Die doppelte Sichtbarkeit von Immigranten

Eine Kritik des gegenwärtigen Einwanderungsdramas

Auf der Bühne der politischen Öffentlichkeit unseres Landes wird derzeit ein Stück gegeben, das zwischen Drama und Tragödie oszilliert und dessen Ausgang noch unklar zu sein scheint. Seine erste Regieanweisung lautet: Deutschland ist kein Einwanderungsland.

Deutschland ist kein Einwanderungsland. Dieser Satz stimmt ganz offenkundig nicht. Über sieben Millionen Einwohner mit nicht-deutscher Staatsangehörigkeit, davon mehr als die Hälfte mit prinzipiell unbefristetem Aufenthaltsstatus, sprechen ebenso dagegen wie die Tatsache, dass bereits die Geburtsstunde der Bundesrepublik von einer erheblichen Einwanderungsrealität geprägt war. Etwa 16 Prozent der bundesdeutschen Bevölkerung bestand im Jahre 1950 aus kriegsbedingt Vertriebenen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten und Osteuropa. Und auch das Straßenbild (zumindest west-)deutscher Städte macht auf eine völlig undramatische Weise auf eine recht stabile Einwanderungsrealität aufmerksam. Was die bloßen Zahlen angeht, gehört die Bundesrepublik zu den einwanderungsstärksten Ländern überhaupt.

Deutschland ist kein Einwanderungsland. Dieser Satz ist zugleich auf eine überraschende Weise wahr. Denn was die Bundesrepublik bis heute nicht hat, ist ein aktiver politischer Umgang mit Einwanderung. Einwanderung geschieht, aber Einwanderung lässt sich nicht auf politische Entscheidungen, nicht auf kollektiv bindende Willensbildung zurechnen - außer vielleicht bezogen auf die Einwanderung von "Volksdeutschen". Erst jetzt scheint sich eine gesetzliche Regelung der Einwanderung und eine politische Programmatik bezüglich künftiger Einwanderungsformen abzuzeichnen.

Deutschland ist kein Einwanderungsland. Dieser Satz kommt sowohl als Drohung als auch als Verheißung daher. Die Verheißung soll suggerieren, dass auch in einer sich beschleunigenden Welt, in der sich Ökonomie und Politik ebenso wie Bildung, Wissenschaft und Recht globalisieren, alles beim Alten bleiben kann. Die Grundidee des Nationalstaates, wie er nach der Französischen Revolution entstanden ist und auch in Frankreich spätestens während der Napoleonischen Kriege den Internationalismus der Revolution abgestreift hat, ist bis heute die Idee nationaler Einheit, Einigkeit und Homogenität. Was im Feld der Kultur als gemeinsame Hochsprache, Geschichte und Bildungskanon erscheint, wird politisch im Institut der Staatsbürgerschaft und in der wohlfahrtsstaatlichen Hervorbringung des Sozialbürgers ausgedrückt, dem damit sowohl die rechtliche Gleichheit zugestanden als auch die staatlich sanktionierte Umverteilung im Bereich ökonomischer Ungleichheit gewährt wird. Bis heute sind die grundlegenden Institutionen des Staates nach wie vor an dieser Idee der homogenen nationalen Gemeinschaft orientiert, der sich Solidarität abverlangen lässt und die ihre Grenze nach außen ziemlich eindeutig formulieren kann. Die Idee des Nationalstaates kompensiert die Fremdheit ihrer Mitglieder untereinander mit der Konstruktion desjenigen Fremden, der auch im Falle Generationen überdauernder Anwesenheit ein Fremder bleibt.


Deutschland ist kein Einwanderungsland. Als Drohung erscheint der Satz denjenigen, die sich einen Blick auf die zu erwartende demographische Entwicklung der Bundesrepublik zumuten. Nach konservativen Schätzungen von Bevölkerungswissenschaftlern wird sich die autochthone deutsche Bevölkerung, das heißt die Zahl derjenigen, die nach heutigem Stand deutsche Staatsbürger sind, bis etwa 2030 von derzeit knapp 75 auf knapp 65 Millionen verringern, was bei gleichzeitiger Veränderung der Alterspyramide die gesamten sozialpolitischen Rahmendaten auf den Kopf stellen wird. Einwanderung erscheint dann nicht mehr als moralisches Gebot oder als Ausdruck liberaler Gesinnung, sondern schlicht als Standortfaktor. Das dürfte inzwischen über alle politischen Lager hinweg unstrittig sein.

Das Erfolgsmodell des Nationalstaats westlichen Typs, vor allem in seinem "goldenen Zeitalter" nach dem Zweiten Weltkrieg, wie der britische Historiker Eric Hobsbawm es nennt, bestand darin, die auseinander strebenden Momente der Moderne, eine entfesselte kapitalistische Ökonomie und eine zur Totalkontrolle neigende Form politischer Herrschaft, in einem Organisationsarrangement gebündelt und gebändigt zu haben. Dieses Modell scheint aus den vorangegangenen politischen Totalitarismen und aus den weltökonomischen Verwerfungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gelernt zu haben. Das westliche National- und Wohlfahrtsstaatskonzept hat es - bei allen Unterschieden im internationalen Vergleich - vermocht, den Konflikt von Kapital und Arbeit als Grundkonflikt zu stilisieren, an den sich alle Fragen der politischen Willensbildung andocken lassen. Dieser "moderne soziale Konflikt" (Dahrendorf) hatte eine stabilisierende Wirkung. Er lebte aus einem Konsens über die Konfliktlinien und vermochte es, gesellschaftliche Zugehörigkeit über politische Konflikte zu lösen. Denn Konflikte sind nur auf den ersten Blick Symbole für Unordnung und Desorientierung. Einem zweiten Blick erschließt sich, dass stabile Konflikte die Reaktion des anderen erwartbar machen. Was die Konfliktparteien dann aber nicht mehr sehen können, ist jener Konsens, auf dem jeder Konflikt basiert, jene Konvergenz der Perspektiven, die die Konfliktparteien erst füreinander wahrnehmbar machen. Insofern hat das Organisationsarrangement des klassischen industriegesellschaftlichen Nationalstaates für eine Form sorgen können, die so selbstverständlich war, dass sie unsichtbar wurde: Zugehörigkeit. Sowohl die unterprivilegierte Position des einkommensschwachen Lohnabhängigen als auch privilegierte Positionen waren wenigstens organisierbar, also sichtbar zu machen. So versorgte uns dieses Organisationsarrangement mit einem Gefühl der Zugehörigkeit, das exakt jene klassentranszendierende Kraft ausbilden konnte, die man der Idee der Nation seit ihrer Erfindung nachsagt.

Diese einfachen Verhältnisse sind vorbei, und das macht Immigranten sichtbar. Ohne Zweifel haben sich durch die Globalisierung und Transnationalisierung die Koordinaten des Organisationsarrangements westlicher Nationalstaaten verschoben. Dieses Arrangement ist immer weniger in der Lage, lösbare Konflikte zu simulieren oder wenigstens alltägliche Probleme solchen Konflikten zuzuschreiben. Konkurrenten um knappe Ressourcen und Lebenschancen haben es immer weniger mit kollektiven Gegenübern zu tun, immer weniger mit klar identifizierbaren Gegnern und Konkurrenten. Der Konkurrent auf gegenwärtigen Märkten um knappe Güter und Lebenschancen ist zunächst ein abstrakter und unsichtbarer Konkurrent - unsichtbar unter anderem deswegen, weil die Konkurrenten nur noch in Ausschnitten ihrer Persönlichkeiten miteinander konkurrieren, nicht mehr als Exemplare von eindeutigen Gruppen. Der Konkurrent um Ausbildung, Arbeit, Wohnung, soziale Sicherheit, sogar um intime Zuneigung und soziale Anerkennung ist letztlich nur noch eine statistisch wahrnehmbare Größe, ein Konglomerat ähnlicher Merkmale. Konkurrenten werden gewissermaßen digitalisiert - sie treten nicht mehr als analoge pralle Formen auf, nicht mehr als soziale Gruppen, sondern als statistische Gruppen. Damit werden auch Verantwortliche und Schuldige immer weniger adressierbar und identifizierbar. Der Konkurrent wird schlicht unsichtbar. Man sollte das übrigens nicht vorschnell beklagen, denn die moderne Gesellschaft nutzt die Fremdheit ihrer Mitglieder als Ressource, die allein pluralistische und liberale Gemeinwesen ermöglicht. Ich nenne dies das "bürgerliche Privileg der Fremdheit".

Dass sich die politische Öffentlichkeit derzeit gerade an der Frage der Einwanderung entzweit, ist vor diesem Hintergrund kein Zufall. Immigranten bedienen nämlich exakt das, was uns verloren gegangen zu sein scheint: Sie lassen sich als ziemlich eindeutige Gruppe identifizieren; sie bewegen sich vor allem in solchen sozialen Feldern, in denen die Konkurrenz um Arbeitsplätze, Bildung, Wohnung und soziale Sicherheit besonders prekär ist; sie sind fremd genug, um uns vertraute Phantasien darüber zu erlauben, inwiefern sie für die Misere verantwortlich sein könnten; und: sie werden durch all dies analog sichtbar, mit bloßem Auge erkennbar. Mit dieser analogen Gruppe lässt sich immer noch vortrefflich ein Adressat für all die digitalisierten Probleme konstruieren, deren Identifikation heute zunehmend politische und ökonomische Expertise verlangt.

Was wir derzeit als Leitkulturdebatte erleiden müssen, arbeitet dann mit einem Negativ dieser Sichtbarkeit: Nur den Immigranten können wir es verdanken, dass die autochthone Bevölkerung des Landes als eine Gruppe simuliert werden kann, die durch eine gemeinsame Kultur zusammengehalten wird. Was im 19. Jahrhundert der verachtende Blick auf die westliche Seite des Rheins geleistet hat, wo man bloße Zivilisation ohne Kultur sehen wollte, leistet nun der Blick auf die Immigration, die die politische Semantik mit neuen Differenzen versorgt - mit Differenzen, an denen sich wieder einfache, dramatisierbare und inszenierbare Konfliktstabilitäten aufbauen lassen. Die Leitkulturdebatte simuliert einen homogenen Raum - sie wiederholt damit, was der reifizierende Blick auf Einwanderer mit diesen gemacht hat.

Dies ist die eine Seite der Sichtbarkeit von Immigranten. Ihre Sichtbarkeit macht den gekränkten Nationalstaat auf sich selbst aufmerksam und zwingt ihn, sich seiner selbst gewiss zu werden - die Leitkulturdebatte ist beredter Ausdruck dafür. Doch zieht diese funktionale Sichtbarkeit von Immigranten eine zweite Sichtbarkeit nach sich. Ich möchte sie schlicht ihre empirische Sichtbarkeit nennen. Man beginnt nun festzustellen, dass Immigranten schlicht da sind, und zwar inzwischen als Bestandteil des Landes. Es scheint, als mache sich Überraschung darüber breit, dass Immigration keineswegs nur das ist, was in der inzwischen abgeflauten Debatte um den sogenannten Asylkompromiss sichtbar wurde. Der Schrecken - und damit steuert unser Stück auf einen dramatischen Höhepunkt zu - lässt sich etwa so zusammenfassen: Deutschland ist doch ein Einwanderungsland. Man kann nicht mehr an einer Realität vorbeisehen, die sich in 40 Jahren ziemlich stabilisiert hat und nur um den Preis therapeutischer Bedürftigkeit noch geleugnet werden kann. Dass etwa die Hälfte der über sieben Millionen Ausländer mehr als zehn Jahre in Deutschland lebt, und davon etwa ein Drittel länger als 20 Jahre, ist längst bekannt, scheint aber für die politische Öffentlichkeit noch immer Überraschungswert zu besitzen.

Die Tatsache, dass Einwanderung in die Bundesrepublik so lange politisch unbemerkt geblieben ist, zeugt auch davon, wie stark die Flexibilität und Anpassungsbereitschaft der modernen Gesellschaft ist, auch wenn es dafür keinerlei politische Intentionen gab. Ganz ohne Zweifel leben viele Immigranten in recht prekären Lebensverhältnissen, aber es gilt auch, dass sich innerhalb der Gruppe der Immigranten eine erhebliche Schere auftut. Ein Großteil der ursprünglichen Immigranten und ihrer Nachkommen hat sich in der Bundesrepublik eingerichtet und führt ebenso geglückte wie gescheiterte Leben. Immigranten der zweiten und dritten Generation tauchen sowohl als Unternehmer auf als auch als Studierende an Universitäten, sie kommen als deutschsprachige Schriftsteller vor wie auch als Jugendliche mit bayerischem, schwäbischem, westfälischem oder berliner Zungenschlag - wenn alles gut geht, bald auch mit sächsischem.

Die Institutionen des Wohlfahrtsstaates, des Rechts, der Wirtschaft, der Religion und nicht zuletzt der Bildung haben einen ungeheuren inklusiven Druck entfaltet, der eine völlige Segregation der ausländischen Bevölkerung trotz ihrer politischen Marginalisierung nicht erlaubt hat. Zwar leben viele Immigranten in Großstädten immer noch räumlich geballt und segregiert, aber mit manchen Ghettobildungen erklärter Einwanderungsländer kann sich das "Nicht-Einwanderungsland" Deutschland wirklich nicht vergleichen. Ferner sollte man die Segregation und starke Gruppenbildung von Migranten nicht immer nur im Sinne einer Abkapselung gegen die "deutsche" Gesellschaft interpretieren - zumal sich auch die autochthone Bevölkerung keineswegs in "deutschen" Räumen aufhält, sondern in sozialen Räumen, die jeweiligen Milieus und Ähnlichkeiten entsprechen. Wenn es stimmt, dass das "bürgerliche Privileg der Fremdheit" eine der konstitutiven Erfahrungen moderner Lebenslagen ist, dann können sich Immigranten bisweilen nur unter ihresgleichen wirklich unsichtbar bewegen, also exakt dieses bürgerliche Privileg in Anspruch nehmen. Woanders sind sie sichtbar; und selbst jemand wie der Autor dieses Beitrages - deutscher Staatsbürger und Muttersprachler, bayerischer Staatsbeamter auf Lebenszeit und Träger eines iranischen Nachnamens - muß sich bisweilen fragen lassen, ob er irgendwann wieder "zurück" geht.

Die Einwanderungsrealität der Bundesrepublik bietet letztlich ein interessantes migrationssoziologisches Lehrstück. Es zeigt, dass die Eigendynamik der modernen Gesellschaft erheblich inklusiver ist als die politische Semantik in Deutschland in den letzten 40 Jahren. Aus der internationalen Migrationsforschung ist bekannt, dass sich Migranten mit permanentem Residenzstatus von der autochthonen Bevölkerung immer weniger unterscheiden, was nicht im Sinne einer kulturellen Assimilation zu verstehen ist, sondern in dem Sinne, dass die Institutionen des Rechts und des Marktes, der Bildung und vielleicht auch der Politik für Herkünfte indifferenter werden.

Ich möchte damit keineswegs Probleme wegreden. Mein Plädoyer geht vielmehr dahin, sich einen gelasseneren Blick auf die Migrationsrealität zu gönnen. Womöglich lässt sich sogar aus der Geschichte der Immigration in die Bundesrepublik etwas über die Erfolgsbedingungen einer künftigen Einwanderungspolitik lernen. Ich meine damit nicht die gescheiterten Schwärmereien multikultureller Naivitäten, sondern eine schlicht entdramatisierende Perspektive auf bisherige Einwanderung. Wer öffentlich nur über Ängste und Belastungen, kulturelle Differenzen und Unübersichtlichkeiten räsoniert, erzeugt exakt dies: Angst, Belastung und Unübersichtlichkeit. Und wer die offenkundigen Probleme in sozialen Brennpunkten und problematischen Wohnquartieren auf den statistisch signifikant höheren Anteil von Immigranten in solchen Räumen zurückführt, macht sich womöglich eines Kategorienfehlers schuldig. Es herrschen dort nicht Unterprivilegierung und biographische Unsicherheiten wegen der vielen Immigranten. Vielmehr kommen diese geballt vor allem dort vor, weil das die Quartiere für unterprivilegierte Gruppen sind. Damit treten wir wieder in den Kreislauf der Sichtbarkeiten ein.

Dennoch: Die evolutionären Potenziale der modernen Gesellschaft scheinen kreativer zu sein als politische Planungshorizonte. Für ein zukünftiges Einwanderungsgesetz kann das meines Erachtens nur heißen, Immigration möglichst undramatisch und wenig voraussetzungsreich zu gestalten. Ob man bei Quotierungen dann eher an Arbeitsmärkte, an die Bevölkerungsstruktur oder an Herkunftsländer denkt, wird man sehen müssen. Jedenfalls werden wir gezwungen sein, solche Kriterien politisch festzulegen - an solchen, wenn auch unangenehmen und politisch unkorrekt erscheinenden Entscheidungen kommt man nicht vorbei, wenn man eine aktive Einwanderungspolitik betreiben will. Entscheidender ist aber, dass auch politische Planer mitkalkulieren sollten, dass die gesellschaftliche Eigendynamik erheblich formenreicher ist als die verwaltungsmäßige Kategorisierung und Regelung der Zuwanderung.

Das eigentliche Problem liegt auf einem ganz anderen Feld. Gelingt es modernen Nationalstaaten, sich mit jenen transnationalen Realitäten abzufinden, die ja keineswegs nur durch Immigranten und ihre Abkömmlinge gestiftet werden? Und gelingt es zukünftigen Formen von Staatlichkeit auf die Selbststilisierung als (National-)Kultur zu verzichten? Wenn man nur lernen könnte, dass all das auch ohne Zuwanderung auf der Tagesordnung stünde, wäre viel gewonnen. Dafür stehen die Zeichen schlechter als für eine leidlich gelingende Zuwanderung nach Deutschland auch in den nächsten Jahrzehnten. Das Drama wird also weitergespielt. Und die dramatis personae bleiben die selben - ebenso wie ihre Kritik, die dem Drama ja längst einverleibt ist.

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