»Europa ist in sehr großer Gefahr, zerstört zu werden«
Herr Snyder, um was für eine Ideologie handelt es sich beim Eurasianismus?
Das Entscheidende am Eurasianismus ist, dass er das ganze 20. Jahrhundert als einen ideenpolitischen Warentisch begreift, von dem man sich nach Belieben bedienen kann. Es ist demnach akzeptabel, an Ideen des Faschismus anzuknüpfen. Es ist akzeptabel, Ideen der Nazis aufzugreifen. Es ist akzeptabel, Ideen des Bolschewismus wiederzubeleben. Die allgemein verbreitete Tendenz im heutigen Europa ist demgegenüber die Einsicht: „Wir haben aus den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts bestimmte Lehren gezogen. Es gibt bestimmte Dinge, die wir zu vermeiden versuchen.“ Für den Eurasianismus gilt dies aber gerade nicht. Der Eurasianismus in diesem Sinne ist also postmodern. Er ist ein postmoderner Versuch, sämtliche Tabus zu zerstören und alle Ideen aufzugreifen, die geeignet erscheinen, Russland in welcher Weise auch immer als einen besonderen Staat erscheinen zu lassen.
In welcher Weise legitimiert die Ideologie des Eurasianismus imperiale Ambitionen Russlands?
Es ist klar, dass Putin bewusst die grundlegenden Normen und Gesetze der internationalen Ordnung in den Wind geschlagen hat – also Dinge, die wir für selbstverständlich hielten: dass das Völkerrecht üblicherweise zu befolgen ist und wir es zumindest prinzipiell akzeptieren; dass Staaten real existierende Gegebenheiten sind; dass Grenzen unverletzlich sind. Alle diese Gewissheiten hat Putin aufgekündigt. Er hat dafür gesorgt, dass sie heute allesamt wieder infrage stehen. Und um sie infrage stellen zu können, führt er die Ideologie des Eurasianismus ins Feld.
Was diese Ideologie im Kern ausmacht, das lässt sich nur sehr schwer bestimmen. Auf jeden Fall hilft der Eurasianismus Putin, indem er ihn mit neuen Begriffen und Konzepten versorgt, mit einem neuen Wortschatz, mit einer gewissen Energie. Der Eurasianismus kommt Putin zupass, weil er mit seiner Hilfe eine Art Gegenanspruch gegenüber dem Westen geltend machen kann: Russland ist nicht mehr einfach nur ein Objekt der internationalen Ordnung. Russland ist nun ein Faktor, der die internationale Ordnung herausfordert, auch in intellektueller Hinsicht.
Der Chefideologe des Eurasianismus ist Alexander Dugin. Dessen grundlegende Idee lautet, dass Liberalismus, Demokratie und Recht allesamt leere Gefäße sind, dass sie nicht mehr als Projektionen irgendeiner Form von amerikanischer Weltordnung darstellen. Es ist offensichtlich, dass sich Putin diese Perspektive mittlerweile in der einen oder anderen Form zu eigen gemacht hat.
Dugin vertritt die Idee, dass es die Ukraine nicht wirklich gibt; dass sie, wenn überhaupt, nur existiert, um kolonisiert zu werden; dass die Ukrainer keine wirklichen Menschen sind. Aus welchen Gründen auch immer scheint Putin diese Ideen nun übernommen zu haben. Dasselbe gilt für Dugins Idee, dass Russland den Ehrgeiz haben sollte, nicht allein Russland selbst, sondern den gesamten eurasischen Kontinent zu transformieren. Das ist inzwischen die Leitdoktrin der russischen Außenpolitik, wenn auch nicht in einer dramatischen Art und Weise. Aber immerhin: Die Russen verfolgen heute das Konzept einer neuen Eurasischen Union, die sich von Lissabon bis Wladiwostok erstrecken soll.
Wird Putins Strategie in der westlichen Welt missverstanden? Und wenn ja, wie?
Was uns am schwersten fällt, ist wohl, das Ganze überhaupt ernstzunehmen. Jedenfalls nehmen es viele sicher nicht so ernst, wie wir es tun sollten. Wir sehen es einfach als eine „Herausforderung“. Wir betrachten die Geschehnisse auf der Krim und sagen: „Da wird eine Regel gebrochen.“ Und da ist ja tatsächlich eine Regel gebrochen worden – aber es geht um sehr viel mehr. Ich denke, es ist die schiere Ernsthaftigkeit und die Radikalität der Herausforderung, die wir uns nur schwer klar machen können. Wir im Westen sind alle in einer Welt aufgewachsen, in der das Völkerrecht ernstgenommen wird. Wir sind alle in einer Welt aufgewachsen, in der Staaten andere Staaten anerkennen und in der diese Staaten nicht dadurch miteinander in Beziehung treten, dass sie Grenzen verletzen, sondern dadurch, dass sich Menschen über Grenzen hinweg bewegen.
Dies ist ein europäisches Modell, das alle Europäer heute im Großen und Ganzen für selbstverständlich halten. Womit wir es aber jetzt zu tun bekommen, das ist ein völlig anderes Modell; ein Modell, das viel eher der Theorie der internationalen Beziehungen oder dem Völkerrecht Deutschlands in den Jahren von 1933 bis 1945 ähnelt. Damals behaupteten Carl Schmitt und andere, dass das Recht im Kern hohl ist und der Staat als solcher überhaupt nicht existiert. Alles was existiere, seien Rassen sowie die faktische Macht, die diese Rassen jeweils auszuüben in der Lage seien.
Damit sind wir wieder bei Dugin angekommen. Für Dugin handelt es sich bei allen diesen Strukturen, die es den Menschen im Westen ermöglichen, in der Weise zu leben, wie sie leben, um ausgemachten Unsinn. Für ihn sind das Illusionen, Projektionen einer unterdrückerischen Weltordnung. „Wahr“ ist aus seiner Sicht allein die Fähigkeit Macht auszuüben.
Versucht Dugin tatsächlich, Gruppen innerhalb Westeuropas dazu zu bringen, die Europäische Union zu destabilisieren?
Was Dugin sagt, wenn er von einer Eurasischen Union von Lissabon bis Wladiwostok spricht, meint er meiner Ansicht nach völlig ernst. Ich glaube nicht, dass diese Eurasische Union jemals zustande kommen wird – schließlich müsste man schon ein sehr seltsamer Portugiese oder Franzose sein, um den Unterschied zwischen Bordeaux oder Lissabon und Wladiwostok nicht zu erkennen.
Aber trotzdem: Die Russen sind in der Lage, die Europäische Union zu schwächen. Und es liegt klar auf der Hand, dass sie dies mit großer Hingabe versuchen. In der westeuropäischen Debatte geschieht nun aber dies: Deutsche und andere blicken auf die Ukraine und sagen: „Na ja, das ist ein fernes Land, über das wir wenig wissen. Vielleicht sind die Ukrainer wirklich Faschisten. Vielleicht sind sie ja wirklich alle Russen? Was geht das uns an?“ Man findet in Westeuropa die verschiedensten, zumeist völlig lächerlichen Begründungen, weshalb es richtig sei, sich herauszuhalten und wegzusehen. Aber was in der Ukra-ine tatsächlich auf dem Spiel steht, ist nicht die Ukraine. Was in der Ukraine auf dem Spiel steht, ist die gesamte europäische Ordnung, die alle für selbstverständlich halten.
Aus Putins eigener Perspektive ist sein Handeln in der Ukraine ein Test: Er will herausfinden, wie die Europäer reagieren. Das Datum 25. Mai war nicht nur deshalb von großer Bedeutung, weil Putin versuchte, an diesem Tag die Wahlen in der Ukraine zu verhindern; er hat gleichzeitig versucht, die Europawahlen zu gewinnen.
Putin räumt inzwischen offen ein, dass er auf der Seite der europäischen Neonazis, Faschisten und Rechtspopulisten steht. Die zuletzt genannte Gruppe, die rechtspopulistischen Parteien, haben bei der Europawahl sehr gut abgeschnitten. Putin setzt bewusst auf diese Strategie, um in die Europäische Union einzudringen, um sie zu schwächen und sie im Idealfall von innen heraus zu zerstören. Denn wenn dies geschieht, dann braucht sich Russland nur noch mit Portugal, Frankreich oder Deutschland als einzelnen Nationalstaaten auseinanderzusetzen. Wenn das passiert, kann Russland auch weiterhin sein Erdgas verkaufen, ohne befürchten zu müssen, dass irgendjemand eine gemeinsame europäische Energiepolitik entwickeln könnte.
Was Alexander Dugin vorschwebt, wird zwar nie geschehen. Die Portugiesen werden nicht im Traum auf die Idee kommen, ihren Urlaub in Sibirien zu verbringen. Putins Russland kann in der Hinsicht also keine großartigen Dinge erschaffen. Aber: Es hat eine enorme destruktive Kraft und kann Dinge zerstören. Europa ist in viel größerer Gefahr, zerstört zu werden, als den Europäern klar ist.
Das Interview wurde im Rahmen eines Beitrags über Eurasien in der Sendung „Kulturzeit“ auf 3sat ausgestrahlt.
Aus dem Englischen von Tobias Dürr