Die gut gelaunt Resignierten
Bildung ist ein Paybacksystem: Die Studierenden sammeln Punkte, und wer möglichst schnell möglichst viele Credit Points zusammen hat, bekommt als Prämie einen guten Job. Gut heißt heute mehr denn je: sicher. Vor einigen Wochen präsentierte Bundesbildungsministerin Johanna Wanka den aktuellen Studierendensurvey. Gefragt worden war nach der Zufriedenheit mit dem Studium, den Motiven der Fächerwahl, aber auch nach dem politischen und gesellschaftlichen Interesse der Studenten. Die Zahlen bestätigen, was jeder, der an einer Hochschule lehrt, ohnehin weiß: Die Mehrheit der Nachwuchsakademiker ist pragmatisch und effizient. Die entscheidende Frage in jeder Veranstaltung lautet: „Muss ich das für die Prüfung wissen?“ Bittet die Dozentin ihre Studierenden, für die Klausur die Seiten 21 bis 27 zu lesen, kann sie sich sicher sein, dass niemand die Seiten 20 und 28 anschauen wird. Gibt sie den Umfang einer Hausarbeit nicht auf das Zeichen genau an, wird jemand aus der Seminarrunde um die exakte Zahl bitten, ein anderer wird fragen: „Zählen die Leerzeichen mit?“. Vorschriften sind an deutschen Hochschulen keine Freiheitsberaubung mehr, sondern eine Fehlervermeidungsdienstleistung.
Neugier ist was für Nostalgiker
Ältere Semester mögen diese Verschulung des Studiums beklagen, die meisten der heutigen Studenten sind zufrieden mit dem Bologna-System. Wenn sie überhaupt etwas vermissen, dann die noch bessere Anbindung der Uni an den Arbeitsmarkt. Selbständiges Denken, Neugier, Persönlichkeitsbildung – das ist etwas für Nostalgiker, die den Namen Humboldt nicht googeln müssten. Wichtig ist, was Nutzwert hat. Nutzwert hat, was messbar ist. Die Zahl ist das Ziel, am besten die 1 vor dem Komma. Das belegen alle Studien der vergangenen Jahre.
Als die europäischen Bildungsminister 1999 den Bologna-Prozess in Gang setzten, hatten selbst die sozialdemokratischen Ressortchefs das neoliberale Parfum dieses Jahrzehnts tief inhaliert. Was Hochschulabsolventen können und wissen, war weniger wichtig als die Frage: Wie jung sind sie? Und: Sind sie mobil genug? Die Studienordnungen wurden voller und leerer zugleich. Wer heute ein Studium beginnt, erhält detaillierte Stunden- und Stoffpläne. Alles, was darin nicht ausdrücklich erwähnt wird, gilt als Sperrgepäck, das die Abfertigung am akademischen Abflugschalter in die Länge zieht. Unter Ballast-Verdacht stehen politische und gesellschaftliche Themen.
Nur 32 Prozent der Befragten halten Politik und öffentliches Leben für relevant, so das Ergebnis des Studierendensurveys. Dies sei ein Tiefstand, bemerken die Autoren ratlos. Noch im Jahr 2001 hatten immerhin 45 Prozent ein starkes Interesse bekundet. Als „bedauerlich“ bezeichnete die zuständige Ministerin diesen Rückgang um knapp ein Drittel – und ging zur Tagesordnung über.
Politisches Engagement war immer die Sache einer Minderheit, auch 1968. Es nützt nichts, den heute 20-Jährigen die Was-waren-wir-jung-und-wild-Geschichten zu erzählen. „Provoziert euch doch selbst!“, erwidern die Kritisierten auf Online-Foren eher höflich als mit ausgestrecktem Mittelfinger – und wenden sich der nächsten Prüfungsvorbereitung zu.
Wer in den Seminarräumen der Uni etwas genauer nachfragt, was es mit diesem Desinteresse auf sich hat, bekommt zwei Sorten von Antworten. Die erste lautet: Ist doch egal, ob CDU, SPD oder Grüne regieren, im Großen kann ich eh nichts ändern! Also versuche ich, für mich im Kleinen das Optimum rauszuholen. Der Studierendensurvey belegt diese Egal-Haltung: Es sei auffällig, dass sich immer weniger Studenten in ein Rechts-links-Schema einordnen wollen. Vor allem die Selbsteinschätzung als „links“ ist nicht mehr hip; sie gilt nicht mehr als Synonym für die Sehnsucht nach Veränderung. Woher soll diese Sehnsucht auch kommen, wenn sich abseits der Politik schon so viel verändert?
Parteivorsitzenden hören sie nicht zu
Die zweite Antwort: Wir verstehen unter Politik etwas anderes als Parteipolitik. Wir ernähren uns vegan, kaufen T-Shirts aus nachhaltigem Baumwollanbau und haben eine Petition gegen Markus Lanz unterschrieben. Staat, Parteien, Ämter: Das langweilt uns! Wahlniederlagen erklären, Regierungsprogramme kommentieren, Bundestagsdebatten verfolgen – alles Rituale, die Menschen unter 30 nichts angehen. In der Zeit schrieben 2012 zwei Vertreterinnen des Fachschaftsrats vom Institut für Politische Wissenschaft der Uni Bonn: „Auch wir interessieren uns dafür, wie man Politik verstehen und gerechter machen kann. … Wir sind nicht unpolitisch, wir sind frustriert von der angeblichen Alternativlosigkeit, die auf Aussichtslosigkeit hinausläuft.“
Mit Transparenten über die Straße zu laufen, eine neue Partei zu gründen, den Frust über die TINA-Politik (there is no alternative) in etwas politisch Produktives zu verwandeln, das kommt dieser Altersgruppe nicht in den Sinn. Das wahre Machtzentrum vermutet sie nicht in der Politik, sondern in der Wirtschaft. Den Ansagen von potenziellen Arbeitgebern folgen smarte deutsche Hochschulabsolventen aufs Wort, Ministern und Parteivorsitzenden hören sie kaum noch zu.
Die Zeitschrift Neon veröffentlichte vor einigen Monaten eine Umfrage zum Lebensgefühl ihres jungen Publikums. Mit leisem Bedauern registrierten die Autoren der Titelgeschichte den Abschied von politischen Träumen. „Selbst wenn wir träumen, träumen wir in den Grenzen des Systems. Es geht uns nicht darum, das große Hamsterrad zu zerstören oder wenigstens die Geschwindigkeit zu drosseln, wir wollen nur ab und zu aussteigen dürfen.“ In dem gut gelaunten Pragmatismus, den Jugendforscher bei den 18- bis 25-Jährigen feststellen, steckt offenbar viel Resignation.
Als Bürger fühlen sie sich ohnmächtig, mächtig hingegen sind sie als Konsumenten. Schon als Kind wurden sie von Unternehmen umworben, sie vertrauen Waren mehr als Ideen. Sie kaufen oder verzichten: Apple oder Samsung – jedes Produkt ist ein Statement. Philipp Riederle, gut gebuchter Keynote-Speaker auf vielen Kongressen, erklärt in seinem Buch Generation Y: Wer wir sind und was wir wollen, was Politiker tun können, um doch noch wahrgenommen zu werden: „Ihr müsst eure Wähler zu Fans machen“, ruft er ihnen zu. Riederle ist mit seinem Produkt-Podcast Mein iPhone und ich zum Star der Digital Natives geworden. Die Fans, von denen er spricht, sind nicht interessiert an einer Politik, hinter der womöglich eine Ideologie steckt.
Wenn ein Konzern wie Google einen Think Tank gegen Diktaturen gründet, so erscheint ihnen das glaubwürdiger als das Demokratiepapier einer Partei. Der Fan (formerly known als der Wähler) honoriert Politiker, die Verständnis dafür haben, wie kompliziert das Leben heute ist. Politische Überzeugungen gelten als verdächtig, Loyalität gilt als Schwäche, Beharrlichkeit als Mangel an Flexibilität. Stattdessen soll Politik geräuschlos ein modulares Leben ermöglichen.
Lasst die Kanzlerin mal machen
Das Desinteresse an Politik ist kein Alleinstellungsmerkmal unserer heutigen Studenten. Hier fällt es nur besonders auf, weil von jungen Leuten irrtümlicherweise Rebellion erwartet wird. Die beliebteste Politikerin ist zurzeit jene, die ihre Bürger mit Politik verschont. „Leben Sie, wir kümmern uns um die Details“, warb einst eine Bank. Diesen Stil pflegt auch Angela Merkel, die nicht zuletzt deshalb so erfolgreich ist, weil sie die Bürger – ganz gleich ob jung oder alt – nur in Wahlkampfzeiten mit dem Tagwerk einer Bundeskanzlerin behelligt. „Lasst mich mal machen“, signalisiert sie. Zugespitzt formuliert: Die politische Elite verhält sich nicht gerade so, als wolle sie beim Regieren gestört werden. Statt um Interesse zu werben, werden allein die Stimmen gezählt.
Credit Points für politische Argumente
Es mag altmodisch sein, trotzdem zu hoffen, dass der geistige Horizont unserer angehenden Akademiker über Themen wie den Notenschnitt, Work-Life-Balance oder den individuellen Körperfettanteil hinausgeht. Aber wo, wenn nicht an der Universität, könnte der Raum sein, kritisches und innovatives politisches Denken wertzuschätzen?
Ich muss zugeben: Es hat in meinen Seminaren nicht gereicht, dass ich selbst politisch interessiert bin, um auch das Interesse meiner Studenten an Politik zu wecken, denn die Wertschätzung des Politischen muss sich in einer anerkannten Währung ausdrücken. Seit ich messbar belohne, dass die Studenten politische Diskussionen vorbereiten und inszenieren, seit ich ihnen sage, dass sie mindestens drei Pro- und drei Contra-Argumente entwickeln müssen, um Credit Points zu bekommen, seitdem diskutieren und ringen sie um Standpunkte und lesen politische Blogs. Auch ich träume in den Grenzen des Systems, aber immerhin träumen wir seitdem wieder politisch.