Mazedonien und Europa brauchen einander
Am 9. und 10. Mai 2015 kam es in Kumanovo, der drittgrößten Stadt Mazedoniens, zu gewaltsamen Ausschreitungen. Informationen der mazedonischen Regierung zufolge bekämpften die Sicherheitskräfte kosovoalbanische Terroristen, die ins Land eingedrungen waren. Die Opposition vermutete hingegen, die Regierung habe diese Gewaltaktion veranlasst, um von der innenpolitischen Krise abzulenken.
Die Lage in Mazedonien ist schon länger hochexplosiv: Nach der Parlamentswahl im April 2014 warf die Opposition dem Ministerpräsidenten Nikola Gruevski Wahlfälschung vor und boykottiert seither die Parlamentssitzungen. Anfang dieses Jahres präsentierte Oppositionsführer Zoran Zaev Telefonmitschnitte, die den Verdacht der Wahlfälschung erhärteten. Sie belegen, dass die Regierung politische Gegner und internationale Stellen systematisch abhörte.
Seit Jahren missachtet die Regierung die unabhängige Justiz und verfolgt regierungskritische Journalisten. Viele Menschen trauen sich nicht, ihre Meinung offen zu äußern - oft genug aus existenziellen Gründen: Während das Land eine schwere wirtschaftliche Krise durchlebt, ist der öffentliche Sektor unter der Regierung Gruevski von unter 100 000 auf 180 000 Beschäftigte angewachsen. Wer einen dieser begehrten Jobs ergattern will, darf die Regierung nicht kritisieren. Gleichzeitig steht die Regierung aber im Zentrum vieler Korruptionsaffären.
Ein gescheiterter Staat - mitten in Europa
Mazedonien ist ein gescheiterter Staat mitten in Europa. Daran sind wir nicht unschuldig. Einst war das Land eine Art Muster-Beitrittskandidat für die Nato und die Europäische Union, doch seit 2008 blockiert der festgefahrene Namensstreit mit Griechenland weitere Fortschritte. Aufgrund seiner gleichnamigen Region weigert sich Griechenland, den Landsnamen „Mazedonien“ anzuerkennen. Weil die Beitrittsperspektive fehlt, flüchtet sich Mazedonien in einen aussichtslosen Nationalismus.
Was also tun? Erstens brauchen wir eine schnelle Lösung des Namensstreits. Vermittlungsversuche schlugen bisher fehl. Eine pragmatische Klärung der Frage ist überfällig.
Zweitens: Der Namensstreit darf die Integration Mazedoniens in Nato und Europäische Union nicht weiter belasten. Unabhängig davon sollte die EU weitere Verhandlungskapitel mit Mazedonien eröffnen. Für die Menschen im Land wäre das ein positives Signal, denn von der Europäischen Union, die einst um sie warb, fühlen sich die Mazedonier im Stich gelassen. Um ihr Vertrauen zurückzugewinnen, müssen wir ihnen eine klare Perspektive bieten.
Drittens: Wir müssen regionaler denken. Was in Mazedonien geschieht, berührt den gesamten Westbalkan. Dies betrifft besonders die ethnische Frage. Wir sollten uns gegen alle nationalistischen Bestrebungen einsetzen - auch auf albanischer Seite. Ein Großalbanien ist ebenso ein Tabu wie ein Großserbien. Europa sollte sich einmal mehr zu den bestehenden Grenzen bekennen.
Drohen weitere ethnische Konflikte?
Könnte durch die angespannte Lage in Mazedonien der Bürgerkrieg auf dem Westbalkan wieder aufflammen? Der Balkan war schon immer ein Pulverfass. Eine Gefahr für den Frieden auf dem Westbalkan ist eine Gefahr für den Frieden in Europa.
Um sich gesellschaftlichen Rückhalt zu sichern, spielen Politiker des Westbalkans gern die „ethnische Karte“. Ob der Vorfall in Kumanovo nun auf das Konto der mazedonischen Regierung geht oder nicht: Zumindest hätte er das Potenzial, die slawische Mehrheitsbevölkerung gegen die albanische Minderheit aufzuhetzen. Sollte dies die Strategie der Regierung gewesen sein, dann ging sie diesmal nicht auf.
Beeindruckt hat mich, wie besonnen und mutig die Menschen in Mazedonien reagiert haben. Sie ließen sich nicht von der innenpolitischen Krise ablenken und protestierten öffentlich. Spontan formierte sich eine Bürgerbewegung - unabhängig von Ethnie und Religion. Nach dem Vorfall trafen sich die Demonstranten Abend für Abend in der Hauptstadt Skopje und trugen zusammengebundene albanische und mazedonische Fahnen durch die Straßen. Der Höhepunkt des Protests war eine Großdemonstration am 17. Mai, der sich Zehntausende anschlossen, trotz der erwartbaren Repressionen.
Die Mazedonier wollen einen funktionierenden Staat, in dem sie ohne Angst leben und arbeiten können. Dieses Ziel werden sie alleine nicht erreichen, sondern nur mittels internationaler Unterstützung. Solange auf dem Westbalkan kein Krieg herrscht, wird sich die europäische Politik wohl kaum für diese Region interessieren und ihr Schicksal den Beamten aus Brüssel überlassen. Doch die Annäherung fragiler Staaten an die Europäische Union darf nicht verwaltet, sondern sie muss politisch gestaltet werden. Sonst ist eine weitere Eskalation der Gewalt absehbar.
Was für die EU auf dem Spiel steht
In den Vereinigten Staaten werden Zweifel laut, ob der frühe Abzug des Militärs aus den Westbalkanländern richtig war. Viele sind der Meinung, die Europäer würden mit der Situation nicht umgehen können. Der russische Außenminister Sergej Lawrow mokiert sich derweil über ein – in seinen Augen – unfähiges Europa. Das bedeutet: Ob die Europäische Union als außenpolitischer Akteur ernstgenommen wird, entscheidet sich auch an den Entwicklungen in den Westbalkanstaaten. Rund 25 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs müssen wir uns klar machen, dass einige Nachbarstaaten mit ihrer Souveränität nicht umgehen können – und wir sollten entsprechend handeln.
Lösungen für Mazedonien zu finden ist unsere Aufgabe – und nicht die Aufgabe der Vereinigten Staaten oder Russlands. Die Mazedonier hoffen auf Deutschland und den deutschen Einfluss innerhalb der EU. Mit dem ersten Westbalkangipfel im August 2014 in Berlin hat Deutschland sein Interesse an einer positiven Entwicklung in Südosteuropa dokumentiert. Nun kann die Bundesregierung beweisen, dass wir Verantwortung übernehmen, um den Frieden in Europa zu sichern.
Die von der Europäischen Union moderierten Gespräche zwischen den beiden politischen Lagern sind der richtige Weg. Hat die EU damit Erfolg, wäre der Häme aus den Vereinigten Staaten und Russland die Grundlage entzogen. Zudem könnte die EU angesichts der stagnierenden und von Großbritannien infrage gestellten Vertiefung des europäischen Integrationsprozesses ihre Erfolge wieder in der Erweiterung Europas suchen. Der zweite Westbalkangipfel im August 2015 in Wien ist die ideale Gelegenheit, um der Erweiterungsstrategie einen neuen Impuls zu verleihen.
(Dieser Text ist am 29. Juni 2015 als Online-Spezial-Beitrag der Berliner Republik erschienen.)