2010 ist Geschichte
„2010“ ist zum politischen Mythos geworden. Das Jahr ist ein Begriff, der wie ein scharfkantiger Kristall aus der gefälligen Meinungslandschaft herausragt. Wer ihn in den Mund nimmt, hat Angst, sich zu verletzen – oder will anderen damit wehtun. Der Reform-Mythos der Agenda 2010 polarisiert nicht mehr die politischen Lager, sondern in allen Parteien die Anhänger und Gegner einer ambitionierten und risikoreichen Modernisierung des Gesellschaftsvertrages. Selbst unter den politischen Verteidigern des Zukunftsentwurfs 2010 heißt es heute oft ausweichend: „Interessiert doch keinen mehr.“ Das ist natürlich falsch, denn die Relevanz der vergangenen Reformdekade für die Gegenwart ist überragend. Wer allerdings politisch noch etwas werden will, der scheut den selbstbewussten Bezug auf die Agenda. Der Begriff ist nicht opportun, verspricht keine Popularitätsrendite. So macht sich allenthalben Erleichterung breit, dass 2010 in diesen Tagen Geschichte wird. Neue politische Schlagworte lassen sich formen und in Umlauf bringen.
Doch der Mythos 2010 verschwindet so schnell nicht. Denn die Richtungsentscheidungen, für die er steht, haben Deutschland grundlegend verändert. Die Kosten waren erwartbar und beträchtlich. Jeder Modernisierungsschub erhöht die Spannungen in einer Gesellschaft. Zugleich hat Deutschland auf mittlere Sicht wesentlich bessere Erfolgsbedingungen für eine Politik der Gerechtigkeit gewonnen. Die Verabschiedung von „2010“ aus der Politik in die Geschichte sollte also unsentimental ausfallen. Nur den gesellschaftlichen Bewegungsgewinn, der die aktuellen Debatten prägt, sollte niemand vergessen.
Kampf gegen Arbeitslosigkeit
Das deutsche Wirtschafts- und Sozialmodell hat sich in den vergangenen Jahren unter mehrfachem Druck eindrucksvoll behauptet – und viele seiner Kritiker widerlegt. Dies geschah aber nicht von allein. Es ist das Ergebnis einer gesellschaftlichen Anstrengung, an der vor allem Unternehmen und Gewerkschaften, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, aber auch die Politik ihren Anteil haben. Ob es um moderate Lohnabschlüsse und die Flexibilisierung von Tarifverträgen angesichts zunehmend harter Kostenkonkurrenz der Industrie ging, ob der Staat die Steuern für Wirtschaft und Bürger auf ein im internationalen Vergleich mittleres Niveau senkte oder ob Leistungen bei Arbeitslosigkeit stärker auf Bemühungen um neue Beschäftigung ausgerichtet wurden – immer Stand der Kampf gegen die Massenarbeitslosigkeit im Zentrum. Dieser Kampf hatte einen Preis, der sich unter anderem in schwachen Einkommenszuwächsen und stagnierenden Reallöhnen abbildet. Aber er hatte auch Erfolg, denn die Arbeitslosigkeit ist gesunken und die Langzeitarbeitslosigkeit hat sich halbiert. Vollbeschäftigung galt 30 Jahre lang als derart unerreichbar, dass schon der Begriff verpönt war. Mit Arbeitslosenquoten um derzeit rund 7 Prozent und erwartbaren 6,2 Prozent in 2012 (so eine OECD-Prognose aus dem November 2010) rückt das Ziel, die Massenarbeitslosigkeit zu besiegen, in greifbare Nähe.
Paradigmenwechsel durch Bildung und Integration
Zum Kern sozialdemokratischer Reformpolitik gehörte der Versuch, das Bildungsversprechen gleicher Chancen zu erneuern und die Durchlässigkeit der Gesellschaft unter veränderten ökonomischen und sozialen Bedingungen zu gewährleisten. Die gestiegenen Qualifizierungsanforderungen guter Arbeit haben die Bedeutung von Bildung und Ausbildung dramatisch erhöht. Das deutsche Bildungssystem war weit dahinter zurückgeblieben, und die erste Pisa-Studie machte schockartig klar, dass andere Länder die Anforderungen, besonders bei Ein- und Aufstiegschancen für Einwanderer, weit besser bewältigen. Mit einem umfassenden Paradigmenwechsel der Gesellschaftspolitik durch Bildung und Integration, mit einer aktivierenden und vorsorgenden Sozialpolitik durch frühkindliche Förderung, Ganztagsschulen und verpflichtende Sprachkurse, ist es gelungen, die Trendwende zu erreichen. Die Pisa-Studie 2009 bestätigt, dass Deutschland nun leicht über dem Durchschnitt der untersuchten Länder liegt, auch wenn die Spitze noch weit entfernt ist und die Kinder arbeitsloser, gering verdienender, nicht akademisch gebildeter Eltern noch lange keine gleichen Chancen haben.
Umbau und Stärkung des Sozialstaates
Anfang des vergangenen Jahrzehnts hatte der deutsche Sozialstaat viel von seiner Akzeptanz eingebüßt. Zu den größten Erfolgen der Wirtschaftsentwicklung und der Reformen zählt die Tatsache, dass das Vertrauen in den Wert und die Zukunftsfähigkeit des Sozialstaates heute wieder breit verankert ist. Die Legitimationskrise der Sozialpolitik war verursacht worden durch die Massenarbeitslosigkeit, die Deindustrialisierung Ostdeutschlands, den demografischen Wandel mit wachsenden Ausgaben für die Alterssicherung bei abnehmender Bevölkerung im erwerbsaktiven Alter (seit Anfang des Jahrzehnts ist sie um 1,6 Millionen gesunken), eine zu geringe Wirksamkeit der aktiven Arbeitsmarktpolitik bei insgesamt hohen Ausgaben zur Absicherung der Erwerbslosigkeit und nicht zuletzt durch steigende Staatsverschuldung und Zinslasten. Mit dem Umbau wurden Hunderttausende Sozialhilfeempfänger in die Vermittlung aufgenommen. Die Leistungsbilanz der Arbeitsmarktpolitik wurde verbessert. Mehr Eigenverantwortung und Eigenvorsorge forderten von den Menschen auch finanzielle Lasten. Im Ergebnis aber ist die Stabilisierung der Gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherung ebenso wie der Arbeitslosenversicherung gelungen.
Industriepolitik und Wachstum auf neuen Grundlagen
Die Erneuerung des Sozialstaatskonsenses wäre nicht geschehen ohne eine entschiedene Industriepolitik, die wirtschaftliches Wachstum auf neuen Grundlagen ermöglichte. In Ostdeutschland begann eine Phase des industriellen Neuaufbaus mit innovativen Technologien. Wenn in einem Land wie Brandenburg die Arbeitslosigkeit auf unter 10 Prozent gesunken ist, so spricht das auch für den Erfolg der industriellen Modernisierung in Branchen wie der Energietechnik. Auf kaum einem Gebiet ist Deutschland so erfolgreich wie bei der Energie- und Rohstoffeffizienz, die alle Industriezweige erfasst hat. Strategische Industriepolitik einschließlich ordnungspolitischer Rahmenbedingungen in der Steuerpolitik und des Erneuerbare-Energien-Gesetzes hat Deutschland zum Ausrüster der Welt für ökologische Problemlösungen gemacht. Dabei hat sich die ökonomische Basis unseres Mittelstands verschoben. „Greentech“ bringt in der ganzen Breite seiner Anwendungen – von Energie, Entsorgung und Bau über Mobilität bis zur Informationstechnik – gute Einkommen für eine wachsende Zahl von Unternehmern, Ingenieuren oder Programmierern. Das hat Folgen für den „Überbau“ sowohl von Interessenverbänden als auch von kulturellen Leitbildern. Kammern und Wirtschaftsverbände erleben eine beunruhigende Veränderung ihrer zahlenden Mitgliedsunternehmen. Der DIHK-Präsident der Zukunft könnte mit Outdoorjacke vor die Mikrofone treten und die ökologische Finanzreform mit Anreizen für die unternehmerische Klimaschutzavantgarde fordern. Die Grünen profitieren gegenwärtig nicht nur von einem Medienhype. Sie schaffen es, den Wandel der Produktivkräfte zu nutzen und ein neues Jack-Wolfskin-Bürgertum für sich zu gewinnen.
Aufschwung 2010 – die Hoffnung auf Fortschritt kehrt zurück
Deutschland hat sich fundamental verwandelt und Zukunftsfähigkeit gewonnen. Wenn es noch eines Beweises dafür bedurft hätte, dann kam er mit der in Europa beispiellosen Stabilität, die das Land in der Finanzmarktkrise gezeigt hat. Ein ungewohnt couragierter Pragmatismus staatlicher Interventionen, der verschworenen Ideologieparteien von Linksaußen bis Liberal die Orientierung geraubt hat, ging zusammen mit den Leistungen der Strukturreformen. Die tieferen und kürzeren Wurzeln des Aufschwungs 2010 sind weiter verzweigt, als die politische Propaganda der gegenwärtigen Regierung zugeben kann. Zweifellos aber haben sie eine Kraft, die weit ins nächste Jahrzehnt hineinreicht. Das trifft auf die Wirtschaft zu, aber nicht weniger auf den Wandel des Bewusstseins. Ohne dass sich jeder immer davon Rechenschaft ablegt, haben die sinkenden Arbeitslosenzahlen die Deutungs- und Verhandlungsmacht der Gewerkschaften gestärkt und die Frage der Verteilungsgerechtigkeit für eine Mehrheit wieder plausibel gemacht. Wenn in den kommenden Jahren die Hoffnung auf Fortschritt zurückkehrt, die Westdeutschland nach 1973 und die neuen Bundesländer in den neunziger Jahren verlassen hat, dann hat daran der Zukunftsentwurf des Projekts 2010 mit dem erfolgreichen Kampf gegen die Massenarbeitslosigkeit großen Anteil. Die Aufgabe des nächsten Jahrzehnts ist es, diese Hoffnung klug zu nutzen.
Oliver Schmolke ist Leiter der Planungsgruppe der SPD-Bundestagsfraktion. Der Beitrag gibt ausschließlich seine persönliche Meinung wieder.
(Dieser Text ist am 23. Dezember 2010 als Online-Spezial-Beitrag erschienen)