Fortschritt und Heimat

EDITORIAL

Und wo bleibt das Positive, das Ermutigende, der Lichtblick? Das werden manche fragen, nachdem sie die neun Texte unseres Schwerpunkts zum Ausgang der Bundestagswahl gelesen haben. Tatsächlich findet sich da auf den ersten Blick wenig Erbauliches. Wie denn auch? Die deutsche Sozialdemokratie hat 2017 niederschmetternde Wahlniederlagen erlitten. Zugleich hat eine völkische Angstbeißerpartei aus dem Stand mehr als 90 Mandate im Bundestag errungen und dabei viele Wähler (eher als Wählerinnen) auf ihre Seite gezogen, die Sozialdemokraten in „normalen“ Zeiten als ihre natürliche Zielgruppe betrachtet hätten.

Aber die Zeiten sind eben nicht normal – nicht in irgendeinem Sinn, den Sozialdemokraten in den vergangenen Jahrzehnten mit Normalität verbunden hätten. Eben noch verbindliche Selbstverständlichkeiten stehen dahin, die großen gesellschaftlichen Konfliktlinien verschieben sich dramatisch. Über die alte Frage nach der geeigneten Innenausstattung unseres demokratischen Gemeinwesens – eher sozial oder wirtschaftsliberal – schiebt sich die neue Auseinandersetzung zwischen Weltoffenheit und Abschottung, Vielfalt und Homogenität. Überall ist die Angst um den Fortbestand des vermeintlich besseren „Eigenen“ zum machtvollen Faktor der politischen Auseinandersetzung geworden. „Take back control!“ lautete der Slogan, mit dem sich in Großbritannien die Brexit-Befürworter durchsetzten, „Make America Great Again!“ hieß Donald Trumps entscheidende Parole. „Wir werden uns unser Land und unser Volk zurückholen“, brüllt AfD-Hasszyniker Gauland seiner Gefolgschaft entgegen. „Zurück (!) in die Sicherheit (!) des Eigenen (!)“ heißt die Quersumme aus alledem.

Angesichts der sich machtvoll verdichtenden neuen Konfliktlage stand die SPD im Wahljahr 2017 mit ihrem Leitmotiv „Zeit für mehr Gerechtigkeit“ ein bisschen aus der Zeit gefallen da. Das war, in dieser Verdichtung und Präsentation, offensichtlich nicht das Thema, das die Menschen im Land gerade nachts wachliegen ließ. Aber mit welchem attraktiven Alternativangebot können Sozialdemokraten der nostalgischen Sehnsucht nach Sicherheit und Heimat entgegentreten? Wie geht das, ohne sozialdemokratische Werte und Prinzipien zu verraten?

Die Antwort wird nirgendwo in Europa vom Himmel fallen. Fest steht: Das übliche Instrumentarium aus Personalrochaden und Regionalkonferenzen genügt nicht mehr. Überall wird es auf viel wirkliche Neugier auf das Neue, rigorose Debatten und große Bereitschaft zu grundlegender Veränderung ankommen. Zu diesem dringend nötigen Prozess wird die Berliner Republik mit viel Leidenschaft und Augenmaß beitragen.

Und das Positive? Dafür haben soeben ein „einfacher, biertrinkender Jurist“ (Stephan Weil über Stephan Weil) und die niedersächsischen Sozialdemokraten gesorgt. Die SPD in Niedersachsen (wie übrigens auch in Hamburg oder Rheinland-Pfalz) deutet an, dass es sehr wohl möglich sein kann, den vermeintlich widerstrebenden Ansprüchen an Fortschritt und Heimat, Vielfalt und Sicherheit, Modernität und Bodenhaftung auf authentisch sozialdemokratische Weise gerecht zu werden. Ein Patentrezept findet sich hier sicher nicht. Aber doch ein Ansatz, ein Lichtblick, eine Ermutigung. Herzlichen Dank!

zurück zur Ausgabe