Zweite Chance für die Türkei?
Am 1. November wird die Türkei nach der Ankündigung von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan ein neues Parlament wählen. Alle Gespräche zwischen der bisher regierenden AKP und der kemalistischen Oppositionspartei CHP über eine große Koalition sowie die Gespräche der AKP mit der nationalistischen MHP über eine Minderheitsregierung sind gescheitert. Eine große Koalition hätte wohl am ehesten dem Wählervotum entsprochen. Doch auch wenn sich die Türken mit über 85 Prozent an der Wahl im Juni beteiligt haben, kennt die Demokratie im Land bislang keine Gewinner. Der Kurs der türkischen Lira ging seit der Wahl in den Keller und die starke Polarisierung der Gesellschaft nimmt nach den Ausschreitungen im Kurdenkonflikt weiter zu. Die Neuwahlen werden von zunehmender Gewalt, von neuen Anschlägen und einem wieder aufgeflammten Terrorismus im alten Kurdenkonflikt überschattet.
Der neue politische Star hieß Demirtas
Zunächst ein Blick zurück: Am 7. Juni 2015 hatte die AKP eine herbe Niederlage einstecken müssen. Obwohl sie mit 41 Prozent der abgegebenen Stimmen stärkste Partei blieb, war am Wahlabend ein anderer der Star: Selahattin Demirtas, der Führer der kurdischen HDP. Ihm hatten selbst Anhänger der CHP, die mit 25 Prozent stärkste Oppositionspartei blieb, ihre Stimme gegeben. Denn er trat nicht nur als Verkörperung einer neuen Generation im Friedensprozess mit der kurdischen Bevölkerung auf, sondern auch als Gegenentwurf zu Präsident Erdogan: bescheiden, nachdenklich, modern. Die kurdische HDP zog zum ersten Mal als Partei in das türkische Parlament ein, indem sie die hohe 10 Prozent-Hürde übersprang.
Für Erdogan, der den Friedensprozess mit den Kurden einst selbst begonnen hatte, war dies ein Schock. Noch zehn Monate zuvor war er im ersten Wahlgang mit absoluter Mehrheit zum Präsidenten gewählt worden. Seine AKP, die seit 2002 allein regiert, hatte nie gelernt, die Macht zu teilen. So gingen weite Teile der Partei bis zuletzt von einem erneuten Wahlerfolg aus. Erdogan sah sich sogar auf dem Weg, durch eine verfassungsändernde Parlamentsmehrheit die Macht noch weiter auf sich konzentrieren zu können. Denn obwohl sich die CHP als größte Oppositionspartei in Fragen der Wirtschafts- und Sozialpolitik neu aufgestellt hatte und ihre Kandidaten basisdemokratisch bestimmen ließ, erreichte sie doch nur ihre Kernwählerschaft. Millionen Türken blieben der AKP treu und sahen sie weiterhin als Garant für wirtschaftlichen Aufschwung und die Hinwendung des Staates zur religiös-islamischen Bevölkerung, was für viele muslimische Familien die ersehnte Akzeptanz und Teilhabe in einem laizistischen Land bedeutet. Erdogan symbolisierte das im Wahlkampf selbst für manch gläubigen Muslim zu deutlich, etwa indem er einen Koran handschriftlich signierte.
Umso überraschender war das Ergebnis für den Präsidenten. Er mied nach der Wahl sogar für einige Tage die Öffentlichkeit – ein für seine Verhältnisse spektakulärer Vorgang, der im Internet sogleich seinen ironischen Niederschlag fand: Eine Uhr zählte dort die Zeit von Erdogans öffentlicher Abwesenheit. Noch im Wahlkampf war er täglich zu sehen gewesen, obwohl die Verfassung dem Präsidentenamt Neutralität vorschreibt. Er hielt Reden und trat mit Vorliebe bei der Einweihung öffentlicher Einrichtungen und Projekte auf. Seinen Konkurrenten Demirtas verleitete dies zu dem Witz, sollte noch irgendjemand im Land eine Flasche Wasser öffnen wollen, könne er doch den Präsidenten einladen, dieser würde das sicher gern übernehmen. Demirtas’ gelassener, humorvoller Umgang mit politischen Angriffen gegenüber seiner Partei und Person kam vor allem unter der jungen, der säkularen und der kurdischen Bevölkerung gut an.
Wieder dreht sich die Spirale der Gewalt
Doch nicht nur der Charme des als „türkischen Obama“ gepriesenen Kandidaten Demirtas, sondern auch das Unbehagen weiter Teile der Bevölkerung gegenüber einem zunehmend autoritär auftretenden Präsidenten und einer von ihm angestrebten Verfassungsänderung führten schließlich zu ihrem vorläufigen Ende. Denn nun wollte mit Erdogan ausgerechnet jener zum ersten Präsident einer neuen türkischen Präsidialdemokratie werden, der seinen Präsidentenpalast mit mehr als tausend Zimmern gegen das Urteil des Verfassungsgerichtes auf einem Naturschutzgebiet baute. Jener Politiker, der soziale Netzwerke im Internet abschalten ließ, Journalisten einschüchterte, wenn sie zu kritisch berichteten. Jener selbstbewusste Sohn eines Fischers, der sich mit Instinkt und Machtbewusstsein aus armen Verhältnissen bis an die Spitze seines Landes empor gearbeitet hat. Jener Mann, dem alle Türken verbunden sind – teils in tiefer Verehrung, teils in tiefer Verachtung.
Nun hat Erdogan die zweite Chance, die er sich vor allem selbst gegeben hat. Noch hat er nicht Abstand genommen von seinen Plänen, ein Präsidialsystem zu errichten, das ihn zum Super-Präsidenten machen würde, sondern spricht abermals von 550 Abgeordneten, die die AKP brauche, um ihre Ziele durchzusetzen. Die AKP wiederum scheint sich nicht von ihrem Gründer lösen zu wollen, um neuen Zeiten mit neuen Kräften entgegenzugehen. Stattdessen setzt die Partei darauf, dass Erdogan sein Ziel einer absoluten Mehrheit im Parlament im zweiten Anlauf erreicht. Ob die Türken jedoch am 1. November ihr Votum ändern, bleibt abzuwarten. Sollten sie das Wahlergebnis vom Juni bestätigen, scheint eine Koalition unausweichlich. Die möglichen Partner werden dann die gleichen sein, ihre Position bei abermaligen Verhandlungen aber stärker.
Bis zum 1. November bleiben zwar nur wenige Wochen,doch noch ist es ein langer Weg. War das Verhältnis der Türkei zu den Kurden seit dem Kampf um Kobane angespannt, so hat es sich mit den Anschlägen seit der Wahl aufgeheizt. Mittlerweile macht die Dynamik der wiederkehrenden Angriffe mit tausenden Verletzten und Toten den Ausgang des Konflikts unvorhersehbar. Bislang zeigen die Umfragen – die grundsätzlich mit Skepsis zu betrachten sind – keine großen Veränderungen an. Wem die instabile Lage bei der Wahl nutzt, ist nicht abzusehen. Fest steht nur, wem es schadet: Viele Familien in der Türkei tragen Trauer und Leid. Die Gewaltspirale dreht sich weiter. Die türkische Regierung geht mit unverhältnismäßiger Härte gegen die PKK vor und bombardiert sie nicht nur im eigenen Land, sondern greift auch Stellungen in Syrien und im Nordirak an, obgleich die Kurden dort in verschiedenen Gruppierungen den IS bekämpfen. Die PKK ihrerseits tötet zahlreiche türkische Soldaten und gießt mit brutalen Anschlägen immer wieder Öl ins Feuer. Wieder einmal wird der Konflikt mit Militär und Bomben ausgetragen, wieder sterben Menschen. In dieser aufgebrachten Stimmung werden Mitglieder der HDP als Unterstützer der PKK diffamiert, Parteibüros niedergebrannt und Stadtteile abgesperrt. Auch Zivilisten werden Opfer von Gewalt und Terror.
Sogar im Militär wächst die Skepsis
In seiner Entschlossenheit, sich und sein Land mit aller Macht zu verteidigen, hat Erdogan unmissverständlich erklärt, dass der Friedensprozess mit den Kurden für ihn beendet sei. Ministerpräsident Davotoglu kündigte an, man werde die PKK auslöschen. Für viele Türken ist das eine Enttäuschung, denn der Friedensprozess war für Erdogan zehn Jahre lang – bis zum Erstarken der HDP – ein wichtiges politisches Anliegen. Unter seiner Führung erhielten die Kurden mehr Rechte. Nun scheint es so, als wolle Erdogan die innenpolitische Lage für seine Ziele nutzen. So werden angesichts der Opfer unter den türkischen Sicherheitskräften mittlerweile auch im Militär Zweifel an der Strategie der Regierung laut. Doch der türkische Präsident und die AKP ahnen auch, dass die Wähler parteipolitisch motivierte Manöver durchschauen und ihr Misstrauen per Stimmzettel ausdrücken könnten.
Die Türkei wird immer wichtiger
Erdogans Gegenspieler Demirtas verurteilt die Gewalt. Er sei von den Bergen gestiegen, um friedlich eine Lösung zu finden, begründete er seine Kandidatur. Er sieht sich in einer Zwickmühle, denn alleine ist er nicht in der Lage, den Friedensprozess zu erneuern; er wird für seinen Beitrag auf ein neues Mandat der Bürger warten müssen. Bis dahin regiert eine Übergangsregierung, an der sich die HDP beteiligt hat, um zu demonstrieren, dass sie Verantwortung übernehmen will. Doch auch ihre Minister sind zwischenzeitlich zurückgetreten, weil sie sich nicht in der Lage sahen, ihre Amtsgeschäfte auszuführen. Die Chance auf eine Beteiligung an der Übergangsregierung haben CHP und MHP verpasst, sie begrenzen ihre Möglichkeiten auf die Rolle der Opposition. Auch das könnte von den Wählern kritisch beurteilt werden.
Für Mitte November plant die internationale Gemeinschaft ihren G20-Gipfel in Istanbul, sie beobachtet die aktuelle Entwicklung in der Türkei jedoch mit Sorge. Denn das Land am Bosporus wird als wichtiger strategischer Partner gebraucht; besonders der Syrien-Konflikt wird ohne die Türkei nicht beizulegen sein. Dieser dauert bereits seit vier Jahren an und noch immer fehlt eine Strategie zu dessen Lösung. Auch die Flüchtlingskrise zeigt deutlich, welche besondere Rolle der Türkei beikommt. Sie teilt 900 Kilometer Grenze mit Syrien und hat mit über zwei Millionen Flüchtlingen mehr Menschen aufgenommen als alle anderen Länder. Dennoch liegen die Vorstellungen der Türkei und der internationalen Gemeinschaft in der Syrien-Frage zum Teil weit auseinander. Und obwohl die Türkei im Europarat, dem Gremium für Demokratie und Menschenrechte, jüngst ihre finanziellen Beiträge erheblich erhöht hat, bleibt die Pressefreiheit im Land weiter eingeschränkt – ein Problem, dass die EU zwar kritisiert, aber in den Beitrittsverhandlungen noch immer nicht angesprochen hat. Der Beitrittsprozess liegt auf Eis und wäre doch ein wichtiges Instrument der Annäherung und der Verständigung. In Krisenzeiten ist diese – ebenso wie die Diplomatie – umso notwendiger.
Eine entscheidende Weichenstellung
Nun kommt es darauf an, dass die Türkinnen und Türken ihr Schicksal erneut in die Hand nehmen und am 1. November ein Parlament wählen. Würden die Wahlen erneut verschoben, oder die Sicherheitslage derart eskalieren, dass Wahlen nur eingeschränkt möglich sind, es würde die europäisch-türkischen Beziehungen zusätzlich verkomplizieren und die Zweifel an Erdogans Willen, eine stabile Regierung nach dem Wunsch des ganzen Volkes zu bilden, wachsen lassen. Deswegen müssen die Neuwahlen jetzt zur zweiten Chance werden. Nicht für einzelne Personen, sondern für alle Menschen in der Türkei – dem Land, das Deutschland so verbunden ist. Die Demokratie gewinnt, wenn kein Land, keine Regierung und kein Präsident das Handeln nach machtpolitischem Kalkül ausrichtet. Wenn Waffen schweigen. Wenn Wahlen frei, geheim, gleich und unmittelbar durchgeführt werden. Wenn wir uns gegenseitig und verlässlich im Kampf gegen den Terror und Angriffe auf unsere Länder, ihre territoriale Integrität und ihre demokratische Grundordnung unterstützen. Ein Schlüssel dafür liegt in der Türkei.