Zeigt doch mal Gefühl!
Eigentlich bin ich Arbeitsmarktpolitiker. Aufgrund meiner persönlichen Geschichte gelte ich jedoch automatisch als Integrationsfachmann: Als 15-Jähriger kam ich aus dem ehemaligen Jugoslawien nach Deutschland, und 1998 erhielt ich die deutsche Staatsbürgerschaft. In der aktuellen Diskussion finde ich mich nicht wieder, und ich weiß, dass es vielen Menschen mit so genanntem Migrationshintergrund ähnlich geht. Aus meiner Lebenserfahrung heraus möchte ich daher einige Denkanstöße geben.
Derzeit diskutieren selbst ernannte Fachleute über Integration – und reden dabei vornehmlich über Bildungspolitik und Fachkräftemangel. Natürlich sind dies wichtige Politikbereiche, aber erfolgreiche Integration bedeutet mehr als nur das Interesse von Politik und Wirtschaft an gut ausgebildeten Arbeitnehmern. Den Fehler, nur an Arbeitskräfte und Wirtschaft zu denken, haben beide Seiten – Einwanderer und Aufnahmegesellschaft – bereits bei der Ankunft der Gastarbeiter begangen. Um das nicht zu wiederholen, müssen die gesellschaftlichen Auswirkungen von Migration und Integration in den Vordergrund gestellt werden. Für mich bedeutet Integration vor allem Identifikation. Ich werde oft als „gut integriert“ bezeichnet. Was das bedeutet, ist mir selbst nicht klar. Mal bin ich Deutscher, mal Migrant – je nach Sichtweise meines Gegenübers. Deutlich ist aber, dass ich mich mit unserer Gesellschaft identifiziere.
Integration fängt mit einem Zugehörigkeitsgefühl an. In meiner Zeit als Fließbandarbeiter bei Audi habe ich mit Kollegen aus mehr als 50 Nationen zusammengearbeitet. Viele von uns kamen aus kleinen Dörfern in der Türkei oder Jugoslawien. Die meisten hatten keine hohe Schulbildung. Doch bei Audi haben wir uns als „Audianer“ gefühlt, wie eine Familie. Ein solches Gefühl müssen wir im gesamten Land schaffen: „Wir sind alle Deutsche!“ Wir brauchen einen doppelten Integrationsprozess. Denn Integration geht nicht nur die Einwanderer an, sondern auch die Aufnahmegesellschaft, die sich mit einer durch die Migranten veränderten Gesellschaft identifizieren muss.
Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass Einwanderer in unserem Land oft den Eindruck bekommen, sie seien hier nicht willkommen; sie fühlen sich als „Bürger zweiter Klasse“. Auch wenn ich bereits seit 1981 mit einer Deutschen verheiratet bin, habe ich erst 1998 die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen. Nachdem ich mich wunderte, dafür 500 DM bezahlen zu müssen, sagte die Dame in der Behörde zu mir: „Wer unsere Staatsbürgerschaft haben will, der muss es sich eben auch leisten können!“ Ich hatte den Eindruck, dass die deutschen Behörden gar nicht an meiner Einbürgerung interessiert waren, auch wenn ich schon seit Jahrzehnten in Deutschland gelebt und gearbeitet, mich hier politisch und gesellschaftlich engagiert hatte. Gerne hätte ich der Dame gesagt: „Zeigen Sie doch mal Gefühl!“. Denn die Staatsbürgerschaft ist von großer emotionaler Bedeutung für mich – als Anerkennung dessen, was ich für Deutschland in den vergangenen Jahren getan hatte. Staatsbürgerschaft darf nichts sein, das man „sich leisten kann“, sondern sie muss eine Anerkennung der Einwanderer darstellen im Sinne von: „Ja, Du gehörst zu uns!“
Aufs konkret erlebte Dazugehören kommt es an
In mein Bürgerbüro kommen viele Einwanderer, die Probleme im Umgang mit den Behörden haben. In vielen Fällen können wir helfen. Oft geht es nur darum, dass Behördenmitarbeiter unter Stress stehen und nicht ausreichend Zeit oder keine sprachlichen und interkulturellen Qualifikationen haben, um Formulare und Abläufe zu erläutern. Aber: Behörden und Botschaften repräsentieren unseren Staat und seinen Umgang mit Einwanderern. Wir brauchen daher dringend mehr interkulturelle Kompetenz, überarbeitete Anweisungen und ein menschlicheres Arbeitsumfeld in den Behörden. Einwanderer müssen wissen, dass sie genauso wie alle anderen behandelt werden!
Viele Migranten haben den Eindruck, dass in der Politik nur über kleinteilige technokratische Gesetzesänderungen diskutiert wird und dabei die Bedeutung der jeweiligen Änderungen für das Selbstverständnis der Einwanderer überhaupt keine Berücksichtigung findet. Dem emotionalen Thema der Staatsbürgerschaft beispielsweise werden wir mit technokratischen Gesetzen wie dem missglückten Optionszwang nicht gerecht. Wir Sozialdemokraten waren immer eine Partei mit Herz und Verstand. Die Integrationsdebatte wurde bisher von zahlreichen auf Verstand begründeten Expertenmeinungen dominiert. Das Herz und das Einfühlungsvermögen sind dabei untergegangen. Diese wichtige Seite von Integrationspolitik, die Politik mit Empathie, müssen wir stärker in unsere Arbeit einbeziehen.
Die Erfahrungen des Dazu-Gehörens und der Anerkennung, die so entscheidend sind für Integration und Identifikation, habe ich nicht bei staatlichen Institutionen wie Ausländerämtern oder dem Arbeitsamt erfahren, sondern in meinem privaten Umfeld. In meinem Heimatort Gundelsheim war ich bei Sommerlagern des Roten Kreuzes und kämpfte mit den Jusos für ein Jugendhaus. Hier habe ich gemerkt, dass es egal ist, wenn mein Nachname nicht urdeutsch klingt. Ich war akzeptiert und anerkannt, und ich habe mich mit meinen Freunden, meinem Dorf und unserer Gemeinschaft identifiziert, so wie sie die Ideen akzeptierten, die ich mitbrachte. Auf dieser konkret erfahrbaren Integration vor Ort, die zum Glück viele Einwanderer in unserem Land erleben, müssen wir unsere Debatte aufbauen.
Viel zu oft wird Politik mit Integration gemacht, ohne diese Erfahrungen zu berücksichtigen. So ist das auch auf den Integrationsgipfeln der Kanzlerin, bei der die vermeintlichen Lösungen schon im Vorfeld feststehen. Wir müssen einen Weg finden, um von diesen Inszenierungen wegzukommen und Politik für Integration zu machen. Integration heißt auch Beteiligung, ohne dass die politischen Entscheidungsträger Ergebnisse bereits vorher festlegen. Einwanderer müssen sich selbst engagieren, und sie müssen eine ehrliche Chance bekommen, dabei zu sein, wo es „heiß“ hergeht und wo „harte“ Themen diskutiert werden. Oft werden Einwanderer in Parallelstrukturen wie Ausländerräten oder speziellen Arbeitskreisen in Parteien beteiligt, wo sie sich dann hauptsächlich mit sich selbst beschäftigen. Das ist höchstens eine Übergangslösung. Das Ziel muss sein, Migranten in die bestehenden Strukturen einzubeziehen.
Viele Einwanderer, nicht nur aus meinem Wahlkreis, kommen auf mich zu und sagen: „Mit dir und dem Özdemir können wir uns identifizieren.“ Um unsere migrantische Bevölkerung anzusprechen, brauchen wir eine höhere Beteiligung in der Politik. Mich würde freuen, wenn dazu keine Quoten notwendig sind, sondern Einsicht und taktisches Gespür. Der aktuelle Erfolg der Grünen beruht auf vielen Faktoren, aber darunter auch auf der Beliebtheit Cem Özdemirs und der Ablehnung der Sarrazin-Thesen vor allem in der türkischstämmigen Bevölkerung. Es ist zu erwarten, dass die Grünen der SPD unter diesen Wählern die Spitzenposition abnehmen. Auch in der Sozialdemokratie brauchen wir mehr Migranten, die Verantwortung übernehmen.
Für eine erfolgreiche Integration brauchen wir also Empathie und Beteiligung. Migranten benötigen kein Mitleid für ihre offenen oder verdeckten Benachteiligungen, sondern Wertschätzung, Anerkennung und Verständnis. Auch für die Aufnahmegesellschaft müssen wir diese Empathie haben und Gefühl zeigen. Nur so werden Migration und Integration zu einem Gewinner-Thema für die gesamte Gesellschaft – und für die Sozialdemokratie. «