetischen Dienstleistungen gewährleistet sein.
Im Blick auf die Gesundheit des erwarteten Kindes - im vorgeburtlichen Stadium also zunächst des Embryos oder Fetus - ist es zweifellos ebenso zu begrüßen, wenn dank einer rechtzeitigen Gendiagnose der Ausbruch einer Krankheit etwa durch eine früh einsetzende symptomatische Therapie verhindert werden kann oder wenn auch hier die Angst vor dem Ausbruch einer Krankheit sich als unbegründet erweist. Eine pauschale Ablehnung der genetischen Diagnostik, auch der genetischen Pränataldiagnostik, wäre aus ethischer Sicht schwerlich zu verantworten.
Wie aber bewältigt man die Diagnose einer schweren Krankheit Monate oder Jahre vor ihrem Ausbruch? Die Betroffenen selbst können ihr Recht auf informationelle Selbstbestimmung wahrnehmen oder ruhen lassen. Gesellschaftlich aber ist auf jeden Fall gegen jeden Gedanken an eugenische Programme Stellung zu beziehen. Heilendes Handeln gilt stets dem einzelnen Menschen und nur vermittelt über den Einzelnen auch der Gesundheit der Bevölkerung. Das Recht des Einzelnen auf Unversehrtheit von Leib und Leben darf niemals dem Interesse an der Gesundheit der Bevölkerung unterworfen werden.
Wird eine akute genetisch bedingte Schädigung festgestellt, so tritt im Fall der Pränataldiagnostik (PD) die Option des Schwangerschaftsabbruchs hinzu oder im Fall der PID die Unterlassung der Implantation ("Verwerfung"). Auf den ersten Blick scheint bei der Wahl zwischen PD plus Abtreibung und PID plus Verwerfung das letztere Verfahren vorzuziehen sein, weil es für die Zygote die gleichen, für die Mutter aber weniger Risiken birgt. Die PID vermeidet überdies die enorme Problematik der Spätabtreibungen. Diskutiert wird dann, inwiefern es sich bei diesen alternativen Optionen um Ausnahmen vom Tötungsverbot handelt, oder ob das Tötungsverbot zwar gilt, aber auf eine strafrechtliche Verfolgung der Tötung verzichtet wird, oder ob gar keine Tötung vorliegt. Nach Überzeugung nicht nur katholischer, sondern auch evangelischer Ethik hat jeder Mensch vom Beginn seiner Zeugung an das uneingeschränkte Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Auch im Falle des Schwangerschaftskonflikts und des Embryos in vitro weicht die evangelische Ethik hiervon keineswegs ab, gleichwohl ist sie bereit, das ethische Dilemma von betroffenen Frauen und Paaren und damit auch deren mögliche Entscheidung für den Abbruch der Schwangerschaft und die Tötung des Embryos mitzutragen. Die evangelische Kirche und Diakonie steht folgerichtig auch zu ihrer Mitverantwortung im Rahmen der gesetzlich geregelten Schwangerschaftskonfliktberatung. Für genetisch schwerwiegend vorbelastete Familien ermöglicht die PD schon seit geraumer Zeit die gesellschaftlich de facto weitgehend akzeptierte "Schwangerschaft auf Probe" mit der Möglichkeit einer Abtreibung des kranken Fetus etwa nach der zwölften Schwangerschaftswoche. Im Vergleich hierzu ermöglicht die PID eine deutlich frühere Verwerfung des Embryos. Zugleich bestehen nach dem Acht-Zell-Stadium am dritten Tag noch Chancen für eine erfolgreiche Implantation. Dieser "Korridor" wird international zunehmend genutzt, in Deutschland bisher nur in Lübeck konkret erwogen, weil eben die Rechtslage in Auslegung des Embryonenschutzgesetzes noch unklar erscheint. Von verschiedenen Seiten wird deshalb eine Novellierung gefordert und von der Bundesregierung auch diskutiert.
Wie sich der ethisch-rechtliche Begriff der Personenwürde und die humanbiologische Datierung des Beginns eines individuellen Menschenlebens aufeinander beziehen, ist seit der Antike Gegenstand anthropologischer und rechtlicher Erwägungen, seit Beginn der 90er Jahre provozieren Erkenntnisse moderner Embryologie eine zunehmend präzise Urteilsbildung in der medizinischen Ethik, so auch im Bereich etwa der evangelischen Ethik. Letztere begrüßt den hohen Standard des deutschen Embryonenschutzgesetzes mit seinem Verbot von Untersuchungen an Embryonen im Stadium der zellulären Totipotenz (bis zum Abschluss des Acht-Zell-Stadiums) und dem Verbot ihrer fremdnützigen Verwendung und verbrauchenden Forschung und Diagnostik. Auch der Richtlinienvorschlag der Bundesärztekammer (BÄK) zur PID folgt diesem Prinzip, erlaubt eine PID also erst nach Abschluss des Acht-Zell-Stadiums an Zellen, die angeblich nicht mehr zu eigenen Individuen heranreifen können. Es stellt sich somit die Frage, was präzise zwischen dem Zwei- und dem Zwölf- oder 16-Zellstadium stattfindet. Im Zwei-Zellstadium ist jede Zelle noch totipotent und kann nach Abtrennung zu einem Menschen (Zwilling) heranreifen. Mit dem Acht-Zellstadium endet sehr wahrscheinlich die Totipotenz der Zellen. Auf der sicheren Seite ist man im 16-Zellstadium, von nun an sind die Zellen nur noch pluripotent, aus ihnen können noch verschiedene Zelltypen hervorgehen (Nerven-, Muskel-, Blutzellen etc.), nicht aber ein vollständiger Mensch. Die Kultur solcher Embryonen ist überdies schwierig. Seit langem ist bekannt, dass sich am vierten und fünften Tag die Zygote zur kugelförmigen Blastozyste mit nunmehr rund 100 Zellen weiterentwickelt. Ein Teil der Blastozyste gehört zur Hülle (Trophoblast), ein anderer zur inneren Zellmasse (Embryoblast, später "Keimscheibe" als eigentlicher Körper des Embryos) Beide Teile differenzieren sich auseinander und trennen sich in die embryonale Körpergrundgestalt und die extraembryonalen Anteile (später "Chorionhöhle").
Entscheidend ist aber die genaue Erfassung des "Korridors" am dritten Tage. Und hier liegen nun neue Erkenntnisse vor. Man kennt inzwischen das Potential einer aus dem Zellverband im 16-Zell-Stadium herausgelösten Zelle, sie ist pluripotent, nicht aber totipotent. Eine Trennung zwischen Hülle und Kern lässt sich offensichtlich noch nicht beobachten, insofern kann nicht mit Bestimmtheit ausgeschlossen werden, dass die herausgelöste Zelle - ob totipotent oder pluripotent - nicht doch de facto Chancen gehabt hätte, zur Entstehung des Embryoblasten beizutragen. Es scheint ja nicht so zu sein, dass der Embryoblast aus nur einer totipotenten Zelle etwa des Vierzellers hervorgeht, eher wirken mehrere alsbald pluripotente Zellen in diesem Prozess synergetisch zusammen. Wichtig ist deshalb zunächst, dass es offensichtlich die Embryogenese nicht beeinträchtigt, wenn eine der Zellen des 16-Zellers entnommen wird, es findet keine "Amputation" statt. Die Differenz zwischen Totipotenz und Pluripotenz hat ihren Rang als Kriteriologie für die Zuschreibung der potentiellen Personwürde also nur im Blick auf das Schicksal der herausgelösten Zelle. Es ist jetzt ausgeschlossen, so lautet das Urteil der Embryologie, dass sie nun zu einem eigenen Individuum heranreift. Gleichwohl - und das kann eben nicht ausgeschlossen werden - hätte sie möglicherweise einen zentralen Anteil an der Ausbildung des Individuums haben können, hätte man sie an Ort und Stelle belassen. Es ist deshalb unmissverständlich klarzustellen, dass erst die Herauslösung der Zelle, jenen Zustand herbeiführt, in dem die Kriteriologie greift. Wir haben es wieder einmal mit einer jener durch menschliches Handeln präformierten Situationen zu tun, auf die wir nicht naiv wie auf einen schicksalhaften Vorgang nachträglich unsere ethische Urteilsbildung richten können. Vielmehr müssen wir uns fragen, inwieweit wir legitimiert sind, solche Situationen überhaupt erst herbeizuführen.
Eine Antwort könnte lauten: Die Pflicht zur Anerkennung der Menschenwürde gilt im Blick auf das menschliche Individuum und alles, was im Blick auf Leib und Leben dieses Individuums von wesentlicher Bedeutung ist. Sie gilt nicht einer Zelle, die zwar potentiell, aber - und das ist nun entscheidend - nicht notwendig und unverzichtbar zum Werden eines Individuums hätte beitragen können. Lief die noch eher tastende Stellungnahme der evangelischen und katholischen Kirchen von 1997 noch auf eine generelle Ablehnung der PID hinaus, so erwägen inzwischen erste evangelische Theologen aufgrund dieses aktuellen embryologischen Befundes eine positive Bewertung der PID analog zur PD, bei beiden sei die Ambivalenz von Nutzen und Missbrauch permanent im Blick zu halten.
Möglicherweise ist aber in Sachen Embryologie noch nicht alles bis zu Ende durchdacht. Die Situation änderte sich nämlich schlagartig, transferierte man den Zellkern der abgetrennten Stammzelle in eine entkernte Eizelle und entwickelte diese sich dann zu einem Embryo. Dann wäre zwar nicht die Stammzelle, wohl aber ihr genetischer Kern jenes potentielle "Individuum", dem wir die Menschenwürde zusprechen müssten? Wären wir dann nicht zum Transferieren verpflichtet? Die Übertragung des Kerns der Stammzelle in eine entkernte Eizelle wäre eine Art "künstlicher Befruchtung" analog zum Eintritt des Spermiums in die Eizelle mit dem Unterschied, dass in diesem Fall nicht ein halber, sondern ein vollständiger Chromosomensatz die Eizelle betritt. Das deutsche Embryonenschutzgesetz mit seiner alles entscheidenden Zäsur zwischen "Vorkernstadium" und "Kernfusion" hat hier entschieden: Der Schutz gilt erst der Zelle mit dem vollständigen Chromosomensatz und nicht schon der Zygote per se! Entsprechend übertragen deutsche Reproduktionsmediziner nach einer IVF die ersten drei implantationsfähigen Zygoten, deren Vorkerne sich vereint haben und zerstören die übrigen, bevor sie das Vorkernstadium verlassen haben. Auf diese Weise kann es keine "überzähligen" Embryonen geben, denn was überzählig war, waren per definitionem noch keine Embryonen. Laut Gutachten der DFG ist "die - wissenschaftlich derzeit nicht realisierbare - Reprogrammierung von pluripotenten Zellen zu totipotenten Zellen nach den Bestimmungen des Embryonenschutzgesetzes als Klonen definiert" und deshalb verboten. Übersehen wird hier die Möglichkeit des im Falle des Klonschafes Dolly erfolgreichen Transfers in eine entkernte Eizelle. Das Dilemma ist perfekt: Einmal isoliert kann der Zwilling nur durch Reprogrammierung oder Transfer gerettet werden, dieses aber ist als "Menschen-Klonen" derzeit geächtet, was folglich zurückzunehmen wäre. Dies unterstreicht einmal mehr die These, der Würdeschutz als individualrechtliche Garantie sei seiner Struktur nach nicht geeignet, ein Klon-Verbot zu stützen, gilt er doch dem konkreten Individuum und nicht der Menschheit als ganzer.
Will man eine Handhabe bewahren, künftig das Klonen zu verbieten, dann muss man schon jetzt die Isolierung menschlicher embryonaler Stammzellen verbieten und damit auch die PID und zwar nicht um eines individualrechtlichen Schutzes willen, sondern zum Schutz der Menschheit als Gattung! Andernfalls wäre eine Situation vorprogrammiert, in der das Klonen geradezu geboten wäre. Der embryologische Befund scheint uns in der ethischen Urteilsbildung also doch nicht recht weiterzuhelfen. Offensichtlich steht das biologische "Substrat" der Zelle und/oder ihres genetischen Kerns bereits in einem derartigen Ausmaß zur Disposition, dass es unmöglich geworden ist, den grundrechtlichen Schutz der Menschenwürde einem Rechtssubjekt zuzuordnen, das durch schlichte Nominaldefinitionen als "menschlicher Embryo" klar definiert wäre. Vielmehr müssen offensichtlich die jeweiligen Handlungsabläufe und -zusammenhänge erfasst werden und in ihrer immanenten - sei es therapeutischen, sei es reproduktiven - Sinnrichtung (Entelechie) beurteilt werden. An diesem Punkt zeigt sich bei genauerem Hinsehen ein noch kaum wirklich ernsthaft diskutiertes Szenario, das ich wenigstens grob skizzieren möchte, weil ich es im Blick auf ein ethisches Urteil für ausschlaggebend halte.
Abgesehen von der Senkung der Hemmschwelle zur "Verwerfung" und zur international geächteten "Keimbahntherapie" durch die PID, überschreitet diese meines Erachtens eine Systemgrenze. Die Medizin behandelt erstmalig - etwas plakativ formuliert - einen individuellen Patienten ohne Körper, ist doch mit bloßem Auge von ihm nichts zu sehen! Unstrittig ist, dass die PID geleitet ist von dem Wunsch, einer Mutter zur Geburt eines gesunden, eigenen Kindes zu verhelfen. Wer wollte diesen Wunsch der Befürworter der PID nicht teilen? Hatte die IVF aber noch die Mutter als therapeutisches Objekt - die Eizelle verlässt nur für kurze Zeit den mütterlichen Leib, um den Samen zu empfangen - so verweilt die PID nun bei der Zygote in vitro und begegnet ihr mit einer auf sie zugeschnittenen Diagnose und dem entsprechenden "Behandlungskonzept" der Implantation. Sicherlich bleibt die Mutter therapeutisches Objekt, die PID ist einerseits eine diagnostische Schleife im Rahmen einer medizinisch assistierten Zeugung, aber der Embryo tritt eben auch in denselben Status ein. Das Paar hat ja kein Fertilitätsproblem im klassischen Sinne: Kinder können sie bekommen, nur eben mit hohem erblichen Risiko. Die IVF ist eigentlich indiziert als Behandlung der Infertilität, die PID aber ist indiziert als Diagnose einer erblichen Krankheit. Unabhängig von der vorstehend diskutierten Frage, wie man das dabei erforderliche Embryosplitting beurteilt und welchen Status wir den verbleibenden und den dabei verbrauchten Zellen und Zellverbänden zusprechen, der Patient hat den bergenden Kontext eines menschlichen, nämlich des mütterlichen Leibes verlassen. Und einen eigenen wirklichen "Körper" hat er noch nicht, er ist zwar ein Organismus, aber wir haben noch nicht das, was wir einen "Leib" nennen könnten. Der mütterliche Leib brauchte den noch nicht selbständig lebensfähigen Embryo nicht zu bergen und aus sich heraus zu versorgen, wenn jener Organismus wie bei Fischen oder Amphibien auch außerhalb sein Biotop finden könnte.
Man muss sich das Szenario konsequent bis zu Ende vor Augen stellen: Es brauchten jetzt Embryologie, Fetologie und Neonatologie nur noch konsequent in der Entwicklung eines künstlichen Uterus aufeinander zuzuarbeiten, um die Entwicklung der Menschwerdung vollständig aus der natürlichen Abhängigkeit des weiblichen Körpers zu lösen! Die vielfältigen Risiken der Schwangerschaft nach IVF und PID durch "Verbesserungen" zu lösen, wird von den Befürwortern der PID ja in Aussicht gestellt. Die Richtlinien der BÄK scheinen diesen Systembruch sogar zu spüren, ohne dies jedoch offen auszusprechen. Es wird im Entwurf nicht vollständig klar, wer genau das therapeutische Objekt ist. Warum fehlt hier der Mut? Möglicherweise befürchtet man mit der Betonung der Mutter zu sehr in die symbolische Sphäre der Frau, der Mutter, der Natur und des Schicksals zu geraten. Mit Recht, denn genau um diese Sphäre geht es! Ärztliches Handeln kann und darf sich nicht - auch nicht mit einer zunehmend scholastisch anmutenden Embryologie - allein auf die symbolische Form der Wissenschaft beschränken. Der ärztliche Auftrag gehört ebenso sehr der Kunst, dem Mythos und der Religion an und verlöre ohne eine philosophische - speziell naturphilosophische und anthropologische Qualifizierung seine Einheit als Profession. Über Recht, Sinn und Perspektiven des mit der PID anstehenden System- oder Paradigmenwechsels muss deshalb ausführlich nachgedacht und diskutiert werden.
Ernst zu nehmen ist sicherlich zum einen das instrumentelle Verhältnis, das Eltern zu ihren Nachkommen einnehmen könnten, ermutigt durch das - fehlinterpretierte - Angebot von PD/PID. Und ernst zu nehmen ist ebenfalls die von medizinischen Genetikern - wenn auch aus ökonomischen Gründen noch verhalten - erhobene Forderung, den Indikationsrahmen auch der PD (!) für klar indizierte und deshalb relativ kleine Populationen nicht auf die gesamte Gesellschaft und die Regelvorsorge auszudehnen. Das gilt also keineswegs erst für die PID! Da nämlich auch die PD nur für eine eng begrenzte Gruppe von Fällen medizinisch indiziert ist, sollte sie aus der allgemeinen Schwangerenvorsorge so schnell wie möglich wieder herausgenommen werden. Angeblich gilt die Mehrzahl aller Schwangerschaften in Deutschland derzeit schon aus Altersgründen (über 30) als Risikoschwangerschaft und liefert damit den Anlass für eine PD.
Die PID aber überschreitet überdies als Diagnose am virtuellen Patienten und als kalte Abstraktion vom Mutterleib eine Systemgrenze in Richtung auf ein nicht mehr akzeptables Gefälle. Je weiter Embryonen aus der mütterlichen Sphäre und der elterlichen Sorge herausgehoben werden, desto stärker wird der Nachfragesog der Forschung sie erfassen. Zwar versuchen Forscher, die ethisch problematische Therapie mit embryonalen Zellen zu umgehen mit Stammzellen aus Organen. Dennoch bleiben vermutlich noch hinreichend Indikationen für eine fortschreitende - verbrauchende - Embryonenforschung, die ihrem Charakter als eine Form der Keimbahnforschung nie entrinnen kann.
Sollte die geltende Rechtslage also tatsächlich unklar sein, so wäre eine Novellierung des Embryonenschutzgesetzes tatsächlich fällig. Bisher fällt die PID in Deutschland unter das Verbot des Embryonenverbrauchs, weil ein Embryo hierzulande 14 Tage früher als Rechtsgenosse anerkannt wird als ein gleichaltriger in England und die isolierte embryonale Stammzelle für einen Embryo gehalten wird. Nun steht in Aussicht, dass die deutsche Gesetzgebung aufgrund neuer embryologischer Befunde der Stammzelle ihren Status nehmen wird, die PID wäre rechtlich erlaubt. In dem Maße, in dem der Status des Embryos national und international immer diffuser wird, ist deshalb vermutlich eine ergänzende Rechtsfigur anzulegen, die nicht nur den Status im engeren biologischen Sinne, sondern einen größeren Zusammenhang von Tat und Tatfolgen erfasst. Sollte dies in ein Verbot der PID münden, so will ich den Preis dieses Vorgehens nicht
verleugnen. Erstens blieben die Risikofamilien, die nicht auf erbliche Nachkommen verzichten wollen, weiter angewiesen auf die bisherige Praxis der Schwangerschaft auf Probe mit PD und andere Verfahren. Es ist dabei übrigens nicht sofort einsichtig, inwiefern die nach wie vor schwierige IVF mit PID schonender ist, wie oft behauptet wird.
Ferner drohten Verfahren, die aus dem Bereich eines geordneten Gesundheitssystems ausgeschlossen werden, in die private und illegale Praxis abzugleiten. Diesem Dilemma aber sind alle Prohibitionen ausgesetzt, deshalb sind sie maßvoll zu gestalten. Der Richtlinienentwurf der BÄK überträgt mit der anerkennenswerten Empfehlung einer engen Indikationsstellung die Verantwortung auf die Profession. Standespolitik und Gesetzgebung aber müssen sich Rechenschaft darüber ablegen, wie viel Komplexität in den Professionen insgesamt bewältigt werden kann. Jede Komplexitätsreduzierung schafft ihrerseits neue Komplexitäten, irgend jemand muss das Ganze ja nebenbei auch bezahlen! Deshalb muss - und wird (!) irgendwann Schluss sein und zwar meines Erachtens vor der PID, selbst dann, wenn sich für diese Grenzziehung embryologisch keine "harte" Zäsur finden lassen sollte.
Der Mensch wird mit auch noch so raffinierten Instrumenten dreierlei nicht entgehen, seiner Natur, dem Anderen und dem Tod! Beileibe nicht schicksals- oder gottergeben, wohl aber besonnen ist hier zu urteilen. Der Abstraktion menschlichen Lebens aus seiner "natürlichen" Umgebung hat die aus hebräischen und griechischen Wurzeln stammende abendländische Ethik zugestimmt, sie hat sie im Sinne der Aufklärung geradezu gefordert. Einer Abstraktion aus dem mütterlichen Schoß, geschweige denn einem fremdnützigen Verbrauch kann sie unmöglich zustimmen.