Zweierlei Linke an der Macht
Die politische Landkarte Lateinamerikas hat sich in den vergangenen Jahren erheblich verändert. In fast allen größeren Ländern des Kontinents kamen politische Akteure an die Macht, die gemäß ihrer Selbsteinschätzung, ideengeschichtlichen Wurzeln und der Vorgeschichte ihrer Parteien und Organisationen zur Linken zu rechnen sind.
Der Wandel begann im Jahr 1998 in Venezuela, wo Hugo Chávez, der Anführer eines wenige Jahre zuvor gescheiterten Militärputsches, zum Präsidenten gewählt wurde. Mittlerweile sitzen Chávez und seine Partner, die Mini-Linksparteien und kleinen radikalen Gruppen angehören, nach diversen weiteren Wahlsiegen so fest im Sattel, dass sie mit dem Aufbau eines „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ begonnen haben und mindestens bis 2020, wenn nicht gar bis 2031 an der Macht bleiben wollen.
In Brasilien, der aufstrebenden Großmacht, regiert seit 2003 Luiz Inácio „Lula“ da Silva, der als Arbeiter und linker Gewerkschaftsführer Streiks gegen die Militärregierung organisiert und später die linke Arbeiterpartei Partido dos Trabalhadores (PT) mitgegründet hatte. Im vergangenen Jahr wurde er mit über 60 Prozent der Stimmen im Amt bestätigt, und das trotz diverser Korruptionsskandale in seinem Kabinett und seiner Partei und obwohl ihm seine bürgerlichen Koalitionspartner nur einen beschränkten wirtschafts- und sozialpolitischen Handlungsspielraum gelassen hatten.
Auf dem Südkegel des Kontinents, in Argentinien, gelangte ebenfalls im Jahr 2003 der Linksperonist Nestor Kirchner an die Spitze des Staates. Ihm ist es mittlerweile gelungen, sein von Wirtschaftskrisen und politischer Instabilität durchgeschütteltes Land in ruhiges Fahrwasser zu steuern. Auf der gegenüberliegenden Seite des La Plata Flusses, in Uruguay, regiert seit März 2005 mit Tabaré Vázquez zum ersten Mal in 170 Jahren republikanischer Geschichte ein politischer Führer, der keiner der beiden Traditionsparteien angehört. Vázquez führte den Frente Amplio, eine breite Front linker Parteien und Organisationen, zu einem klaren Wahlsieg. Viele seiner Regierungsmitglieder waren während der Militärdiktatur der siebziger Jahre verfolgt oder ins Exil getrieben worden, einige waren in der Guerilla aktiv.
Chile war in den konservativen achtziger und neunziger Jahren eine Ausnahme in Lateinamerika, liegt heute aber genau im kontinentalen Trend. Im Jahr 1988 beendete ein Plebiszit die Diktatur des Generals Pinochet, seither verdankten alle Präsidenten ihren Wahlsieg der Concertación, einem Bündnis aus Sozialisten, Christdemokraten und radikaler Partei, das die Pinochet-freundliche Rechte bislang von der Macht fernhalten konnte. Im Jahr 2000 rückte die Regierung mit der Wahl Ricardo Lagos´ zum Staatsoberhaupt deutlich nach links. Und seit Anfang 2006 regiert in dem südlichen Andenstaat mit der Sozialistin Michelle Bachelet erstmals eine Frau. Sie ist die Tochter eines Luftwaffengenerals, der von der Pinochet-Diktatur zu Tode gefoltert wurde, und erlitt auch selbst Verfolgung und Folter.
Fast zeitgleich mit Michelle Bachelet übernahm im Nachbarstaat Bolivien der ehemalige Cocapflanzer und Bauernführer Evo Morales das Präsidentenamt. Nach einer langen Phase schwerer wirtschaftlicher und politischer Krisen hatte seine Partei Movimiento al Socialismo (MAS), zu Deutsch „Bewegung zum Sozialismus“, ein Dachverband linker Organisationen und Initiativen, die Wahlen im Dezember 2005 klar gewonnen. Im Nachbarstaat Peru besiegte Alan Garcia – der Kandidat der Mitte-Links-Partei APRA, die Mitglied der Sozialistischen Internationale ist – mit Unterstützung der Parteien der Mitte und der Rechten den radikalen Linksnationalisten, Antipolitiker und Ex-Offizier Ollanta Humala.
In einem weiteren Andenstaat, in Ecuador, macht Rafael Correa, der sich selbst als christlicher Linker präsentiert, seit einigen Monaten mit seiner Bürgerrevolution gegen den Neoliberalismus ernst, und zwar viel kompromissloser als Gegner und Anhänger erwartet hatten. Als vorerst letzten Staat erfasste der kontinentale Linkstrend den zentralamerikanischen Kleinstaat Nicaragua. Dort waren die linken Sandinisten im Jahr 1990 abgewählt worden, elf Jahre nachdem ihre bewaffnete Widerstandsbewegung das Land von der Diktatur des Somoza-Clans befreit hatte. Mit Daniel Ortega zog Anfang dieses Jahres just jener Führer der zur Partei transformierten sandinistischen Bewegung in das Präsidialamt ein, der als Mitglied der Regierungsjunta und danach als gewählter Präsident einen wesentlichen Einfluss auf die Geschicke des Landes gehabt hatte.
Unter den größeren Staaten des Kontinents sind damit nur noch Kolumbien und Mexiko fest in der Hand der Konservativen. In Mexiko allerdings sind Verschiebungen bei den politischen Präferenzen unübersehbar. Der linke Hauptstadtbürgermeister Andrés Manuel López Obrador und seine Partei der Demokratischen Revolution verfehlten im Jahr 2006 den Wahlsieg um wenige Zehntelprozent.
Seit dem Zweiten Weltkrieg haben drei politische Projekte die politische Entwicklung in Lateinamerika maßgeblich bestimmt. Zunächst dominierte ein Projekt der Modernisierung des abhängigen Kapitalismus, das von Parteien der Mitte und der Rechten vorangetrieben wurde. Die Militärregime seit den sechziger Jahren markieren den Beginn eines Richtungswechsels zu einer neoliberalen sozio-ökonomischen Restrukturierung des Kontinents. Nach dem Rückzug der Militärs in die Kasernen hatten auch bei diesem Projekt die Parteien der Mitte und der Rechten die Federführung. Ein drittes politisches Projekt war bereits in den sechziger und siebziger Jahren überall gescheitert: der sozialistische Totalumbau von Ökonomie und Gesellschaft.
Das Modell der nach innen gerichteten Entwicklung
In den fünfziger und sechziger Jahren setzte die Mehrzahl der Staaten in Lateinamerika auf ein Modell nach innen gerichteter Entwicklung, das auf die Substitution von Importen durch Eigenproduktion abzielte. Dadurch sollten aus Ländern, die bis dahin lediglich unverarbeitete Rohstoffe exportierten, mittelfristig konkurrenzfähige Industrieökonomien werden. Gesteuert wurde dieser Umbau von einem starken, ebenso dirigistischen wie protektionistischen Entwicklungsstaat. Die regierenden Parteien, zumeist Parteien des Zentrums oder der Rechten, versuchten sich politisch durch Klientelbildung und partikularistische Verteilungskoalitionen abzusichern. Ihr Integrationsversprechen gegenüber den in die Städte strebenden ländlichen Massen konnten sie allerdings nicht einhalten. Die Armen blieben nicht nur von der formellen Ökonomie, sondern auch von staatlicher Fürsorge und sozialer Teilhabe ausgeschlossen und bildeten eine wachsende Bevölkerungsgruppe, nicht am Rande, sondern mitten in der lateinamerikanischen Gesellschaft.
In den sechziger und siebziger Jahren geriet das Modell der nach innen gerichteten Entwicklung in immer mehr Ländern in ökonomische Turbulenzen. Die wachsende Intensität der sozialen Konflikte zeigte, dass es seine Grenze erreicht hatte. Fast überall in Latein- und Mittelamerika putschten sich rechte Militärs an die Macht, deren Modernisierungs- und Liberalisierungsagenda bei der regionalen Führungsmacht USA auf großes Wohlwollen stieß. Denn die Offiziere sorgten für „Ordnung“, indem sie die Protestbewegungen neutralisierten und die linken Gewerkschaften und Parteien zurückdrängten. Diese galten nach dem Sieg der kubanischen Revolution als Gefahr für die traditionellen Machtgruppen und damit für die Kontrolle der Vereinigten Staaten über ihren „Hinterhof“.
In den achtziger Jahren mussten die Militärs abdanken; sie hatten ihre hochgesteckten Entwicklungsziele nicht erreicht, und es war ihnen nicht gelungen, ihren Griff nach der Macht zu legitimieren. Die Welle der Redemokratisierung erfasste nach und nach den gesamten Kontinent. Die neuen Demokratien bekamen es allerdings mit Problemen unbekannter Größenordnung und nie gekannter Intensität zu tun. Schuldenkrise, Hyperinflation und drohender Staatsbankrott drängten geschwächte Staaten mit orientierungslosen Regierungen zur Implementierung neoliberaler Sanierungspolitiken nach den Rezepten des so genannten „Washington Consensus“ und unter Anleitung des Internationalen Währungsfonds.
Die achtziger Jahre gingen als „verlorenes Jahrzehnt“ in die Geschichtsbücher ein, und die neunziger Jahre als „halbes verlorenes Jahrzehnt“, so die UNO-Wirtschaftskommission für Lateinamerika (CEPAL). Denn die Neoliberalisierung des Kontinents, seine aggressive Integration in den Weltmarkt und seine nicht abgefederte Ankopplung an Globalisierungstrends bewirkten aus heutiger Sicht für die Unter- und Mittelschichten eine Katastrophe. Armut und Exklusion wurden nicht abgebaut, sondern nahmen aufgrund der Informalisierung und Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen noch zu.
Versprochen hatten die Liberalisierer dagegen, die konsequente Verwirklichung des liberalen Credos werde geradewegs zu Wohlstand für alle führen. Dass dieses Prosperitäts- und Inklusionsversprechen nicht eingelöst wurde, blieb für die politischen Protagonisten nicht folgenlos. Politik- und Parteienverdrossenheit griffen um sich, die traditionellen Parteien verloren ihre Bindewirkung und ihren Anhang, und in der Öffentlichkeit breitete sich ein demokratieskeptisches, tendenziell antipolitisches Politikverständnis aus. Dies nicht zuletzt auch, weil fragwürdige Rechtspopulisten und politische Abenteurer mit oder ohne Parteiticket vielerorts mit vollmundigen Versprechungen Wahlen gewannen, aber, einmal an der Macht, die soziale Frage schlicht ignorierten. Sie etablierten hybride Regierungsformen, die der argentinische Sozialwissenschaftler Guillermo O’Donnell zum Typus der „delegativen Demokratie“ verdichtet hat.
In delegativen Demokratien regiert der Gewinner von – in der Regel kompetitiven – Wahlen nach Gutdünken, ohne sich um Wahlversprechen oder Regierungsprogramme zu kümmern, eingeschränkt lediglich durch die realen (nicht-institutionalisierten) Machtverhältnisse. Delegative Regime stützen sich auf Bewegungen und Gefolgschaften und präsentieren sich als überparteiliche Verkörperung der Interessen der Nation, mit der Mission, diese zu „heilen“ und zu „retten“. Sie tendieren dazu, direkt an „das Volk“ zu appellieren und sich über organisierte Interessen sowie Institutionen hinwegzusetzen und gegenüber niemandem Rechenschaft abzulegen. Aufgrund der dadurch provozierten Konfrontationen und Konflikte sind sie gleichsam gezwungen, Regeln zu verletzen, die Gegengewichte und Kontrollinstanzen der Demokratie zu umgehen, zu ignorieren oder Institutionen zu korrumpieren. Anders gesagt: Delegative Regime zielen auf die Neutralisierung oder Zerstörung jenes Netzwerkes, das das Ergebnis eines langwierigen Prozesses der Institutionenbildung ist und die „horizontale Verantwortlichkeit“ der Exekutive gewährleistet.
Korruption als konstitutives Systemelement
Ein weiterer Grund für die zunehmende Politikverdrossenheit war, dass in den achtziger und neunziger Jahren Korruption in vielen Ländern fast schon zu einem konstitutiven Systemelement wurde. Gleichwohl gab es Skandale, und es wurden Konsequenzen gezogen – ein Indiz für die Konsolidierung des Institutionensystems in der Post-Diktatur-Phase. Hier eine kleine Auswahl besonders spektakulärer Fälle: Der brasilianische Präsident Collor de Melo wurde im Jahr 1992 nach einem Impeachmentverfahren wegen Korruption aus dem Amt entfernt. Ein Jahr später ereilte den venezolanischen Präsidenten Carlos Andrés Perez das gleiche Schicksal. Der ecuadorianische Präsident Bucaram wurde im Jahr 1997 wegen „Unzurechnungsfähigkeit“ vom Parlament abgesetzt und floh außer Landes. In Argentinien landete der Peronist Carlos Menem, der sich während seiner zehnjährigen Präsidentschaft als radikalliberaler Reformer profiliert hatte, wegen regierungsamtlicher Waffenschiebereien im Gefängnis. In Mexiko entging Carlos Salinas, der während seiner Präsidentschaft die Liberalisierung der mexikanischen Ökonomie und den Beitritt zur nordamerikanischen Freihandelszone (NAFTA) vorangetrieben hatte, Menems Schicksal nur, indem er freiwillig ins Exil ging. Ein weiterer Verfechter neoliberaler Reformen, der peruanische Präsident Fujimori, floh im Jahr 2000, seinem zehnten Amtsjahr, nach Japan, als sein Netzwerk aus Korruption und Erpressung aufzufliegen drohte, mit dem er das Land gesteuert hatte. Das neoliberale Modell war also nicht bloß sozialpolitisch erfolglos, Galionsfiguren wie Fujimori, Menem und Konsorten haben auch ganz persönlich dazu beigetragen, es zu diskreditieren.
An den einschneidenden wirtschaftlichen Sanierungsmaßnahmen der achtziger und neunziger Jahre war die Linke nicht beteiligt. Federführend waren Parteien des Zentrums, der Rechten oder Rechtspopulisten. Fern der Macht durchlief die Linke derweil einen schmerzhaften Prozess der Selbstfindung. Schließlich war ihr politisches Projekt, die Einführung des Sozialismus samt Veränderung der Eigentumsordnung und Transformation des politischen Systems, bereits in den sechziger und siebziger Jahren überall gescheitert. An den Wahlurnen hatten kommunistische und sozialistische Organisationen mit ihren Programmen nirgends eine Chance. Nur in Chile kam die Volksfront (Unidad Popular) mit einem gemäßigt sozialistischen Programm an die Regierung. Nach drei Jahren beendeten die Streitkräfte 1973 das Experiment mit einem blutigen Putsch. Und von den zahlreichen Versuchen, mithilfe bewaffneter Aufstandsbewegungen ein ganz anderes Entwicklungs- und Gesellschaftsmodell durchzusetzen, war allein die kubanische Revolution im Jahr 1959 erfolgreich.
„Ich muss in alle Richtungen gehen, wie eine Wetterfahne“
Die chilenische Volksfront und die kubanische Revolution sind auf der politischen Rechts-Links-Achse problemlos zu verorten. Bei einer Reihe von politischen Entwicklungen, die von Massenbewegungen geprägt waren und zu größeren Umwälzungen führten, ist die Einordnung umstritten – nicht zuletzt, weil die sozialistische Linke daran nicht nur unbeteiligt war, sondern ihnen distanziert oder feindlich gegenüberstand. Dazu gehören die mexikanische Revolution zwischen 1910 und 1929, die bolivianische Revolution von 1952 sowie diverse populistisch-nationalistische Episoden. Emblematisch waren der „Estado Novo“ von Getulio Vargas und die populistischen Regime der Präsidenten Quadros und Gulart in Brasilien von den Dreißigern bis in die sechziger Jahre sowie der „Perónismo“ des Juan Domingo Perón im Argentinien der fünfziger Jahre. Perón wird folgende Äußerung zugeschrieben: „Man muss seine Pläne mehrmals am Tag ändern ... Das sozialistische Vaterland? Ich habe es erfunden. Das konservative Vaterland? Ich erhalte es am Leben. Ich muss in alle Richtungen gehen, wie eine Wetterfahne.“
Die Militärregime machten ab den sechziger Jahren die Niederlage der Linken komplett. Deren Strukturen und Organisationen wurden zerschlagen, ihre Kader verfolgt, und viele mussten ins Ausland fliehen. Das Exil beschleunigte und intensivierte den komplizierten Reorientierungs- und Regruppierungsprozess. Doch erst nach dem Fall des Eisernen Vorhangs im Jahr 1989 und der Wahlniederlage der Sandinisten in Nicaragua 1990 zeichnete sich allmählich ein neues politisches Angebot ab.
Während sich die Linke in einigen Ländern wie Argentinien und Peru von ihren Niederlagen nie erholte und politisch marginalisiert blieb, entstand in anderen Ländern eine dynamische Neue Linke. Deren Bild bestimmen die brasilianische Arbeiterpartei PT, die chilenischen Sozialisten der Concertación, die Frente Amplio in Uruguay und die mexikanische PRD. Die sozialistische Utopie hat die Waffen endgültig niedergelegt. (Eines der grundlegenden Bücher über die lateinamerikanische Linke heißt „Die entwaffnete Utopie“ und stammt von dem mexikanischen Politologen und Ex-Außenminister Carlos Castaneda.) Sie gab alle leninistischen Absolutheitsansprüche auf, integrierte eine Vielzahl von Strömungen von linksaußen bis zum Zentrum und stellte sich auf dem politischen Markt dem Wettbewerb mit anderen politischen Angeboten. Ihre Programme zielen auf die Durchsetzung von mehr Partizipation sowie auf bessere wirtschafts- und verteilungspolitische Resultate – ohne grundlegende Veränderung der institutionellen Struktur der Gesellschaft.
Der komparative Vorteil der Neuen Linken gegenüber allen anderen politischen Kräften ist ihre Basisorientierung. Sie ist in sozialen Bewegungen und in den Gewerkschaften verankert. In den neunziger Jahren hat sie in Gemeinden, Regionen und Bundesstaaten ihre Regierungsfähigkeit bewiesen. Da sie an der Durchsetzung der Strukturanpassungsprogramme und Liberalisierungspakete nicht beteiligt war, bekam sie die Politik- und Parteienverdrossenheit weniger zu spüren als deren Verfechter und konnte sich glaubhaft als neue und unverbrauchte Kraft präsentieren. Und weil sie nicht in die Korruptionsnetze und Skandale verstrickt war, die in den neunziger Jahren wachsende politische Sprengkraft entfalteten, verkörperte sie glaubhaft eine moralische Reserve.
„Geerdete“ linke und radikalpopulistische Regierungen
Die Neue Linke ist das Ergebnis eines längeren historischen Lernprozesses, bei dem jede Neigung zum Sektierertum überwunden wurde. Der PT in Brasilien, der Frente Amplio und die Concertación haben eine erstaunliche soziale Integrationsfähigkeit bewiesen, indem sie Dutzende von Strömungen, Bewegungen und Organisationen vereinigten und das Kunststück fertigbrachten, die innerorganisatorischen Entscheidungsprozesse trotzdem nicht lahmzulegen. So beteiligten sich an den internen Wahlen des Frente Amplio 18 Listen, die knapp 40 Organisationen repräsentierten. Am wichtigsten ist indes, dass die Neue Linke am Universalismus der alten anknüpft. Die meisten lateinamerikanischen Parteien waren nie mehr als Koalitionen von Gruppen- und Partialinteressen, blieben oft ideologiefrei und programmunfähig und schafften es in der Regel nicht, die Probleme ihrer Länder, nationale und internationale Entwicklungen sowie die Interessen ihrer Anhängerschaft zu konsistenten politischen Projekten zu verarbeiten. Die Linke dagegen dachte nie in partikularistischen Kategorien; der Sozialismus war immer ein politisches Projekt für die gesamte Nation. Das zentrale Ziel des politischen Projekts der Neuen Linken ist heute allerdings nicht mehr der Sozialismus, sondern die Überwindung von Armut und Exklusion.
Der historische Prozess der Erschöpfung der politischen Optionen und der Entstehung einer Neuen Linken ist in den meisten Ländern Lateinamerikas in den Grundzügen ähnlich verlaufen. Doch grob vereinfachend lassen sich in dem breiten Feld linker Regierungen zwei Typen unterscheiden: Beim ersten Typus sind die Organisationen, die die Regierung tragen, in einem historischen Lernprozess gereift. Sie konkurrieren seit längerem demokratisch um die Macht, und ihre organisatorische Struktur ist in sozialen Auseinandersetzungen mit Bezug zu sozialen Bewegungen und Basisorganisationen gewachsen. Diese Organisationen, für die prototypisch der brasilianische PT steht, sind in ihren Gesellschaften basisdemokratisch „geerdet“. Außer in Brasilien dominiert diese pragmatisch-sozialdemokratische Linke auch in Chile und Uruguay sowie mit Abstrichen in Argentinien und Mexiko.
Zum zweiten Typus gehören jene Regierungen, denen die Macht während eines Konflikts oder einer Krise gleichsam in den Schoß gefallen ist. Bei diesen Regierungen spielen charismatische Führerpersönlichkeiten eine zentrale Rolle, durch den nachträglichen Aufbau von Unterstützerorganisationen von oben haben sie versucht, sich in der Gesellschaft zu „erden“. Das bedeutet nicht, dass diese radikalen linkspopulistischen Regierungen, die von europäischen Globalisierungskritikern gefeiert werden und für die paradigmatisch die venezolanische steht, nicht über eine große Mobilisierungsfähigkeit verfügen. Doch ihr Problem besteht darin, rechtzeitig die Welle sozialer Bewegungen zu kanalisieren, auf der sie reiten, um von ihr nicht weggeschwemmt zu werden. So hat die Regierung des bolivianischen Präsidenten Evo Morales mit etlichen Basis- und Protestbewegungen zu kämpfen, die nicht bereit sind, Forderungen zurückzustellen, nur weil nun „einer von ihnen“ an der Macht ist.
Ein weiterer Unterschied zwischen den Angehörigen des gemäßigten und des radikalpopulistischen Lagers lässt sich am Verhältnis zur Demokratie festmachen. Die gemäßigten Kräfte tragen die Demokratie mit, haben aber die Ausweitung bürgergesellschaftlicher Partizipationsmöglichkeiten auf ihre Fahnen geschrieben. Die Radikalpopulisten dagegen haben ein taktisches Verhältnis zur Demokratie und nutzen Mehrheiten und Wahlsiege zum Abbau von checks and balances und zum Ausbau exklusiver Machtpositionen. Sozialen Bewegungen und Basisorganisationen drohen die Vereinnahmung und der Verlust ihrer Unabhängigkeit, besonders wenn sie sich nicht den Vorgaben der Führung unterordnen.
Zwei gegensätzliche Wege in der Außenpolitik
Auch in der Außenpolitik gehen beide Lager verschiedene Wege. Brasilien, eines der wichtigsten Agrarexportländer der Welt, versucht in der Liga der Großmächte mitzuspielen und führt mit anderen „emerging powers“ die Gruppe der 20 (G20) an. Im Jahr 2003 brachte die G20 die fünfte Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation (WTO) in Cancun zum Scheitern, weil der reiche Norden nicht zum Abbau seiner Agrarsubventionen bereit war. Mittelfristig zielt die brasilianische Strategie darauf ab, den Industrieländern in Verhandlungen Konzessionen abzuringen. Der Umgang mit Europa und den Vereinigten Staaten ist konziliant, und das Land schreckt – etwa bei der Ethanolproduktion – auch nicht vor gemeinsamen Projekten mit der Regierung Bush zurück.
Venezuela dagegen versucht die Kräfte der Radikalen des Kontinents zu bündeln. Seine wichtigsten Bündnispartner sind Kuba und Bolivien, zu denen sich derzeit auch Ecuador und Nicaragua gesellen. Sein verbalradikaler Antiamerikanismus hat den venezolanischen Präsidenten Chávez auf dem gesamten Kontinent populär gemacht, denn die meisten Lateinamerikaner verbindet mit dem großen Nachbarn im Norden eine Art Hassliebe. Noch populärer macht Chávez vielerorts aber, dass dem Herrn über die sechstgrößten Erdölreserven der Welt das Scheckbuch locker sitzt. Er unterstützt eine Vielzahl von Staaten mit billigem Öl auf Kredit, hat durch Übernahme eines Teils der argentinischen Auslandsverbindlichkeiten seinen Kollegen Kirchner von lästigen Einmischungen des Internationalen Währungsfonds befreit und treibt das Projekt einer lateinamerikanischen Entwicklungsbank ohne Einmischung des Nordens voran, an dem sich unter anderem auch Brasilien und Argentinien beteiligen.
Wenn es hart auf hart kommt, wissen beide Lager, dass sie gemeinsam stärker sind als allein. Dies zeigte sich, als eine breite lateinamerikanische Staatenfront das US-Projekt einer Freihandelszone von Feuerland bis Alaska stoppte, das eine Öffnung der Märkte zu nordamerikanischen Konditionen vorsah. Auch sind sich beide Gruppen bewusst, dass sie ihre internationale Position verbessern, wenn sie die Integration des Kontinents vorantreiben. Die Gemeinschaftsprojekte vor allem im Energiesektor, darunter eine 7.000 Kilometer lange Erdölpipeline, befinden sich allerdings noch im Planungsstadium.
Bei der letzten Umfrage des Latinobarómetro (20.000 Befragte in 18 Ländern) sollten sich die Lateinamerikaner auf einer Links-Rechts-Achse des politischen Spektrums verorten, wobei „10“ für rechts außen und „0“ für links außen stand. Der lateinamerikanische Durchschnitt lag mit 5,4 leicht rechts von der Mitte, und viele Länder kamen auf einen mittleren Wert: In Uruguay lag der Durchschnitt bei 4,7, in Bolivien bei 4,8, in Chile bei 4,9, in Argentinien bei 5,3 und in Mexiko und Venezuela jeweils bei 5,6. Die linken Regierungen sind also auf die Unterstützung der politischen Mitte angewiesen.
Unter dem Druck der Unterschichten
Unter hohem Erwartungsdruck stehen die linken Regierungen aber vor allem wegen der Unterschichten. Diese erwarten, wenn schon nicht die Einlösung des großen Versprechens der Überwindung von Armut und Exklusion, so doch spürbare Fortschritte. Und sie haben einen erheblichen Nachholbedarf. In absoluten Zahlen gab es in der Region noch nie so viele Arme wie heute. Der Mehrzahl der Menschen, die arbeiten wollen und arbeiten müssen, bleibt nur die „Selbstbeschäftigung“ im informellen Sektor, und dort erzielen sie zumeist nur marginale Einkommen. Gleichzeitig schreitet die Informalisierung und Prekarisierung formeller Arbeitsverhältnisse weiter voran. Von den 223 Millionen Menschen, die zur Erwerbsbevölkerung gerechnet werden, sind rund 20 Millionen arbeitslos. Und je nach Land arbeiten zwischen 40 und 60 Prozent ohne jede soziale und rechtliche Absicherung außerhalb der formellen Ökonomie. Hinzu kommt, dass die Einkommenskonzentration seit den achtziger und neunziger Jahren dramatisch zugenommen hat. Am Wirtschaftswachstum partizipieren nur kleine Gruppen. Gleichzeitig müssen 170 von 500 Millionen Lateinamerikanern mit weniger als zwei Dollar pro Tag auskommen, 220 Millionen leben unterhalb der Armutsgrenze. Nach wie vor ist Lateinamerika der Kontinent mit den weltweit stärksten Disparitäten bei der Einkommensverteilung.
Keine Demokratie hält eine derartige Polarisierung auf die Dauer aus. Und kein Volk verzeiht auf die Dauer das uneingelöste Versprechen ihrer Überwindung. Aber die Polarisierung hat seit einem halben Jahrhundert immer stärker zugenommen. Ursachen sind die Auflösung der traditionellen Lebens- und Produktionsverhältnisse, die Landflucht und die Urbanisierung. Doch auch wenn den Ausgeschlossenen nach wie vor die wirtschaftliche und soziale Integration verweigert wird, hat ihre politische Integration erhebliche Fortschritte gemacht. Längst ist die Marginalbevölkerung der Städte ein wahlentscheidender Faktor. Und längst sind die Menschen aus den Randvierteln nicht mehr bereit, Politikern unbegrenzt Kredit zu geben. Die linken Regierungen sind deshalb zum baldigen Erfolg verdammt. Sie benötigen dringend Fortschritte bei der Bekämpfung von Armut und Exklusion. Erreicht wurde bislang allerdings wenig, obwohl Lula in Brasilien seit fast fünf Jahren regiert und Chávez in Venezuela enorme Öleinnahmen und fast zehn Jahre Zeit hatte. Allein Chile ist dem Ziel der Reduzierung von Armut und Verteilungsungerechtigkeit mithilfe einer langfristig angelegten und fokussierten Sozialpolitik ein Stück näher gekommen.
Die Rahmenbedingungen für Fortschritte sind derzeit denkbar günstig, denn Lateinamerikas Wirtschaft wächst kräftig und dies im fünften Jahr in Folge. Durch Trickle-down-Effekte begann sogar die Armut zurückzugehen – sehr allmählich und langsam. So etwas gab es in Lateinamerika seit mehreren Jahrzehnten nicht mehr. Allerdings ist diese positive Entwicklung nicht das Verdienst der Politik, bislang sind es ausschließlich externe Faktoren, die den Wachstumsschub bewirken: die hohe Rohstoffnachfrage aus China und den Vereinigten Staaten, hohe Rohstoffpreise, niedrige internationale Zinsen, die die Last des Schuldendienstes reduzieren und Überweisungen der Auslandslatinos in Rekordhöhe.
Die günstige Konjunktur ist eine historische Chance, um die Voraussetzungen für einen Entwicklungssprung zu schaffen. Doch dafür ist nicht nur Wachstum mit sozialen Umverteilungswirkungen nötig. Geschaffen werden müssen auch vernetzte produktive und technologiebasierte Wirtschaftskreisläufe sowie ein Umfeld hoher „Fertilität“ mit niedrigen Transaktionskosten für die Unternehmen, das für einheimische Investoren (zum Beispiel Fluchtkapital) und ausländisches Kapital attraktiv ist.
Die Erwartungen steigen
Bislang haben die linken Regierungen wenig dafür getan, um eine solche Umstrukturierung auf den Weg zu bringen. Doch auf der anderen Seite haben sie auch wenig getan, was die makroökonomische Stabilität gefährden könnte. Die Inflationsraten sind gering, die Staatsdefizite blieben niedrig. Alle linken Regierungen haben die Rolle des Staates gestärkt, aber, mit Ausnahme von Venezuela und Bolivien, keine Verstaatlichungen vorgenommen. Sie setzen Instrumente einer gemäßigt links-keynesianischen Wirtschaftspolitik ein. Dabei folgen sie der Einsicht, dass kapitalistische Marktwirtschaften nicht dauerhaft funktionsfähig sind ohne bestimmte sozialstaatliche Leistungen und ein Mindestmaß an Regulierungen, die Arbeitskraft und natürliche Ressourcen schützen und die Macht des Geldes beschränken. Regierungen, die solche Positionen vertreten, obendrein partizipationsorientiert sind, die Gleichstellung der Geschlechter vorantreiben, die Menschenrechte verteidigen und soziale Sensibilität beweisen, hat es in den letzten Jahrzehnten in Lateinamerika nicht gegeben. Doch die Menschen erwarten mehr. Als Beweis dafür, dass an der Überwindung von Armut und Exklusion ernsthaft gearbeitet wird, wollen sie greifbare Ergebnisse. Und nach fünf Jahren Wachstum gibt es bereits eine ganze Generation, die bewusst nichts anderes erlebt hat als den Aufschwung und Demokratie. Die Erwartungen steigen.