Der ewige Streit um die Zwangsvereinigung

Wie ein scheinbar unpolitisches Datum sehr politisch werden kann

Wer geglaubt hatte, mit dem Ende der SED als Staatspartei und dem Zusammenbruch der DDR wären die Auseinandersetzungen um die alte Streitfrage „Zwangsvereinigung“ oder „freiwilliger Zusammenschluss“ von Kommunisten und Sozialdemokraten im Frühjahr 1946 ausgestanden gewesen, sah sich in den neunziger Jahren getäuscht. Alte Kontroversen wurden in Zeiten permanenter Wahlkämpfe auf Landes- und Bundesebene im Lichte parteipolitischer Zweckmäßigkeiten neu belebt. Im Frühjahr 2006, genau 60 Jahre nach der Vereinnahmung der Sozialdemokraten, ist scheinbar etwas Ruhe in die politische Debatte eingekehrt. Doch die alten Frontstellungen bestehen weiter.

Die Auslöschung der SPD in der Ostzone führt noch immer zu politischen Verwerfungen. Auch die politischen Kalküle, mit denen der Streit um die Zwangsvereinigung seit Jahrzehnten geführt wird, sind dieselben geblieben, ebenso die emotionale Aufgeregtheit, wenn Zeitzeugen an die damaligen Geschehnisse erinnern. Die eigentlichen Motive dieses Streits aber bleiben zumeist im Hintergrund.

Man mag darüber staunen, wie das historische Datum einer Parteigründung in derart polemischer Weise über Jahrzehnte den Anlass für heftige politische Kontroversen bot. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, wie die politischen Weichen in Ostdeutschland kurz nach dem Ende des verheerenden Weltkrieges gestellt wurden. In der Sozialdemokratie hält man bis heute, bei aller Differenzierung im Einzelnen, an der Bezeichnung „Zwangsvereinigung“ fest. Die SPD kultiviert auch noch 60 Jahre nach dem SED-Gründungsparteitag vom 21./22. April 1946 ihre Opferrolle und verweist zu Recht auf die zentrale Bedeutung dieses Datums als einen Akt der Auslöschung der Sozialdemokratie auf dem Boden der sowjetischen Zone beziehungsweise der DDR. Gleichermaßen schwer wog der sich daran anschließende Kampf gegen sozialdemokratische Ideen, als dessen Folge es sich bei der Wiedergründung der Sozialdemokratischen Partei in der DDR im Oktober 1989 unmöglich erwies, an sozialdemokratische Traditionen unmittelbar anzuknüpfen. So betrat die neu gegründete SDP trotz aller westdeutschen Vorbildwirkung im Grunde politisches Neuland. Mit den Folgen der jahrzehntelangen Auslöschung traditioneller sozialdemokratischer Grundwerte hat die SPD im Osten noch bis heute zu kämpfen.

In anderen politischen Lagern hört man das Wort Zwangsvereinigung nicht so gern. Die Union und ihre Verbündeten sprechen zwar nicht mehr so polemisch wie noch vor 10 Jahren, aber dennoch prononciert davon, dass die SPD mit diesem Begriff ihre eigene Verantwortung für das Zustandekommen einer totalitären Partei kaschieren wolle. Schließlich seien damals weite Teile der Sozialdemokratie mit fliegenden Fahnen in die Einheitspartei marschiert. Nicht nur die damaligen Parteivorsitzenden Otto Grotewohl, Max Fechner und Erich Gniffke, auch die Landesführer hätten aus freien Stücken für eine einheitliche Partei votiert. Letztlich ist die Fixierung der Christdemokraten auf die Mitverantwortung der SPD an der Gleichschaltung des politischen Systems im Osten ein Reflex auf die permanente Unterstellung der Sozialdemokratie, die Ost-CDU habe dem SED-Regime als „Blockflöte“ über 40 Jahre lang die Steigbügel gehalten.

Die PDS, die 1989/90 erklärte hatte, einen vollständigen Bruch mit Ungeist und Tradition des Stalinismus vollziehen zu wollen, tat sich aus historisch erklärbaren Gründen schwer mit dem Thema. Noch immer bezieht sie ihre historische Legitimität aus dem Gründungsakt vom April 1946. In der Partei selbst herrschte in den neunziger Jahren kein einheitliches Geschichtsbild mehr vor, so wie es die SED seinerzeit verordnet hatte. So bildeten sich seit dem Herbst 1989 innerhalb der PDS unterschiedliche Sichtweisen auf die Gründungsvorgänge der SED heraus. Diese Spannbreite ging jedoch nach den zahlreichen Austritten größtenteils wieder verloren. Sie wich einer eindimensionalen Sicht der Dinge, die den Erlebnissen jener alten Mitglieder Rechnung trug, die damals als Kommunisten, teils auch als junge Sozialdemokraten mit Begeisterung in die Einheitspartei geströmt waren. Die Gründung der SED begreifen sie noch heute als ein Lebenswerk, das auch sechs Jahrzehnte später nicht in Zweifel gezogen werden dürfe. So wird noch immer die Legende von der freiwilligen Gründung gepflegt.

Die einzelnen Führungsmitglieder der PDS traten in den neunziger Jahre mit sehr eigenwilliger Unentschiedenheit auf. Der Parteivorsitzende Lothar Bisky räumte zwar immer wieder ein, es habe „Elemente von Zwang“ gegeben, doch sei die Zwangsvereinigung von SPD und KPD im Jahre 1946 keineswegs Unrecht gewesen und nicht unter Androhung und Anwendung von Gewalt zustande gekommen. Und die Geschichtskommission der PDS verkündete anlässlich verschiedener Jahrestage, nur einzelne Sozialdemokraten seien drangsaliert worden, die eigentlichen Repressalien hätten erst später eingesetzt und stünden mit der SED-Gründung in keinem direkten Zusammenhang. Die Geburt der SED gilt noch immer als ein einmaliges Resultat einer demokratischen Willensbekundung von Kommunisten und Sozialdemokraten und könnte auch im Traditionsverständnis der PDS/Linkspartei einen würdigen Platz einnehmen. Seit geraumer Zeit deutet vieles darauf hin, dass in dieser neuen Partei die alten Denkmuster der SED auf dem Vormarsch sind. Erneut wird die Bildung der Einheitspartei als „historischer Sieg der Arbeiterklasse“ verklärt.

Die Auslöschung der SPD als zwangsläufiger Schritt

Die alte Garde in der PDS hat die historischen Verrenkungen ihrer Parteiführung in den neunziger Jahren sowieso nie sonderlich ernst genommen. Für sie blieb die Sozialdemokratie ganz im Sinne Lenins und Stalins ein Überbleibsel der kapitalistischen Ordnung, über die der historische Fortschritt hinwegschreiten werde. Vor diesem Hintergrund war die Auslöschung der SPD im Osten Deutschlands nur ein zwangsläufiger Schritt. Womöglich sitzt dieses Denken in der Mitgliedschaft tiefer als mancher der Parteioberen denkt. Doch für die politische Praxis der PDS in den ostdeutschen Ländern ist das wohl ohne Belang. Hier regiert politischer Pragmatismus. Debatten um die Deutungshoheit historischer Ereignisse stören da nur das politische Tagesgeschäft. Die rot-rote Regierungskoalition in Mecklenburg-Vorpommern liefert dafür ein anschauliches Beispiel.

So hat die öffentliche, teilweise auch die wissenschaftliche Debatte über einen sehr langen Zeitraum hinweg an den Versuchen politischer Instrumentalisierung gelitten. Gleichwohl war und ist die Betonung des Zwangs, der Täuschung und der Selbsttäuschung beim Zustandekommen der SED für die Sozialdemokraten stets Teil ihrer politischen Identität. Denn tatsächlich führte besonders die Berliner SPD seit dem Ende des Jahres 1945 einen energischen Abwehrkampf gegen die Umarmungsversuche der Kommunisten, der nicht ohne Früchte blieb. Zwar konnte der Zusammenschluss von Sozialdemokraten und Kommunisten angesichts der politischen Rahmenbedingungen in den ostdeutschen Ländern nicht verhindert werden, doch in Berlin behauptete sich die SPD als eigenständige politische Kraft. Nicht nur in West-Berlin, auch in den östlichen Parteibezirken blieb die SPD mit einer intakten Organisationsstruktur existent und beteiligte sich mit großem Erfolg an den ersten Gesamtberliner Wahlen nach dem Krieg im Oktober 1946. In den östlichen Stadtbezirken erhielten die Sozialdemokraten über 40 Prozent der Stimmen und stellten dort überall die Bezirksbürgermeister – die SED kam in Ostberlin nur auf knapp 30 Prozent. Was viele nicht wissen: Die SPD unterhielt bis zum Mauerbau im Jahr 1961 im Ostteil der Stadt eigene Parteibüros, hatte beachtliche Mitgliederzahlen und stellte sogar Kandidaten für den Deutschen Bundestag. Dieser gegen totalitäre Ansprüche in der Hochzeit des Kalten Krieges praktizierte Behauptungswille prägt das politische Selbstverständnis und das Traditionsempfinden der Sozialdemokratie bis heute.

Anlässlich eines Forums, das die Historische Kommission der SPD im März 1996 im Berliner Roten Rathaus veranstaltete, erklärte Wolfgang Thierse: „Jenseits aller Debatten um Begriff und Inhalt dessen, was man aus meiner Sicht zu Recht Zwangsvereinigung nennt, ist für uns Sozialdemokraten dieses Datum natürlich aus einem anderen Grund von so zentraler Bedeutung. Die SED-Gründung ist zugleich das entscheidende Datum für die Auslöschung der Sozialdemokraten auf dem Boden der SBZ/DDR.“ Zum Verhältnis zwischen SPD und PDS fügte er hinzu: „Natürlich werden wir die Auseinandersetzung mit der PDS vorrangig über die brennenden Zukunftsthemen und -aufgaben führen müssen. Aber gerade um des zentralen und ungeklärten Verhältnisses zur Demokratie willen können wir ihr sicherlich nicht die beständige Auseinandersetzung um ihr Geschichtsbild und ihren eigenen demokratischen Wandlungsprozess ersparen.“ Das gilt, so denke ich, auch heute noch. Insofern hat der Begriff Zwangsvereinigung für die Sozialdemokratie eine Deutungsmacht, die nicht als politische Instrumentalisierung beschrieben werden kann.

Im Verhältnis der SPD zur PDS ist das Thema Zwangsvereinigung inzwischen fast schon zu einem Tabu geworden. Noch im Januar 2002 gelang es der SPD in Mecklenburg-Vorpommern, die PDS auf eine Koalitionsaussage zu diesem historischen Datum festzulegen. Darin wiesen beide Parteien aus gutem Grund auf die Zweischneidigkeit des Ereignisses hin: Zwar hätten die Erfahrungen des Sieges des Faschismus über die gespaltene Arbeiterbewegung im Jahre 1933 in Teilen der Mitgliedschaft von SPD und KPD nach 1945 zum Wunsch nach Vereinigung geführt. Dieser Wunsch sei aber zu einer Zwangsvereinigung missbraucht worden, ohne freie Entscheidung insbesondere der Mitglieder der SPD, die sich im Westteil Berlins in einer Urabstimmung gegen die Vereinigung aussprachen und im Ostteil an der freien Abstimmung gehindert wurden. Inzwischen werden historische Exkurse aus der politischen Diskussion ausgeklammert. Sie scheinen auf beiden Seiten nicht mehr erwünscht. Keine der beiden Parteien verspricht sich Vorteile von einer politischen Debatte über ihre seit 1914 begangenen historischen Fehler. Anstatt die PDS zu einem Historikerstreit aufzufordern, lassen die Sozialdemokraten die PDS mit ihrem Klärungsbedarf allein. Zu Recht muss allerdings auch die Frage nach dem Sinn derartiger Geschichtsdebatten gestellt werden. Zu groß ist das Verlangen, sich historische Sünden gegenseitig aufzurechen.

Wie die sowjetische Besatzungsmacht die Weichen stellte

Werden die historischen Vorgänge der Jahre 1945/46 beschrieben, ist ein Blick auf die politischen Rahmenbedingungen nach der militärischen Besetzung Deutschlands im Mai 1945 unumgänglich. In der Ostzone agierte die sowjetische Besatzungsmacht, die ihre Ordnungsvorstellungen auf den von ihr besetzten Teil zu kopieren trachtete. Darin spielte die Sozialdemokratie keine Rolle, denn sie galt im Sinne der Lehren Lenins und Stalins als historisches Relikt, das es zu überwinden galt. Hätte die SPD im Osten nach ihrer Wiedergründung im Juni 1945 im Herbst desselben Jahres nicht einen Massenzulauf erlebt, wäre der KPD kein ernsthafter Konkurrent im Kampf um das Machtmonopol in der sowjetischen Zone entstanden. Doch mit ihren über 400.000 Mitgliedern zum Jahresende 1945 entwickelte sich die SPD zur mitgliederstärksten Partei im Osten, obwohl die Besatzungsmacht der KPD jede nur erdenkliche materielle Unterstützung zukommen ließ. Und eine starke SPD, noch dazu mit einem starken Partner im Westen, stand der Übertragung des sowjetischen Gesellschaftsmodells im Wege. So gab es für Kommunisten und sowjetische Besatzer nur einen Weg: Die tödliche Umarmung der SPD, ihre Vereinnahmung und die Bekämpfung ihrer Ideen.

Die Historiker haben lange über die deutschlandpolitischen Absichten der Moskauer Führung gestritten: Wollte Stalin von Beginn an eine kommunistische Diktatur in der sowjetischen Zone installieren? Oder war er zu Kompromissen mit den Westalliierten bereit, um die Einheit Deutschlands zu erhalten? Von der Beantwortung dieser Fragen hängt die Beurteilung darüber ab, ob die SPD im Osten auf lange Sicht als politisch eigenständige Kraft hätte agieren können. Der Streit ist auch angesichts neuer Aktenfunde in Moskauer Archiven noch nicht entschieden. Die harten Realitäten sprechen allerdings für sich: Die SPD in der Ostzone verfügte über keine wirklichen Handlungsoptionen, ihr Aktionsrahmen war von Anfang an erheblich eingeschränkt und verengte sich zunehmend. Die Vorstellungen der Moskauer Führung über die neue gesellschaftliche Ordnung im Osten Deutschlands ließen den deutschen Politiker kaum politischen Spielraum.1 In der unmittelbaren Nachkriegszeit konnten auch deutsche Kommunisten nicht entscheidend mitreden, bestenfalls wurden sie angehört. Darüber sind sich die Historiker mittlerweile weitgehend einig.

Die durchschlagende Prägekraft der Besatzungsbedingungen wird auch in der aktuellen politischen Debatte kaum in Abrede gestellt. Das zeigte sich bereits in den Arbeitsergebnissen der Enquete-Kommission des Bundestages zur „Aufarbeitung der Geschichte und der Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“ der neunziger Jahre, in der auch die PDS mitwirkte. Im Rahmen ihrer Mitarbeit in der ersten und besonders in der zweiten Enquete-Kommission zeichneten die PDS-Diskutanten allerdings ein merkwürdiges Bild über die Rolle der Besatzungsmächte in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Weil die präsentierten Fakten über Verhaftungen von Sozialdemokraten und direkter Einschüchterung nicht mehr wie noch vor 1989 beiseite gewischt werden konnten, wurde der Einfluss aller Besatzungsmächte auf die politischen Vorgänge in ihren Zone vollkommen gleichgewichtet. Auf den mittlerweile aktenkundig nachweisbaren Befund, die sowjetische Besatzungsmacht habe maßgeblichen Anteil am Zustandekommen der Einheitspartei im Osten gehabt, folgte die Antwort, die Westmächte hätten umgekehrt in ihren Zonen die Einheitspartei mit den gleichen Mitteln verhindert. Auf diese Weise schienen Verhaftungen, physische und psychische Gewalt im Osten den gleichen Stellenwert zu haben wie die von den Westmächten verordnete politische Quarantäne.

Gängelung und Absetzung, Festnahme und Verschwinden

Das kaum zu überschätzende Gewicht der sowjetischen Besatzungsmacht auf das politische Handeln und die Entscheidungen der ostdeutschen Akteure überwog die politischen Einflussnahmen der westlichen Besatzungsmächte jedoch bei Weitem. Mittlerweile liegen ausreichend Quellen vor, die die verschiedenen Formen der politischen Interventionen, die Bedrohungen und Verhaftungen einheitsunwilliger Sozialdemokraten belegen. Die nunmehr frei zugänglichen zeitgenössischen Dokumente über die von örtlichen sowjetischen Kommandanturen gemaßregelten und inhaftierten Sozialdemokraten geben Aufschluss darüber, wie vielerorts erst psychischer Druck der Besatzungsoffiziere die Vereinigung möglich machte. Selbst wenn sowjetische Offiziere überzeugen oder wenigstens überreden wollten, setzten sie im Konfliktfall ihre Macht ein oder drohten diese an. Gewiss waren nicht alle SPD-Funktionäre persönlich einer direkten Nötigung ausgesetzt. In der Regel aber waren für Sozialdemokraten die Gängelung, Absetzung, vorübergehende Festnahme oder gar das Verschwinden von Funktionären, die gegen eine sofortige Verschmelzung auftraten, unmittelbar wahrnehmbar.2

Das alles zur Kenntnis zu nehmen und für die Urteilsfindung heranzuziehen, setzt allerdings die Bereitschaft voraus, alte Denkschablonen abzulegen. An dieser Bereitschaft mangelte es gelegentlich in den bislang geführten Debatten.

Die Fakten liegen auf dem Tisch. Es kommt darauf an, sie zu interpretieren

Die Polemiken um den Begriff der Zwangsvereinigung begannen schon im Jahr 1946. Und noch immer geht es um die Frage, ob in der SPD damals eine Mehrheit für die Parteivereinigung bestand; und darum, ob dieser Vorgang etwas mit demokratischen Entscheidungsprozessen zu tun hatte. Beim Streit darüber darf eines nicht unter den Tisch fallen: Einen wesentlichen Bestandteil des politischen Neuanfangs nach dem Zweiten Weltkrieg bildete das Bemühen der Sozialdemokraten, zur KPD ein neues Verhältnis zu finden, das sich deutlich von der scharfen Konfrontation der Weimarer Zeit abheben sollte. Es waren sogar die Sozialdemokraten, die unmittelbar nach dem Ende der Hitlerdiktatur in der sowjetisch besetzten Zone am lautesten nach der Einheit der Arbeiterparteien riefen, sehr viel nachdrücklicher jedenfalls als die Kommunisten. Allerdings darf dieser Umstand nicht darüber hinwegtäuschen, auf welch dramatische Weise sich dieses Bild in den darauffolgenden Monaten wandelte. Die kurze Phase der Einheitseuphorie vom Frühjahr 1945 war rasch vorbei.

Der anfänglichen Bereitschaft der Sozialdemokraten zur Kooperation mit der KPD, die Ausdruck der gemeinsam erlittenen Vergangenheit sowie des emotionalen Bedürfnisses nach einer einheitlichen Arbeiterbewegung war, folgten sehr bald Ernüchterung und Desillusionierung. Unter den Sozialdemokraten wuchs der Unmut über das Verhalten der Kommunisten bei der Besetzung von Ämtern in den örtlichen Verwaltungen und die eindeutige Bevorteilung der KPD durch die sowjetische Besatzungsmacht. Die lokalen Konflikte nahmen im September und Oktober 1945 an Schärfe zu, und es hatten „sich unhaltbare Zustände zwischen SPD und KPD herausgebildet“, wie beispielsweise das Protokoll der Landesvorstandssitzung der Thüringer SPD vom 5. November 1945 vermerkte. Die Landesvorstände der SPD registrierten Verbitterung, Beschwerden und Klagen der Mitglieder über den von den Kommunisten praktizierten Führungsanspruch beim politischen Neuaufbau. Die Differenzen würden sich in vielen Gemeinden häufen und immer erschreckender zuspitzen. Selbst der Sächsische Landesvorsitzende Otto Buchwitz, der sich selbst gern als Apostel der Einheit bezeichnete, schätzte die Stimmung in der SPD als äußerst kritisch ein. Im November 1945 räumte er während einer Vorstandssitzung resigniert ein, die Einheitspartei werde von der Mitgliedschaft wohl nicht mehr gewünscht. Buchwitz fand es ebenso wie seine Parteifreunde unerträglich, wie die SPD von KPD und Besatzungsmacht als „fünftes Rad am Wagen“ behandelt wurde und forderte eine Parität bei der Besetzung der Verwaltungsposten. In der Tat war ein Zusammenschluss beider Parteien gegen Ende des Jahres 1945 in weite Ferne gerückt.3

In den Debatten innerhalb der SPD der sowjetischen Zone zeichneten sich um die Wende 1945/46 drei Lager ab: die Sozialdemokraten, die bereit waren, trotz aller Vorbehalte die Verschmelzung mit der KPD als einen Dienst am Sozialismus konsequent und rasch zu verwirklichen; dann diejenigen, die die Vereinigung bedingungslos ablehnten – diese beiden Lager stellten wohl eine Minderheit dar. Die große Mehrheit der Mitglieder wie auch der mittleren und unteren Funktionäre gehörte zum dritten Lager: Hier dominierte bei aller Befürwortung der Idee der Einheitspartei die Ablehnung eines schnellen Zusammenschlusses beider Parteien unter den obwaltenden Bedingungen. Das Misstrauen gegenüber den Kommunisten war allgemein stark ausgeprägt.

Faule Kompromisse mit den Kommunisten

Auch der ostdeutschen SPD-Führung war der deutliche Abwärtstrend in der Einheitsbereitschaft der sozialdemokratischen Mitglieder nicht entgangen. Otto Grotewohl, bislang von sowjetischen Offizieren argwöhnisch als Einheitsfeind beobachtet, brachte in den Verhandlungen mit der KPD-Spitze einen „Reichsparteitag“ der SPD ins Spiel, der durch gesamtdeutsche Delegiertenwahlen zustande kommen sollte. Dieser „Reichsparteitag“ sollte den angemessenen Entscheidungsrahmen für oder gegen eine Einheitspartei auf deutschem Boden abgeben. In dieser Situation trat die KPD die Flucht nach vorn an. Sie drängte nun auf einen raschen Zusammenschluss in der Ostzone und initiierte eine wirkungsvolle Massenbewegung ihrer Mitglieder. Kurt Schumacher, die unumstrittene Führungsperson der SPD in den Westzonen, wollte oder konnte der SPD im Osten keine Rückendeckung geben. Einen gesamtdeutschen Parteitag der SPD hielt er für nicht durchführbar. Nach seiner Auffassung hatte sich Grotewohl schon zu sehr auf faule Kompromisse mit den Kommunisten eingelassen. So blieb die Ost-SPD auf sich allein gestellt. Grotewohl und andere Führungsmitglieder gaben ihren Widerstand gegen die Fusion auf.

Für eine Fortführung sozialdemokratischer Politik gab es in der Ostzone keine ernsthaften Chancen mehr. Eine autonome, sich auf reifliche Überlegung und eine breite innerparteiliche Diskussion stützende Entscheidung über die beiden Alternativen Vereinigung oder Selbständigkeit konnte es aufgrund der Besatzungsbedingungen für die Sozialdemokraten in der sowjetischen Zone nicht geben. Hans Hermsdorf, stellvertretender Vorsitzender der Chemnitzer SPD, beschrieb die Verhältnisse in einem Brief vom 31. März 1946 an den Parteivorsitzenden durchaus zutreffend. Er schilderte, wie die Einheit der Parteien unter Missachtung der elementarsten demokratischen Grundregeln verfügt und vollzogen werde, ohne der Mitgliedschaft das Recht der freien Entscheidung zu gewähren. Die Einheit, so notierte Hermsdorf, „wird eben gemacht, und wehe dem, der sich erlaubt, eine andere Meinung zu haben, er ist ein Verräter, ein Saboteur, und was haben wir nicht alles für schöne Worte in den letzten Wochen hier von den Nazis übernommen.“ Die Abstimmung per Akklamation bezeichnete er in Anspielung auf die Veranstaltungsregie nationalsozialistischer Massenkundgebungen als Theater, wie es früher im Sportpalast vollzogen worden sei. Hermsdorf zog die radikalste Konsequenz: Er legte alle Ämter nieder und ging in den Westen.

Tatsächlich hatte die von der Besatzungsmacht und den Kommunisten ausgehende Nötigung keinen Raum für eine freie Entscheidungsfindung gelassen. Für die meisten Sozialdemokraten erschien unter dem Eindruck der vielfach empfundenen Bedrängnis der Weg in die Einheitspartei als eine noch erträgliche Variante, wenn schon die ungestörte Fortexistenz der SPD nicht mehr gewährleistet werden konnte. Nicht wenige Funktionäre und Mitglieder gaben sich der trügerischen Hoffnung hin, in der Einheitspartei eigene Traditionen und Ziele bewahren und die SED als unabhängige und demokratische Partei entscheidend mitgestalten zu können. Reale Bedingungen zur Verwirklichung derartiger Zielvorstellungen existierten, wie wir heute wissen, aufgrund der stalinistischen Vorprägungen der KPD allerdings nicht.4 Es war ein verhängnisvoller Irrtum zu glauben, die KPD habe sich nach 1945 zu einer demokratischen Partei gewandelt und den Anspruch auf das Machtmonopol in Staat und Gesellschaft aufgegeben. Zu fest war das Partei- und Gesellschaftsmodell Lenins und Stalins strukturell und ideell in der Kommunistischen Partei verankert. So waren die Selbsttäuschung führender Funktionäre, das Profil der Einheitspartei maßgebend gestalten zu können, und die damit einhergehende Täuschung der Mitglieder ein Ergebnis der Zwangslage, in der sie sich während der Verschmelzungskampagne der KPD befanden.

Die historische Keule wird nicht mehr geschwungen

Als unstrittig gilt unter Historikern der gravierende Mangel an demokratischen Entscheidungsspielräumen beim Zustandekommen der Einheitspartei, der zugleich von Beginn an das Wesen der SED entscheidend prägte. Trotzdem wird bis heute in politischen Foren bestritten, dass es innerhalb der SPD zu keinem Zeitpunkt eine große Mehrheit für den Zusammenschluss mit der KPD gegeben hatte. Mit statistischen Tricks beim Umgang mit den Ergebnissen einer Urabstimmung über die Fusion der beiden Parteien in den Westsektoren Berlins im März 1946 wird noch immer versucht, das Ergebnis herunterzurechnen. Einige Diskutanten verweisen stets darauf, die in den Westsektoren erzielte überzeugende Mehrheit gegen den Zusammenschluss besitze für den Berliner Osten keine Beweiskraft. Dabei wird häufig vergessen, dass sich die ostzonale SPD-Führung unter Otto Grotewohl über den Willen der Mitgliedschaft hinwegsetzte, die Entscheidung für oder gegen die Einheitspartei über eine Urabstimmung – wie in Westberlin – auch in der sowjetischen Zone herbeizuführen. Ob in Magdeburg, Rostock oder Dresden: Überall wurde die Forderung nach einer Urabstimmung erhoben. Sie fand aufgrund des Verbots der sowjetischen Besatzungsmacht dann nicht statt. Die Bewertung der Urabstimmung bleibt also ein zentraler Punkt bei der Einordnung jener Vorgänge, die zum Zustandekommen der Einheitspartei führten.

Es hat den Anschein, dass die gegenseitigen Sticheleien und das Schwingen der historischen Keule ein Ende gefunden haben. Zum Glück wurden die Bundestagswahlen um ein Jahr vorgezogen – wer weiß, ob der Streit um die Zwangsvereinigung vor dem Hintergrund des „60. Jahrestages“ nicht doch ein Thema im Wahlkampf des Jahres 2006 geworden wäre. Aber auch so ist die intellektuelle Auseinandersetzung mit dem Thema notwendig, aber auf eine Weise, die den anderen nicht erniedrigt, sondern ihm neue Einsichten ermöglicht. Was darüber hinaus bleibt, sind historische Erfahrungen, derer bei derartigen Gelegenheiten zu gedenken wäre. Zu nennen ist hier vor allem die historische Erfahrung, dass das Streben nach einer solidarischen Gesellschaft und nach sozialer Gerechtigkeit, das man damaligen Akteuren sowohl der SPD als auch der KPD zubilligen sollte, nur unter demokratischen Bedingungen eine wirkliche Chance hat. Mir scheint, diese Erkenntnis sollte gerade im Osten Deutschlands in Erinnerung bleiben.

Anmerkungen
1 Vgl. Norman M. Naimark, Die Russen in Deutschland. Die sowjetische Besatzungszone 1945 bis 1949, Berlin 1997.
2 Vgl. Harold Hurwitz, Die Stalinisierung der SED. Zum Verlust von Freiräumen und sozialdemokratischer Identität in den Vorständen 1946-1949, Opladen 1997.
3 Vgl. Andreas Malycha, Auf dem Weg zur SED. Die Sozialdemokratie und die Bildung einer Einheitspartei in den Ländern der SBZ, eine Quellenedition, Bonn 1995.
4 Vgl. Beatrix Bouvier, Ausgeschaltet! Sozialdemokraten in der Sowjetischen Besatzungszone und in der DDR 1945-1953, Bonn 1996.

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