Das Jahrhundert der Flüchtlinge
Die so genannte Flüchtlingskrise der vergangenen Jahre erscheint nicht zuletzt als eine Krise der Flüchtlingsaufnahme in der Europäischen Union. Dies zeigt sich besonders in der Infragestellung und Neuverhandlung grundlegender Vereinbarungen wie dem Dubliner Abkommen, in den Forderungen nach Solidarität bei der Aufnahme von geflüchteten Menschen und in der Wiederkehr nationaler Alleingänge. Gleichzeitig findet eine verstärkte Überwachung und militärische Sicherung der Außengrenzen im Süden und Osten Europas statt; der Grenzschutz wird in Nachbarregionen ausgelagert. Der Krisenmodus und der Fokus auf aktuelle Probleme verdecken jedoch die reichen Erfahrungen, die Europa mit Flucht und Geflüchteten hat. Wie sind Staaten und Gesellschaften früher mit Flucht umgegangen? Unter welchen Umständen wurden Flüchtlinge mit offenen Armen empfangen und wann wurden sie abgewiesen? Und was zeigt uns dieser Blick in die Geschichte über unsere aktuellen Debatten?
Flucht als eine durch Gewalt oder Gewaltandrohung begleitete Form menschlicher Mobilität – „Gewaltmigration“, wie der Historiker Jochen Oltmer sie nennt – war im 20. Jahrhundert in vielfach ambivalenter Weise mit dem Agieren und der Entwicklung von Staaten verbunden. Sei es, dass die Neugründung von Staaten zu umfangreichen Fluchtbewegungen und Vertreibungen führte, sei es, dass Staatszerfall, Grenzverschiebungen oder der Wechsel ideologischer und politischer Systeme die Migration großer Bevölkerungsgruppen auslösten. Staaten, die der seinerzeit verbreiteten Ideologie nationaler Homogenität folgten, initiierten die Vertreibung von Gruppen, die sie als ethnisch oder national nicht zugehörig definierten (bis hin zum Völkermord), und veranlassten die Umsiedlung von als zugehörig angesehenen Gruppen aus exterritorialen Gebieten.
Kriege, zwischenstaatliche ebenso wie Bürgerkriege, sind stets Auslöser umfangreicher Fluchtbewegungen gewesen. Gerade im frühen 20. Jahrhundert gibt es dafür verschiedene Beispiele: den Ersten Weltkrieg, die Russische Revolution und die folgenden Bürgerkriege, den Zerfall der südosteuropäischen Imperien und die darauffolgende Neugründung von Nationalstaaten. Mehr als neun Millionen Menschen waren Mitte der zwanziger Jahre allein in Europa auf der Flucht. Das „Jahrhundert der Flüchtlinge“, wie das 20. Jahrhundert damals von Zeitgenossen bezeichnet wurde, hatte begonnen.
Immer neue Wellen von Gewaltmigration
Zugleich sahen sich Staaten stets mit der Aufnahme von Geflüchteten konfrontiert – eine Herausforderung, die schnell auch zu Kooperationsbemühungen auf internationaler Ebene führte. Der mit den Versailler Verträgen 1919/20 gegründete Völkerbund beauftragte den Leiter der norwegischen Delegation, Fridtjof Nansen, mit der Repatriierung von mehreren hunderttausend Kriegsflüchtlingen. Der nach ihm benannte Nansen-Pass ermöglichte Flüchtlingen, sich bei Kontrollen auszuweisen und in andere Länder weiterzuwandern. Indem ihre Weiterreise erleichtert wurde, verbesserte sich nicht zuletzt die katastrophale Situation tausender russischer Flüchtlinge in Sewastopol oder armenischer Flüchtlinge in Aleppo. Mit der Verteilung dieser Flüchtlinge in der internationalen Gemeinschaft, so die damalige Annahme des Völkerbundes, sei das Flüchtlingsproblem gelöst. Die Arbeit Nansens und das nach seinem Tod nach ihm benannte und 1938 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnete Internationale Nansen-Büro für Flüchtlinge wurden deshalb nur für eine befristete Dauer angelegt.
Dass das Problem damit keinesfalls gelöst sein würde, zeigten nicht nur die häufig erfolglose Flucht von Jüdinnen und Juden sowie anderer Emigranten aus dem nationalsozialistischen Deutschland oder dem frankistischen Spanien, sondern auch die Auswirkungen des Zweiten Weltkrieges, in dessen Verlauf allein in Europa mehr als 60 Millionen Menschen flohen oder vertrieben wurden. Erneut war staatliches Handeln Auslöser von Gewaltmigration. Zugleich waren es andere Staaten, die den Geflüchteten halfen – oder sie abwiesen. Dies reichte vom lokalen Kontext, wo Menschen aufgenommen wurden, bis zur internationalen Ebene, auf der Regierungsvertreter über die Repatriierung und Neuansiedlung der displaced persons verhandelten. Das bekannteste und bis heute wirkmächtigste Ergebnis dieser Verhandlungen war die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951, die erstmals einen – wenn auch zeitlich, regional und inhaltlich stark beschränkten – international verbindlichen Flüchtlingsstatus definierte und diese Flüchtlinge mit individuellen Rechten ausstattete.
Gleichwohl war auch mit der Verteilung, Ansiedlung und Aufnahme dieser Gewaltmigranten das globale Phänomen Flucht nicht beendet. Der Kalte Krieg und seine zahlreichen „heißen“ Stellvertreterkriege, die Dekolonialisierung mit ihren zerfallenden Kolonialreichen und den daraus neu entstandenen Nationalstaaten, sowie zahlreiche weitere gewalttätige Folgekonflikte führten weltweit zu großen und kleineren Fluchtbewegungen und langanhaltenden Flüchtlingssituationen, die zum Teil bis heute ungelöst sind. Das New Yorker Protokoll, das 1967 die zeitliche und räumliche Beschränkung der Genfer Flüchtlingskonvention aufhob, ist Ausdruck dieser Entwicklung.
Gleichwohl richtet sich die Aufnahme von Flüchtlingen (ebenso wie die hier nicht weiter behandelten Fluchtgründe) nicht allein nach nationalstaatlichen Logiken, sondern ist auch unmittelbar von Stimmungen, Diskursen und Handlungen zivilgesellschaftlicher Akteure abhängig. Lobbygruppen, Unterstützungskomitees, Selbstorganisationen von Flüchtlingen oder private Hilfstätigkeiten vor Ort beeinflussten die Aufnahme von Geflüchteten stets unmittelbar. Das gleiche gilt natürlich auch für entgegengesetzte Strömungen, die gegen die Flüchtlingsaufnahme protestierten oder diese gar verhinderten. Direkten Einfluss auf die Politik, zumal in demokratischen Staaten, hatten dabei stets die über die Medien geführten Debatten über die Hilfs- und Unterstützungsbedürftigkeit und letztlich auch Legitimität von Flüchtenden.
»Echte Flüchtlinge« aus der DDR?
Weitgehend vergessen sind die bundesdeutschen Debatten aus den fünfziger Jahren, ob Flüchtlinge aus der DDR tatsächlich „echte Flüchtlinge“ oder nicht vielmehr illegitime Wirtschaftsflüchtlinge seien. Und die Aufnahme von 10 000 ungarischen Flüchtlingen nach dem Aufstand von 1956 lässt sich nur vor dem Hintergrund der großen Solidaritätswelle erklären, die angesichts der Berichterstattung über den Aufstand in der Bundesrepublik aufkam: Das Bundesinnenministerium hatte sich zunächst äußerst restriktiv gezeigt und die Aufnahme weitgehend auf („Volks-“)Deutsche, Studierende und Familienangehörige von bereits in der BRD lebenden Ungarn beschränkt, doch diese Linie ließ sich angesichts der breiten zivilgesellschaftlichen Aufnahmebereitschaft nicht aufrechterhalten. Erleichtert wurde diese im Kalten Krieg opportune Aufnahme durch die bereits bestehende Infrastruktur zur Flüchtlingsaufnahme und finanziellen Integrationsförderung.
Besonders deutlich wurde die Rolle von Medien und öffentlicher Meinung für die Flüchtlingspolitik bei der großen Flüchtlingskrise der indochinesischen Boatpeople Ende der siebziger und Anfang der achtziger Jahre. Das Leid Tausender, die bei dem Versuch, das sozialistische Vietnam über das Meer zu verlassen, an den Küsten Thailands, Malaysias, Indonesiens und Singapurs abgewiesen oder interniert wurden, oder die von internationalen Schiffen aus unmittelbarer Seenot gerettet wurden, kam seit 1978 mit den abendlichen Fernsehnachrichten in die Wohnzimmer und füllte wochenlang die Zeitungen und Magazine. Der niedersächsische Ministerpräsident Ernst Albrecht nutzte die verbreitete Stimmung des Mitgefühls, um mit der Ankündigung, 1 000 Vietnamesen in seinem Bundesland aufzunehmen, sowohl die sozialliberale Bundesregierung als auch seine Länderkollegen unter Druck zu setzen. Im Rahmen internationaler Vereinbarungen auf UNHCR-Konferenzen in Genf wurden so westdeutsche Aufnahmekontingente für zunächst 10 000, später für fast 40 000 Flüchtlinge aus Vietnam festgelegt. Ohne die breite öffentliche Unterstützung, die sich auch am Erfolg der spendenfinanzierten Organisation „Ein Boot für Vietnam“ (später: „Cap Anamur“) und anderer zeigte, wäre die politische Aufnahmebereitschaft sicher nicht so groß gewesen. Diese Bereitschaft äußerte sich auch in großzügigen Integrationshilfen – von finanzieller Unterstützung über berufliche und sprachliche Förderung bis hin zur dezentralen Unterbringung –, was sich wiederum in einer überwiegend positiven Rückschau auf die gelungene Aufnahme der Boatpeople spiegelt.
Die Macht der Zivilgesellschaft
Seit den späten achtziger Jahren hat die Internationalisierung der Flüchtlingspolitik mit der schrittweisen Europäisierung der Asylpolitik zumindest für die EU-Mitglieder eine neue Stufe erreicht. Im Zuge des Verzichts auf Grenzkontrollen im Schengen-raum und angesichts des Zerfalls Jugoslawiens sahen die europäischen Staaten erneut die Notwendigkeit, zukünftigen Fluchtbewegungen und Schutzbegehren mit gemeinsamen Anstrengungen zu begegnen. Seither ist ein elaboriertes Instrumentarium europäischer Flüchtlingspolitik entstanden, das in den vergangen Jahren zwar an seine Grenzen gestoßen ist, aber aufgrund nationaler Erwägungen auch nicht zum vollen Einsatz kam. Schließlich hätte mit der „Massenzustromrichtlinie“ der Europäischen Union aus dem Jahr 2001 ein geeignetes Verfahren zur Aufnahme syrischer Bürgerkriegsflüchtlinge bereitgestanden – wenn sich die Mitgliedsstaaten über deren Verteilung hätten einigen können.
Letztlich hat die breite und transnationale Solidaritätsbewegung die Aufnahme von über einer Million vornehmlich syrischer Bürgerkriegsflüchtlinge mit ermöglicht. Die – ebenfalls zivilgesellschaftliche – Gegenbewegung von nationalistischen Gruppen, die die nationale oder europäische Abschottung fordern, scheint jedoch derzeit nicht minder erfolgreichen Einfluss auf die europäische und nationalstaatliche Flüchtlingspolitik zu nehmen.
Der Blick zurück auf das 20. Jahrhundert als „Jahrhundert der Flüchtlinge“ zeigt also nicht nur die historische Normalität der Gewaltmigration und die stete Wiederkehr von „Flüchtlingskrisen“. Vielmehr werden auch drei Perspektiven deutlich, die es bei der Frage nach dem staatlichen Umgang mit Fluchtereignissen zu berücksichtigen gilt: erstens die ambivalente Rolle von Staaten als Auslöser von Flucht und Gewaltmigration einerseits und als zentrale Gewährleister von Schutz für Flüchtende andererseits; zweitens die tiefe Verflechtung von nationalstaatlicher und internationaler – seit den späten achtziger Jahren auch europäischer – Flüchtlingspolitik; und drittens die mitentscheidende Rolle zivilgesellschaftlicher Gruppen und Diskurse in ihrem Einfluss auf nationalstaatliches Handeln. Letzteres darf bezüglich der Wandlungsmöglichkeiten von restriktiver Flüchtlingspolitik zugunsten einer offenen Flüchtlingsaufnahme nicht unterschätzt werden.