Einer ungewissen Zukunft entgegen
Bislang verhindert allein die Aussicht auf eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union, dass der demokratische Reformprozess im Westlichen Balkan vollständig zum Erliegen kommt und ethnische Konflikte gewaltsam aufbrechen. Nach wie vor verbinden die Menschen in der Region mit der EU die Hoffnung auf Wohlstand und politische Stabilität. Obwohl die Regierungen von Albanien, Bosnien und Herzegowina, Kosovo, Mazedonien, Montenegro und Serbien den EU-Beitritt allesamt als oberste Priorität deklarieren, scheint er für keinen der Westbalkanstaaten in greifbarer Nähe zu sein.
Mittlerweile sind fast anderthalb Jahrzehnte vergangen, seitdem die EU-Staats- und Regierungschefs der Region offiziell das Versprechen auf eine Zukunft innerhalb der Union gegeben haben. Nur Kroatien gelang es im Jahr 2013, den Beitrittsprozess erfolgreich abzuschließen. Dass bisher kein weiteres Land Kroatien nachfolgen konnte, lässt sich sowohl auf die Entwicklungen in der Region, als auch auf den aktuellen Zustand der EU zurückführen. In keinem der Westbalkanstaaten hat sich die politische Klasse erneuert, viele der heutigen Führer wurden im kommunistischen System während des Kalten Krieges sozialisiert. Dies spiegelt sich in einer politischen Kultur wider, die auf informellen Absprachen und Gefälligkeiten beruht, in der Kompromisse als Schwäche gelten und alles politische Handeln dem Machterhalt untergeordnet wird. Diese politische Kultur kollidiert jedoch mit demokratischen Reformen, die Transparenz und Aushandlungsprozesse voraussetzen. Neue Gesetze und Reglungen werden häufig verschleppt, dem Machtkampf geopfert oder schlicht nicht implementiert.
In der EU haben sie genug mit sich selbst zu tun
Auf der anderen Seite ist auch die EU aktuell kaum noch an einer erneuten Erweiterung interessiert. Spätestens seit 2009 befindet sie sich im dauerhaften Krisenmodus und ist mit der eigenen Konsolidierung beschäftigt: Erst drohte mit der Schulden- und Finanzkrise die europäische Währung zu scheitern, dann fand die Union keine gemeinsame Antwort auf die Flüchtlingskrise und in den kommenden Jahren stehen die Brexit-Verhandlungen an. Ungeachtet der Wahlniederlage des Front National in Frankreich haben antieuropäische und populistische Parteien in Europa insgesamt an Bedeutung gewonnen. Zu den vielen Herausforderungen innerhalb der EU kommt schließlich auch noch eine wachsende Anzahl äußerer Bedrohungen wie die anhaltenden Konflikte in der Ukraine und in Syrien. Angesichts dessen ist es wenig verwunderlich, dass die Erweiterung der EU weder in Brüssel noch in den Mitgliedsstaaten Priorität hat.
Stillstand und Rückschritt überall in der Region
Die Erweiterungsmüdigkeit in der EU hat in der Region ein Vakuum hinterlassen. Ein Beitritt scheint nicht mehr greifbar, die Warteschleife unendlich. Die führenden Politiker haben sich ungeachtet ihrer Lippenbekenntnisse zur EU häufig im Status quo eingerichtet und sind vor allem darauf bedacht, ihre Macht und Pfründe zu sichern. Infolgedessen stagniert der Demokratisierungsprozess der Westbalkanstaaten, zum Teil gibt es sogar Rückschritte. Die autokratischen Tendenzen der Regierungen des Westbalkans haben in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen. Beispielhaft ist Serbien. Aleksandar Vucic, seit 2014 Ministerpräsident und im April 2017 mit der absoluten Mehrheit im ersten Wahlgang zum Präsidenten gewählt, gibt sich auf internationaler Ebene als Vorzeige-Europäer. Im Land hat er die Medien, die überwiegend von staatlichen Mitteln abhängig sind, weitgehend unter seine Kontrolle gebracht. Die Opposition ist marginalisiert, zivilgesellschaftliche Organisationen leiden unter Repressionen. Auch in Montenegro, wo die Sozialdemokratische Partei seit mehr als 25 Jahren an der Macht ist, werden unabhängige Journalisten und Regierungsgegner eingeschüchtert und drangsaliert. In anderen Ländern verhindert die extreme Polarisierung zwischen den Parteien ein Vorankommen im Reformprozess. In Albanien blockierte die Opposition zuletzt monatelang das Parlament, die Rhetorik ist aggressiv und Kompromisse werden nur unter größtem internationalen Druck erreicht. Nach Neuwahlen im Dezember 2016, die aufgrund eines Regierungsskandals und der darauffolgenden Massenproteste nötig geworden waren, kam es in Mazedonien zu einem Patt zwischen Regierung und Opposition. Erst Monate nach den Wahlen und dem Eingreifen der USA und der EU konnte eine Lösung gefunden werden.
In dieser politisch fragilen Situation treten ethnische Konflikte verstärkt zu Tage. In Mazedonien gelang es der bisherigen Opposition, eine Koalition mit den albanischen Minderheitenparteien zu schmieden. Daraufhin kam es in der Hauptstadt Skopje zu „patriotischen“ Demonstrationen, die sich gegen Zugeständnisse an die Albaner im Lande richteten. In Bosnien-Herzegowina machen die Dayton-Verfassung und der aufgeblähte Verwaltungsapparat seit über zwei Jahrzehnten eine effektive Politikgestaltung unmöglich; das Zusammenleben zwischen Kroaten, Bosniaken und Serben ist seit dem Ende des Krieges im Jahr 1995 spannungsgeladen. Ein neuer Tiefpunkt wurde erreicht, als der Präsident der serbischen Entität Republika Srpska Milorad Dodik im September 2016 ein Referendum über einen eigenen Nationalfeiertag abhielt. Und auch der Konflikt zwischen Serbien und Kosovo hat sich zuletzt verschärft: Provokationen sind an der Tagesordnung. Nachdem bei den vorgezogenen Parlamentswahlen in Kosovo im Juni 2017 das Wahlbündnis des ehemalige UÇK-Kommandeurs Ramush Haradinaj und die nationalistische Partei Vetëvendosje (Selbstbestimmung) die meisten Stimmen erhielten, könnten die Spannungen noch einmal zunehmen.
Moskau heizt die Unruhe nach Kräften an
Diese Gemengelage nutzen externe Akteure, um ihren Einfluss im Westlichen Balkan auszuweiten. Allen voran ist Russland daran gelegen, eine weitere euroatlantische Integration der Region – und damit eine Einkreisung von aus russischer Sicht feindlichen Staaten – zu verhindern. Mit Desinformation und der Unterstützung pro-russischer Kräfte heizt der Kreml innergesellschaftliche Konflikte und bilaterale Streitigkeiten an. Insbesondere die slawisch-orthodoxe Bevölkerung in der Region ist anfällig für den russischen Einfluss. Mit Belgrad pflegt Moskau traditionell gute Beziehungen, aber auch bei den Serben in Nordkosovo und in Bosnien-Herzegowina wird der russische Präsident Wladimir Putin teilweise als Held verehrt. In Montenegro unterstützte Russland die Anti-Nato Kampagnen der Opposition und wird verdächtigt, am Tag der Parlamentswahlen im Oktober 2016 in einen Coup gegen den Regierungschef verwickelt gewesen zu sein. Und auch Mazedonien hat Russland als neues geopolitisches Spielfeld entdeckt: Im Zuge der anhaltenden Staatskrise nach den Wahlen im Dezember versuchte Russland über seine Auslandsmedien in der mazedonisch-slawischen Bevölkerung die Angst vor separatistischen Bewegungen der albanischen Minderheit zu schüren.
Russlands Einflussmöglichkeiten in der Region beruhen auf der aktuellen Schwäche der EU. Moskau hat den Westbalkanstaaten wirtschaftlich und politisch kein attraktives Modell zu bieten – wohl aber die EU. Die sinkenden Zustimmungsraten für einen EU-Beitritt in den Bevölkerungen lassen sich vor allem mit Frustration und Enttäuschung über mangelnde Erfolge im Annäherungsprozess erklären. Dabei ist es auch im Interesse der EU, die aktuelle Stagnation zu überwinden und das Versprechen auf eine europäische Zukunft der Region einzulösen. Der Westliche Balkan ist von EU-Staaten umschlossen, Instabilität in der Region wird unmittelbar in die Nachbarstaaten und auch bis nach Deutschland exportiert. Deutlich wurde dies zuletzt in der Flüchtlingskrise, als Migranten aus dem Nahen und Mittleren Osten vor allem Mazedonien und Serbien als Transitroute nutzten und als in Deutschland im Jahr 2015 über ein Viertel aller Erstanträge auf Asyl von Bürgern der Westbalkanstaaten gestellt wurden. Doch neben dem Interesse an Stabilität hat die EU auch eine moralische Verpflichtung, den Menschen in der Region nach den blutigen Konflikten in den neunziger Jahren ein Leben in Frieden, Wohlstand und Sicherheit zu ermöglichen.
Europa tut sich schwer mit den eigenen Werten
Doch woran scheitert die aktuelle EU-Erweiterungspolitik? Entscheidungsträger in Berlin und Brüssel betonen regelmäßig die Beitrittsperspektive des Westlichen Balkans. Die Europäische Kommission beobachtet und dokumentiert den Reformprozess. Nach den teilweise negativen Erfahrungen in den vorangegangen Erweiterungsrunden wird ein gesteigertes Augenmerk auf die Implementierung und nicht nur auf die bloße Verabschiedung von Reformen gelegt. Zudem werden Fragen der Rechtsstaatlichkeit prioritär behandelt. Das Verfahren und auch die Berichte der Kommission sind sehr technisch und für die breite Bevölkerung kaum nachvollziehbar. Vor allem aber setzt der Ansatz voraus, dass es in den (potenziellen) Kandidatenländern politische Partner gibt, die die Annäherung ihrer Länder an die EU glaubhaft und ernsthaft vorantreiben. Bisher haben die EU und ihre Mitgliedsstaaten keinen Weg gefunden, wie sie mit den Regierungen umgehen sollen, die sich proeuropäisch geben, in Teilen kooperieren und auf dem Papier Reformen umsetzen, de facto aber demokratische Werte ablehnen und nach reinem Machtkalkül handeln. Zugunsten einer oberflächlichen Stabilität werden diese Regierungen unterstützt.
In Montenegro etwa ist man bereit, bei Korruption und organisiertem Verbrechen nicht so genau hinzuschauen, da die Regierung gegen Widerstände im Land den Nato-Beitritt vollzogen hat und auf EU-Kurs bleibt. Der serbische Präsident Vucic gilt als vergleichsweise kooperationsbereit, was Kosovo betrifft, weshalb die Europäer seinen autokratischen Führungsstil nicht ganz so deutlich kritisieren. Doch mit diesen Abstrichen im Hinblick auf den eigenen Wertekanon hält die EU genau die Regime aufrecht, die Fortschritte behindern. In Krisensituation ist die EU präsent, Vermittlungen und Druck führen häufig zum Erfolg. Langfristig können aber nur ein über die Tagespolitik hinausgehendes gesteigertes Engagement, die Stärkung liberaler Kräfte und eine wirkliche Demokratisierung nachhaltigen Wandel in der Region herbeiführen.
Ein grundlegendes Problem der EU ist es, dass auch innerhalb ihrer Grenzen demokratische Werte nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden können. In Polen und Ungarn versuchen die Regierungen zunehmend, die Kontrolle über die unabhängigen Gerichte und die Medien zu übernehmen. Die EU zeigt sich dabei weitgehend machtlos. In der Flüchtlingskrise wurde zudem deutlich, wie schlecht es um eine gemeinsame europäische Identität, die auf Solidarität beruht, bestellt ist. Die EU hat jüngst sogar ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn, Polen und Tschechien eingeleitet, da sich diese Länder weigern, an der 2015 beschlossenen Verteilung von Asylbewerbern teilzunehmen. Vor diesem Hintergrund wirken die Kritik an antidemokratischen Entwicklungen in der Region des Westbalkans und die Beschwörung europäischer Werte seitens der EU weit weniger glaubhaft.
Der westliche Balkan braucht ein stabiles Europa
Das Schicksal der EU und des Westlichen Balkans sind eng miteinander verwoben. Trotz aller Schwierigkeiten innerhalb der EU sind die Meinungen und Einschätzungen aus Brüssel nach wie vor der Referenzpunkt für die Bevölkerung und die Regierungen in der Region. Dies gibt der EU den Schlüssel, die Entwicklungen im Westlichen Balkan maßgeblich positiv zu beeinflussen. Voraussetzung hierfür ist jedoch, dass die EU selbst stabil bleibt und ihre institutionellen, politischen und wirtschaftlichen Krisen bewältigt. Nur eine starke EU hat die Kraft, eine auf liberalen Werten basierende Transformation der Region und damit auch die Erweiterung der EU voranzutreiben. So wie sich die EU entwickelt, so folgt der Westliche Balkan. Solange die Zukunft der EU ungewiss ist, bleibt es auch die Zukunft des Westbalkans.