Die verkaufte Freiheit
Bob Dylan war mit seinem Album Freewheelin’ 1963 auf Anhieb der Hymnenmeister einer westlichen Gesellschaft, der – nach all der blasiert zur Schau gestellten Saturiertheit der Nachkriegsjahre – der Bauch zu knurren begann vor Emanzipationshunger. Ob er die Zeitenwende besang, in der die etablierten Autoritäten zugeben müssten, dass ihnen das Wasser bis zum Hals stehe; ob er sarkastisch Drogenrausch und Mobattacken in eins setzte und rief „everybody must get stoned“; ob es gegen den Rassismus, gegen die Kriegsherren oder einfach um ungebundene Liebe ging: Dylan speiste die Hungrigen mit einem Lebensgefühl der Freiheit. Es war der elan vital der neuen Linken, die in ihren goldenen sechziger Jahren daran ging, aus der Randexistenz auszubrechen. Klug und mit Ironie stellte sie die gesinnungsschnüffelnden Feindbilder des Antikommunismus bloß, überwand die Hürden des Vorurteils, die sie von der bürgerlichen Mehrheit trennten, wurde gesellschaftsfähig und nahm Anlauf zu erobern, was neue linke Theorie dann zunehmend präpotent „kulturelle Hegemonie“ nannte.
Wer befreit ist, muss selbst handeln
Als aber diese Verbundenheit mit dem wachsenden Mehrheitsbedürfnis eines sich wandelnden Bürgertums tatsächlich Gestalt annahm, brauchte es gar keinen begrifflichen Überbau. Das Selbstbewusstsein einer neuen politischen Generation war direkt erfahrbar. Wer für die Befreiung aus unwürdigen Bindungen stand, wer gegen die von Familie und Kirche vorgegebenen Lebenspläne, die arrangierten Ehen, die vom Vater bestimmten Berufe, wer gegen das ganze soziale Lügengewebe des bigotten Konservatismus protestierte, wer die spätkoloniale Unterdrückung indigener Völker oder die Komplizenschaft des Westens mit faschistischen Militärdiktaturen kritisierte, der wurde Tag für Tag mehr aufgeklärtes Bürgertum und fortschrittliche Mitte der Gesellschaft.
Dabei liegt die stärkste Emotion der Freiheit im ersehnten Moment der Ablösung. Der Ausgang aus der Unfreiheit bestimmt den Traum der Emanzipation. Das hat etwas Irreales und entfesselt zugleich die größte Leidenschaft. Selbst wo unter den Bedingungen der Diktatur das Risiko der Befreiung groß und der Erfolg ungewiss ist, bleibt die Klarheit des Ziels ungetrübt. Der Augenblick aber, der den Wunsch erfüllt, zerstört auch den Traum. Was Freiheit ist, heißt es paradox, empfinden diejenigen am stärksten, denen sie am meisten fehlt. Denn gegen die Intensität der unerfüllten Sehnsucht schmeckt der Erfolg eher fade, und er wird anstrengend. Das ist sein Preis. Wer befreit ist, muss selbst handeln. Er muss selbst das Ziel bestimmen. Rasch verirrt er sich in Richtungslosigkeit, oft fällt er in Einsamkeit. Denn es ist leichter, sich aufzulehnen und loszusagen, als mit den gewonnenen Möglichkeiten etwas anzufangen. Wer frei ist, aber Auflehnung als Geste fortsetzt, will von der Träumerei nicht lassen. Der Mensch in einer Revolte, die keinen Gegner mehr hat, ist eine kindische, lächerliche – oder eine fürchterliche Figur, die sich ihre Feinde selbst erschafft. Anders als der kurze Moment der Befreiung braucht die Freiheit zum Gelingen auf Dauer etwas anderes als den romantisierenden Protest.
Die großen Erwartungen sind eine Falle. Zur historischen Erfahrung der Freiheitsrevolutionen, der Jugendrevolten und der politischen Neuanfänge gehört die große Enttäuschung. Das alle verbindende Ziel ist erreicht, die Bastille gestürmt, das Regime gestürzt, die Mauer gefallen, die Zensur fort, die Autoritäten sind der Lächerlichkeit preisgegeben, eine neue politische Mehrheit ist errungen, die Wege öffnen sich, alles scheint möglich, alles kann ungehindert gesagt werden – und doch folgt auf den Rausch der Kater. Denn die neuen Ziele sind unklar und umstritten. Die zuerst einheitliche Bewegung der Revolte spaltet sich in Lager, Gruppen, Subgruppen, ideologisierende Sektierer hier, eskapistische Esoteriker und Dauerprotestler dort, dazwischen viele demoralisierte Aktivisten a. D., die sich mit großer Enttäuschungsgeste ins kleine private Glück zurückziehen. Das alles ist aus der Geschichte immer wieder herauszulesen, und es ereignete sich zum Ende der sechziger Jahre in der neuen Linken des Westens ebenso wie nach 1989 mit der ostdeutschen Bürgerbewegung. Je erfolgreicher sie die politische Kultur beeinflussten, desto zahlreicher ihre Fraktionen. Je offener und verständnisvoller die Repräsentanten etablierter Institutionen auf die Herausforderung reagierten, desto härter die weltanschauliche Verschanzung derer, die sich ihre Dissidenz nicht nehmen lassen wollten. Die Bewegung zerfällt mit derselben Dynamik, mit der sie erfolgreich war. Erfolg und Zerfall geschehen im selben Moment.
Für die politische Linke folgt daraus die Frage, warum sie die „kulturelle Hegemonie“ verspielte, als sie die besten Voraussetzungen hatte, sie dauerhaft zu gewinnen. Für jeden Liberalen, ob links oder nicht, drängt sich jedoch die größere Frage auf, ob der Impuls zur Freiheit eine einzige Enttäuschungsgeschichte ist und sein muss. Die erste dieser Fragen ist vergleichsweise leicht zu beantworten. Es war der Irrsinn der Ideologisierung, mit dem der Verlust an meinungsbildender Kraft einherging. Dafür lassen sich unzählige Beispiele anführen. An den westdeutschen Universitäten, die sich schon längst für die kritischen Geistes- und Sozialwissenschaften öffneten, hatte bei den politisierten Studenten das Spiel mit der Gewalt begonnen. Gewalt als Gruppendruck zur Intoleranz – gegen die, die sich politischen Kundgebungen entzogen oder ihre Zeit „überkommenen“ Formen widmeten, wie etwa ein klassisches Musikinstrument zu lernen. Gewalt als intellektuelle Geste der Radikalität – sich nicht einlullen zu lassen in folgenlosen Debatten, sondern die „Aktionen“ und „Taten“ auf der Straße zu rechtfertigen. Gewalt als Sympathie mit den „Verdammten dieser Erde“, wie sie Frantz Fanon bezeichnete – die des Blutvergießens bedürften, um sich aus der Unterjochung des Kolonialismus zu erheben. Gewalt als Parole gegen konservative Hochschullehrer – da standen schließlich bei den „Studentenstreiks“ im West-Berlin der siebziger Jahre die Worte „Hängt ihn auf“ und „Liquidiert ihn“ auf den Plakaten.
Ein Spiel war es, soweit diese Gewalt in der Demokratie sprachlich ausgestellt, aber kaum vollzogen wurde, soweit sie die bürgerliche Ordnung provozieren sollte, aber kaum gefährden konnte. Doch die Folgen im politischen Bewusstsein waren ernst und tief die Spuren im sozialen Code – dem also, was in Gruppen und Versammlungen mit der Aussicht auf Beifall gesagt wird, was in Publikationen des linken Spektrums geschrieben werden konnte, ohne Anstoß zu erregen. Es griff um sich, was John Stuart Mill schon an den Gesellschaftsreformern des viktorianischen Zeitalters erkannte: die „soziale Tyrannei“ der Besserwisser, die andere zu ihrem Glück zwingen wollen und deren theoretisierender Hochmut praktische Lebenserfahrungen und alltägliche Bedürfnisse denunziert.
So begann man die Verhältnisse zu verbiegen. Aus dem freien Willen wurde das falsche Bewusstsein. Aus Unterdrückung wurde Fortschritt, wenn die Apparatschiks nur den kommunistischen Jargon beherrschten. Die Linke verlor den Willen und vielleicht sogar die Fähigkeit zur Unterscheidung zwischen Demokratie und Diktatur. Sie verlor die Wertschätzung für die freie Rede, die sie im Konflikt mit Individualisten, Ästhetizisten, Störenfrieden jeder Art nicht mehr verteidigte. Wenn heute ein religionsextremistisch aufgeputschter Mob mit Morddrohungen gegen Schriftsteller oder Karikaturisten auftritt, müsste jeder Instinkt der Linken bei der Meinungsfreiheit sein. Er ist es aber nicht. Die politische Linke verteufelte die liberale Kultur und unterzog sich einem Autoexorzismus. Freiheit war ihr eigener glühender Wertekern. Wo er erlosch, blieb der Linken vom stolzen Anspruch auf „kulturelle Hegemonie“ nichts als eine kraftlose Theorieübung.
Das Bedürfnis nach Normalität und Ordnung ist stärker als die Bereitschaft zur geduldigen Beteiligung an quälenden Selbstfindungsprozessen oder Indoktrinationsexerzitien. Der liberale Teil des Bürgertums floh dem konservativen – zu dessen Erstaunen – in die Arme und reanimierte, was schon tot geglaubt war. Vorher ging man demonstrieren, jetzt lieber ins Geschichtsmuseum. Das war im Verlauf der siebziger Jahre die Restauration in den westlichen Demokratien, von der aus die alten Förmlichkeiten, konventionellen Familienmodelle, Religionen, nationalen Traditionen und Hierarchien einen neuen Charme bekamen. Ein Echo deutscher Geschichte im kleineren Resonanzkörper der Bundesrepublik: Denn im 19. Jahrhundert hatten Liberale schon einmal die politische Freiheit verraten. Der Liberalismus floh die Politik, mied die Kultur und widmete sich nun dem Geschäft. Die neoliberale Entfesselung der Wirtschaftssubjekte löste die linksliberale Emanzipation der Bürgerinnen und Bürger ab.
Die zweite und bedeutendere Frage ist damit nicht beantwortet: Ob der Zyklus von großen Erwartungen und schweren Enttäuschungen die anthropologische Konstante jeder Freiheitsbewegung ist. Zunächst lehren die schlechten Erfahrungen, dass der libertären Schwärmerei die Strafe der konservativen Tendenzwende auf dem Fuße folgt. Die Auflehnung gegen Diktatur, Tradition oder Bürokratie wappnet noch niemanden für die Zeit, da der Gegner überwunden ist. Der Traum der permanenten Revolte wiederum ist eine dunkle Illusion. In der Realität führt die Überanstrengung utopischer Energien in politische Zersplitterung, Erschöpfung und Isolation, letztlich in die Rückkehr autoritärer Ideen, die der drohenden Anomie begegnen wollen.
Damit sind aber die schweren Probleme der wirtschaftsliberalen Zügellosigkeit, die sich nach 1989 des Freiheitsbegriffs bemächtigte, noch gar nicht wirklich berührt. Wer schlichten Gemüts die freie wirtschaftliche Entfaltung beschwört, wird unter den heutigen Bedingungen der Eigentumskonzentration die Camouflage großer ökonomischer Macht betreiben, die sich allen begrenzenden und ausgleichenden Regeln entziehen will.
Was zum Repertoire des Marktradikalismus gehört
Nach den Erfahrungen mit den neuesten Krisen des Schuldenkapitalismus zu Beginn des 21. Jahrhunderts schließt sich auch auf den liberalisierten Märkten der Kreislauf von überzogener Verheißung und bitterer Enttäuschung. Wieder ist es die drohende Anomie, die das Bürgertum erschreckt und nach dem Staat als Ordnungsmacht rufen lässt. Vergessen ist noch nicht: Zum Repertoire des Marktradikalismus gehören rhetorische Provokationen gegen gemeinwohlorientierte Moral, kaum verbrämter Sozialdarwinismus, komplex organisierte Kriminalität, serielle Rechtsbrüche, kollabierende Finanzsysteme und verschuldete Staatshaushalte am Gängelband des Kapitals. Wohin sich der Liberalismus nach diesem neuen kostspieligen Bankrott noch wenden kann, ist ungewiss. Er hat nicht zum ersten Mal seinen Kredit verloren und sein Renommee eingebüßt. Er ist, zumindest in Deutschland, wieder heimatlos. Einstweilen will sich hier niemand mehr liberal schimpfen lassen.
Freiheit ist ein verführerischer Begriff, scheinbar leicht und verständlich, anziehend und selbsterklärend, aber wie kaum ein anderes politisches Konzept auch von Ambivalenzen und Fallstricken umgeben. Deshalb ist die verbreitete Skepsis berechtigt, die der naiven Rede über die Freiheit heute überall begegnet. Es reicht aber nicht, die Achseln zu zucken und abzuwinken. Die Sache, um die es geht, hat einen so hohen Rang für das Selbstbild der Moderne, dass man ihr auf den Grund gehen muss: Die Idee der Freiheit ist in der Krise. Die Linke hat sie preisgegeben. Die Konservativen werfen, was sie nach 1989 schick fanden, neuerdings weg wie einen Lumpen. Aber auch die Neoliberalen verlieren jetzt die bürgerliche Mitte. Die politischen Lager von links wie rechts wenden sich wieder dem Staat zu, um die Kontrolle über soziale und wirtschaftliche Prozesse zu behaupten. Oder sie schauen zu den technokratischen Staatssurrogaten auf internationaler Ebene: den von nationalen Steuerzahlern bezahlten und besicherten Währungsfonds, Finanzsicherungsmechanismen oder Zentralbanken, die große Risiken eingehen und sich vom demokratischen Souverän entfernen. Wer mit dem Griff nach solchen Apparaten die Märkte besiegen will, der muss wissen: Auf der anderen Seite der antiliberalen Münze steht die Schwäche der Demokratie. Die Verstärkung von exekutiver Kontrollmacht, das lässt die Forderung nach dem „Primat der Politik“ zuweilen vergessen, ist noch lange keine Demokratie.
Der Verlust von politischer Glaubwürdigkeit und von Vertrauen hat zur Verrohung der politischen Umgangsformen beigetragen. Eine Politik, die verspricht, aber nicht liefert, macht sich auf Dauer unmöglich. Die Kritik an den regierenden Parteien und an einzelnen Politikern ist schärfer geworden. Ätzender sind die Kontroversen, die oft nicht mehr nur Auffassungsunterschiede ausdrücken, sondern schiere Verachtung. Die Hoffnungsträgerzyklen werden immer kürzer. Dabei gilt das Gesetz, dass der härteste Vorwurf, der giftigste Kommentar die größte Aufmerksamkeitsprämie der Medien bekommt. Doch nicht nur die Streitgegenstände beeinflussen diesen Trend. Die Formen der Öffentlichkeit selbst sind in einem fundamentalen Wandel, seit das Internet zum dominierenden Meinungsmarkt geworden ist.
Wie unterscheidet sich der Demokratieverächter vom Kritiker?
Demokratieverachtung hat viele Gesichter. Das eine ist die berechtigte Verachtung von Heuchelei im Amt, die sich unberechtigt dazu verleiten lässt, über ein ganzes Regierungssystem den Stab zu brechen. Es ist der natürliche Widerwille, über den Missbrauch von Macht oder das Versagen im Amt hinwegzusehen. Es ist der verständliche Ärger über die hochmütige Verharmlosung dieser Fälle, der indes umschlägt in die Verdammung einer Ordnung der Freiheit. Dabei bringt sie es immerhin fertig, Verfehlungen öffentlich zu machen und den Rücktritt nach besonders eklatanten Fehltritten zu erzwingen. Demokratieverachtung ist Wut, die erblindet. Aus Ohnmacht wächst ein hemmungsloser Zorn, der nichts mehr gelten lässt aus der demokratischen Welt der kleinen Schritte, der halben Lösungen, der relativen Verbesserungen, der ambivalenten Kompromisse, der zahlreichen Zielkonflikte und Abwägungsfälle. „Labert nicht rum“, schallt es den Bedächtigen twitternd entgegen.
Woran unterscheidet sich der Demokratieverächter vom Kritiker? Er misstraut, und zwar manisch. Er ist Voyeur, nicht Akteur. Er ist besessen vom Fatum des Irrwegs, statt den Ausweg zu suchen. Er ist süchtig nach unwiderlegbaren Verschwörungstheorien. Er verspritzt Gift und Galle, wo er sich äußert, und zerstört die Unterscheidungsfähigkeit der politischen Sprache. Die Demokratieverächter gehören zur Herzkönigin in „Alice im Wunderland“, die jederzeit „Kopf ab!“ ruft. Sie genießen die Anonymität des Internets und die Kälte der radikalen Parole – egal ob links oder rechts herum. Der Ausbruch der Gewalt befriedigt sie.
Niemand sollte aber die Demokratieverachtung übersehen, die aus Staatsämtern heraus handelt: Ein Staatsoberhaupt, das Journalisten anruft und ihnen den Krieg erklärt, wenn sie weiter berichten. Eine deutsche Regierungschefin, die ein in Griechenland geplantes Plebiszit über staatliche Ausgabenkürzungen zulasten von Arbeitnehmern und Rentnern kurzerhand verhindert. Eine Regierung, die das Parlament über milliardenschwere Euro-Rettungspakete zuerst täuscht, dann vor vollendete Tatsachen stellt und schließlich ultimativ auffordert, fristverkürzt zu beraten und zu entscheiden. Ein Europäischer Rat von Regierungen, die für Griechenland und Italien eine Machtübernahme von nicht gewählten Finanztechnokraten aus der Gilde von Goldman Sachs gutheißen. Regierungen, allen voran die deutsche, die in der Schulden- und Währungskrise das Heft des Handelns der demokratisch nicht legitimierten Zentralbank überlassen, um sich selbst gegen Kritik zu immunisieren.
Verrat an der Freiheit 2.0
Selbst wohlgesinnte Europäer, die gegen den nationalen Populismus streiten, können irren. Die Demokratie „dem Untergang zu weihen“, „ihre Institutionen abzuschaffen, soweit sie nationale Institutionen sind“, zu „stoßen, was ohnehin fallen wird, wenn das europäische Projekt gelingt“, wie Robert Menasse jüngst schrieb. Ist das die intellektuelle Antwort auf die Sorge, dass gewählte Parlamente das Königsrecht des Haushalts verlieren und am Gängelband eines Finanzmarktes laufen, der nach Liquidität giert? Das wäre ein zweiter Verrat der Intellektuellen an der Freiheit. Jeder zweite junge Europäer verbindet mit der Europäischen Union vor allem Freiheit; alle anderen Ziele folgen mit weitem Abstand. Das zeigte eine Umfrage der Europäischen Kommission gemeinsam mit dem Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften im Jahr 2011.
Als aufgeklärter Despot hat die EU keine Zukunft. Gilt in Europa die Freiheit nichts mehr, wird alles andere hohl. Zum zweiten Mal würde die nicht perfekte Demokratie einem idealen Traum geopfert. „Wir müssen dieses letzte Tabu der aufgeklärten Gesellschaften brechen: dass unsere Demokratie ein heiliges Gut ist“, fordert Robert Menasse. Nein, das müssen wir nicht. Und gewiss nicht, solange das Versprechen einer echten „erkämpften“ Demokratie auf europäischer Ebene so saumselig daher kommt. Das Gegenteil ist richtig. Gegen die Verwahrlosung der Demokratie müssen wir die nationalen Parlamente stark machen und ein neues europäisches Projekt aufbieten, das der Verachtung der Freiheit gewachsen ist.
Allen zerbrochenen Träumen und enttäuschten Erwartungen zum Trotz bleibt das Versprechen der Emanzipation politisch aktuell. Denn der Mensch will sich nicht klein machen lassen. Die Hymnen Bob Dylans stehen unter Nostalgieverdacht. Der Fall der Mauer entrückt in die Geschichtsbücher. Die demokratische Renaissance Osteuropas droht als Erfahrung historischen Fortschritts in vielen Ländern unter dem Unglück einer Selbstbereicherungsoligarchie, die nationale Ressentiments schürt, verschüttet zu werden. Seit drei Jahren erfasst nun die Krise des freiheitlichen
europäischen Einigungsmodells auch den politischen Kern der EU. Den verarmenden Schichten und arbeitslosen Jugendlichen der Euroländer gelten nicht mehr Aufbruch und Aufbau als Signum Europas, sondern ein Austeritätsdiktat, das in Rezession und noch höhere Verschuldung führt.
Die Politiker des Neoliberalismus scheinen im Strudel der finanzmarktgetriebenen Schuldenkrise den Kampf um die Kürzung von Staatsausgaben wie das bittere letzte Gefecht einer Ideologie zu führen, über die sie selbst schon verunsichert sind. Hier aber glauben sie noch einmal Recht zu haben! Und wie überbieten sie sich im giftigen Ressentiment gegen verschuldete Länder. Auch das trägt bei den Verlierern der Finanzmarktkrise nun jeden Tag mehr zur Verachtung einer hohlen Freiheitsparole bei, von der sie sich nichts kaufen können. So geht eine große europäische Idee vor die Hunde. Europa ringt nicht nur um seine Währung, sondern um sein Selbstbewusstsein als ein verheißungsvolles Zukunftsmodell der Globalisierung.
Dennoch: Freiheit ist – ebenbürtig mit Gerechtigkeit – der elementarste der politischen Werte. Der Impuls zur Freiheit vereint in sich, im gleichen Rang wie das Streben nach Gerechtigkeit, die größten der auf die öffentliche Sache gerichteten Leidenschaften. Beide bilden das Geschwisterpaar der Aufklärung, von dem sich keine egalitäre Demokratie entfremden darf. In den programmatischen Traditionen unserer Volksparteien hat sich als fernes Echo der Französischen Revolution eine dritte Grundnorm behauptet: damals Brüderlichkeit, heute Solidarität. Sie ist in einer plural beschleunigten Gesellschaft, die noch irgendwie zusammenhalten soll, der wohl notwendigste Wert. Aber er ist abgeleitet. Er ist ein Mittel, um das gleiche Recht auf gesicherte Freiheit für die Schwachen zu verwirklichen. Solidarität ohne Freiheit wäre anmaßend. Als Zweck in sich selbst käme sie ewig mahnend, moralisierend und einklagend daher. Sie liefe immer Gefahr, den Hilfsbedürftigen wie ein Mündel zu behandeln, das versorgt wird, sich aber zu fügen hat. Sie stünde dem autoritären Gefüge der alten Religionen näher als der Moderne. Mit dem erhobenen Zeigefinger Solidarität einzufordern von den Individualisten in einer individualisierten Gesellschaft, das kann keiner politischen Bewegung hinreichend Kraft geben, am wenigsten einer aus der Familie der progressiven Demokraten.
Wo die Revolte abbricht und die Träumer erwachen
Nur wer das Geschichtsbild der Aufklärung als, in Hegels Worten, Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit bekräftigt, wird „die Bürgerinnen und Bürger“ – also uns selbst, wen denn sonst? – begeistern statt befremden und ermüden. Viele Irrungen und Wirrungen der Linken sind aus der Preisgabe der Freiheit und der langen Gegnerschaft zu allem, was liberal anmutet, zu erklären. Der Wiedergewinn der gesellschaftlichen Meinungsführerschaft und der politischen Mehrheitsfähigkeit sozialdemokratischer Parteien wird gelingen, wenn sie das liberale Erbe wieder entdecken und mit aller Entschiedenheit zu ihrer eigenen Sache zu machen verstehen. Genau besehen finden sie damit zu sich selbst zurück.
Wenn der Freiheitswunsch die größte säkulare Verheißung mit dem notorischsten Enttäuschungspotenzial ist, dann allerdings erfordert der scheinbar leichteste Wert die anspruchsvollste Politik. Diese Politik beginnt dort, wo die Revolte abbricht und die Träumer erwachen. Sie stemmt sich dagegen, mit den Illusionen zugleich die Ideale zu erledigen. Aber sie weiß um die Zumutung, den großen Erwartungen ein lebbares Leben und eine beständige Ordnung abzugewinnen. Sie antwortet auf das bürgerliche Unbehagen an der Verwahrlosung des Rechts. Sei es dort, wo die Meinungsfreiheit durch das Spiel mit der Gewalt eingeschüchtert wird, wo die neuen, bevölkerungsstarken strategischen Mächte der Globalisierung die liberalen Nationalstaaten marginalisieren, oder sei es dort, wo der Kapitalismus, die Ungleichheit, der Missbrauch öffentlicher Ämter oder die Geringschätzung der Demokratie die Gesellschaften spalten.
Kein Zweifel, der archimedische Punkt in der Kultur der Aufklärung ist unsicher geworden. Die Wertegrundlage schwankt, auf die wir noch gewohnheitsmäßig den Fuß setzen, um politisch Halt zu finden. „Zur Freiheit“, der Weckruf der demokratischen Revolutionen seit bald zweieinhalb Jahrhunderten, weist keine selbstverständliche Orientierung mehr. „Zur Freiheit“ strebte nicht nur das besitzende Bürgertum, sondern nicht minder die abhängige Arbeiterschaft, als sie vor 150 Jahren die Sozialdemokratie gründete. Freiheit bleibt die Seele jeder humanen und demokratischen Bewegung. Sie ist heute tief verletzt und droht aus der politischen Sprache zu verschwinden. Sie droht zu dem Gespenst zu werden, gegen das die Enttäuschten und Empörten in Europa zur Hetzjagd rufen. Es geht um das Erbe und um das Selbstbild Europas im 21. Jahrhundert, um das, was die Europäer in sich selbst sehen, und von dem sie wollen, dass es andere in ihnen sehen. Nicht zuletzt geht es um die klaffende Leerstelle in der politischen Kultur Deutschlands, in der links und liberal verfeindet sind. Es geht um einen Neuanfang, der auf die Aufklärung zurückgreift: Freiheit demokratisch und egalitär, nicht marktradikal, sondern sozialliberal. Das ist das Programm.
Dieser Text basiert auf Oliver Schmolkes Buch „Zur Freiheit: Ein linksliberales Manifest“, das Ende April im vorwärts buch Verlag erscheint. Es hat 120 Seiten und kostet 10 Euro.