Europas Krise und die Schuld der Deutschen
Europa steckt im Schlamassel. Die Eurozone hat eine unnötig lange und tiefe Rezession erlitten. Der Lebensstandard vieler Europäer ist abgestürzt. 25 Millionen Menschen sind arbeitslos, darunter erschütternd viele junge Menschen. Eine verlorene Generation ist im Entstehen. Die sozialen Spannungen innerhalb der einzelnen Länder nehmen zu, ebenso die politischen Reibereien zwischen ihnen. Es herrscht Wut über die Ungerechtigkeit von Rettungsaktionen für reiche Bankiers und Kürzungen für arme Schulkinder. Zugleich erleben wir niederträchtige Stimmungsmache gegen Außenseiter und Einwanderer. Die Schotten hätten um ein Haar die Spaltung Großbritanniens beschlossen, die Katalanen entscheiden demnächst über ihre Trennung von Madrid. Und wenn Angela Merkel Athen besucht, gibt es Bombenalarm.
Nie war die Europäische Union so unbeliebt. Europas krönende Errungenschaft, der Euro, gilt heute als sadomasochistische Zwangsjacke. Die meisten Europäer assoziieren die EU inzwischen mit Austerität, Rezession und deutscher Dominanz. Statt als Mechanismus, der uns hilft, gemeinsam Besseres zu erreichen, wird sie als Maschinerie zur Beschneidung von Lebenschancen wahrgenommen. Zugleich hat die Krise das Vertrauen in die etablierten Politiker, EU-Technokraten und Eliten zerstört. Sie alle konnten die Krise nicht verhindern. Ebenso wenig kriegen sie es hin, die Krise zu beenden. Stattdessen haben sie Banken gerettet und normale Menschen in Schwierigkeiten gebracht. Die Stimmung gegen „die da oben“, gegen die EU und gegen Ausländer ist fruchtbarer Nährboden für Extremisten und Scharlatane, die deshalb bei den Europawahlen 2014 glänzend abgeschnitten haben. Von innen bedroht durch Fremdenfeinde, von außen eingeschüchtert durch Putins Russland, sind unsere offenen Gesellschaften – Europas größte Errungenschaft der Nachkriegsjahrzehnte – in großer Gefahr.
Katastrophale Fehler – von der Regierung Merkel diktiert
Die Misere der Eurozone ist vor allem die Folge katastrophaler Fehler von Politikern. Viele dieser Fehler hat die Regierung Merkel diktiert. Sie haben aus einer Finanzkrise eine weitaus tiefere wirtschaftliche und politische Krise gemacht. Man hat die Banken gerettet, aber nicht in Ordnung gebracht. Man hat sich geweigert, uneinbringbare öffentliche und private Schulden abzuschreiben. Statt Wachstumspolitik zu betreiben, hat man auf übermäßige Austerität und Lohnkürzungen gesetzt, was wiederum so tiefe Rezessionen ausgelöst hat, dass die öffentliche Verschuldung weiter steigen musste. Als die fortgesetzten Fehler der Politik in den Jahren 2010 bis 2012 Panik an den Anleihemärkten auslösten, die fast die Eurozone zerstört hätte, forderte Merkel sogar noch mehr Austerität – bis schließlich die Europäische Zentralbank (EZB) auf den Plan trat.
Nachdem so die Panik gestoppt werden konnte, der Druck der Austerität nachließ und sich Europas Volkswirtschaften 2013 erstmals wieder stabilisierten, ernannte sich ausgerechnet Angela Merkel zur Urheberin der Wende zum Besseren. Inzwischen herrscht in der Eurozone indes schon wieder Stagnation. Herabgezogen von unbezahlbaren Schuldenlasten geht Europa die Luft aus, weil sich Zombiebanken weigern, ordentlichen Unternehmen zu vernünftigen Bedingungen Geld zu leihen. Zugleich bleiben Investitionen aus, ohne die wirtschaftliche Reformen kein Wachstum nach sich ziehen können. So droht die Eurozone in einer deflationären Schuldenfalle zu versinken – mit tragischen sozialen und politischen Folgen.
Europa braucht dringend eine Kursänderung. Doch ein großes Hindernis dafür ist die in Deutschland vorherrschende „Krisenerzählung“. Ihr zufolge müssen die Deutschen für eine Krise zahlen, die sie nicht zu verantworten haben. Da die Eurozone heute mit ähnlichen Problemen konfrontiert sei wie Deutschland um die Jahrhundertwende, sollten die anderen Europäer das tun, was die Deutschen damals taten: die öffentlichen Finanzen konsolidieren und das Lohnniveau drücken. Diese harten Reformen, heißt es, hätten Deutschlands Volkswirtschaft zur erfolgreichsten in Europa gemacht – und damit zum Vorbild für alle anderen Europäer. Aber diese Erzählung ist falsch.
Zunächst trägt Deutschland sehr wohl Verantwortung für die Krise. Diese wurde vor allem durch die leichtfertige Kreditvergabe schlecht regulierter deutscher und französischer Banken in den Jahren vor 2008 verursacht. Diese spekulierten nicht nur mit amerikanischen Schrottpapieren, sondern verliehen auch zu viel Geld an spanische und irische Immobilienkäufer, an portugiesische Verbraucher und die griechische Regierung. Die deutschen Banken konnten deshalb so viel Geld nach Südeuropa verleihen, weil die deutsche Wirtschaft große Überschüsse produzierte. Beginnend mit einer Vereinbarung aus dem Jahr 1999 zwischen der Regierung Schröder, Unternehmen und Gewerkschaften, wurden die deutschen Löhne künstlich niedrig gehalten. So häuften die Unternehmen gewaltige Überschüsse an. Und weil sowohl sie als auch die Regierung ihre inländischen Investitionen einschränkten, mussten diese Überschüsse im Ausland investiert werden – von deutschen Banken größtenteils unbedacht angelegt.
Die Eurozone als Schuldnergefängnis
Als die Blase platzte und klar wurde, dass Griechenland seine Schulden nicht bedienen konnte, standen deutsche und französische Banken vor der Pleite. Um Verluste für diese Banken und ihre Gläubiger abzuwenden, taten Merkel und das französische Triumvirat Trichet, Strauss-Kahn und Sarkozy so, als steckte Griechenland nur vorübergehend in Finanzierungsnöte. Unter dem Vorwand, die Stabilität der Eurozone insgesamt sei in Gefahr, beschlossen sie, die Rechtsgrundlage zu brechen, auf der die Eurozone gegründet worden war – die „No-Bailout-Regel“. Sie liehen der griechischen Regierung neues Geld, damit diese die Banken bedienen konnte. Verständlicherweise sind die deutschen Steuerzahler hierüber wütend. Aber ihre Wut sollte sich direkt gegen die geretteten deutschen Banken sowie Kanzlerin Merkel und Finanzminister Schäuble richten.
Die Regierungen der Eurozone vergaben also konditionierte Darlehen an Griechenland, um deutsche und französische Banken zu retten. Und sie vergaben Kredite an Irland, Portugal und Spanien zur Rettung dortiger Banken, die sonst ihren Zahlungsverpflichtungen gegenüber deutschen und französischen Banken nicht mehr hätten nachkommen können. So wurden aus faulen Krediten zwischen privaten Banken Verpflichtungen zwischen Regierungen. Auf diese Weise hat sich eine Krise, die Europa in der gemeinsamen Anstrengung hätte vereinen können, die für das Schlamassel verantwortlichen Banken einzuhegen, zur Ursache neuen Streits entwickelt: Gläubigerstaaten – vor allem Deutschland – stehen Schuldnerstaaten gegenüber, und die EU-Institutionen sind zu Instrumenten geworden, mit denen die Gläubiger den Schuldnern ihren Willen aufzwingen – die Eurozone als Schuldnergefängnis.
Mit empörenden Methoden wurden falsche und ungerechte Maßnahmen durchgesetzt. Gemeinsam mit der EU-Kommission und der EZB drohte Merkel den Griechen, ihnen ihre eigene Währung, den Euro, wegzunehmen – es sei denn, ihre Regierung nehme knallharte Bedingungen hin. Wie einst die Weimarer Republik wurde Griechenland gezwungen, brutale Austerität zu akzeptieren. Im Ergebnis hat Griechenland einen schlimmeren Wirtschaftseinbruch erlitten als Deutschland nach 1929. Ist es verwunderlich, dass Regierungsparteien, die sich diesem Diktat unterwarfen, bei den Europawahlen schwere Niederlagen erlitten? Dass eine Linkskoalition mit der Forderung nach Schuldengerechtigkeit die Nase vorn hatte? Dass die Nazipartei Goldene Morgenröte zur drittstärksten Kraft aufgestiegen ist?
Ähnlich hat die Achse Berlin-Brüssel-Frankfurt auch die Regierungen von Irland, Portugal und Spanien erpresst. Die irischen Steuerzahler wurden gezwungen, eine Rechnung über 64 Milliarden Euro – 14.000 Euro pro Person – für faule Bankkredite zu übernehmen und mussten zugleich massive Sparauflagen akzeptieren. Der verzweifelte Wunsch auch anderer Europäer, weiterhin zu Europa zu gehören, und ihre Angst davor, aus dem Euro herausgezwungen zu werden, werden ausgenutzt, um ihnen ungerechte Bedingungen aufzuerlegen. Das ist das Gegenteil der Solidarität, auf der das europäische Projekt eigentlich gründen soll. Es ist tragisch, aber folgerichtig und wenig überraschend, dass Deutschland und die EU-Institutionen inzwischen so verhasst sind. Die deutschen Steuerzahler wiederum haben jetzt einen Anreiz, sich der Entschuldung zu widersetzen, ohne die Griechenland sich nicht wieder erholen kann. Ebenso würden sie jetzt Schaden nehmen, wenn die 64 Milliarden Euro Bankschulden abgeschrieben würden, die den irischen Steuerzahlern auferlegt wurden. Merkel und andere Politiker der Eurozone haben die Interessen der Banken den Interessen der Bürger vorgezogen – und damit die Europäer gegeneinander aufgebracht.
Die aktuelle Misere der Eurozone unterscheidet sich sehr von derjenigen, mit der Deutschland um die Jahrhundertwende konfrontiert war. Damals erlitt Deutschland keine Bankenkrise. Es hatte nicht große private und öffentliche Schulden. Und es war umgeben von boomenden Nachbarländern, in die es ohne weiteres mehr exportieren konnte. Wenn Merkel also mantrahaft erklärt, Deutschlands eigene Erfahrungen bewiesen, dass Sparpolitik und Wachstum in der Eurozone vereinbar seien, vergleicht sie Äpfel mit Birnen. Der Marsch in die kollektive Austerität in der Eurozone seit 2010 hat kein Wachstum geschaffen, sondern einen tiefen Einbruch verursacht. Haushalte, Unternehmen und Regierungen mussten alle zugleich ihre Ausgaben kürzen, und da die Europäer vor allem miteinander Handel treiben, ist der depressive Inlandsmarkt des einen Landes immer zugleich der geschrumpfte Exportmarkt des anderen. Einer Studie zufolge hat diese kollektive und übermäßige Austerität zum Verlust von fast 10 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) in der Eurozone geführt.
Was Menschen gegen Deutschland und die EU aufbringt
Das Vermächtnis der Krise ist eine undemokratische fiskalische Zwangsjacke – von Berlin gefordert, von Brüssel durchgesetzt. Überhaupt nur deshalb, weil Merkel dem Bruch der No-Bailout-Regel zustimmte, auf die Helmut Kohl beim Abschluss des Maastricht-Vertrages zu Recht bestanden hatte, fürchteten die deutschen Steuerzahler plötzlich, für die Schulden aller anderen haften zu müssen. Daher verlangte Merkel weitaus größere Kontrolle über Haushalte anderer Länder – und die EU-Kommission freute sich, weil sie neue Macht an sich reißen konnte. Dies ist ökonomisch gefährlich, weil Länder, die eine Währung teilen, mehr fiskalische Flexibilität brauchen und nicht weniger. Und es ist politisch schädlich, denn immer wenn die Wähler eines Landes ihre Regierungen abwählen, erscheinen auf ihren Bildschirmen nun Schäuble sowie hochrangige Eurokraten und pochen darauf, dass die neue Regierung die gescheiterte Politik der abgewählten Regierung fortführen müsse. Dass ein deutscher Finanzminister und ungewählte Brüsseler Beamte den Wählern legitime demokratische Entscheidungen über Steuern und Ausgaben verweigern, bringt Menschen gegen Deutschland und die EU auf.
Der letzte Mythos lautet, dass Deutschland, da es Merkel zufolge „seine Hausaufgaben gemacht“ hat, Europas erfolgreichste Volkswirtschaft und ein Modell für andere sei. Ja, die deutsche Arbeitslosigkeit ist niedrig. Ja, die Bundesregierung hat zuletzt einen ausgeglichenen Haushalt vorgelegt. Ja, Deutschland ist ein erfolgreiches Exportland. Doch dafür sind in Deutschland die Banken kränklich, die Produktivitätsentwicklung ist schwach, und die Investitionen sind zu gering. Der durchschnittliche Deutsche verdiente 2013 weniger als 1999. Wie kann ein Land als beispielhaft gelten, in dem die Reallöhne heute nicht höher sind als vor 15 Jahren?
Deutschland ist nicht Spitzenreiter, sondern Nachzügler
Deutschlands Entwicklung seit der Krise mag im Vergleich zu Frankreich oder Südeuropa gut aussehen. Aber die deutsche Wirtschaft ist heute gerade 3,6 Prozent größer als im Frühjahr 2008 – und im zweiten Quartal dieses Jahres ist sie sogar geschrumpft. Seit 2008 ist die Wirtschaft in der Schweiz, in Schweden und in den USA um mehr als 7 Prozent gewachsen. Deutschland ist nicht mehr Spitzenreiter, sondern Nachzügler. Von 2000 bis 2013 wuchs die deutsche Wirtschaft nur um 15 Prozent – also um bloße 1,1 Prozent pro Jahr – gleichauf mit der französischen. Das ist weniger als in Spanien (plus 19 Prozent), Großbritannien (plus 21), in den USA (plus 25) oder Irland (plus 30). Unter den 18 Ländern der Eurozone belegt Deutschland beim Wachstum Platz 13.
Nachhaltiges Wachstum erwächst aus produktiven Investitionen und steigender Produktivität, und in beiden Punkten ist Deutschland schwach. Die Investitionen in Deutschland sind von 22,3 Prozent des BIP im Jahr 2000 auf 17 Prozent 2013 gesunken – sie liegen niedriger als in Frankreich, Spanien und sogar Italien. Die öffentlichen Investitionen sind mit 1,6 Prozent (2013) des BIP besonders schwach – niedriger als in Italien und Großbritannien, weit hinter Frankreich und Schweden (3,3 Prozent). Nach Jahren der Vernachlässigung bröckelt die deutsche Infrastruktur – Straßen, Brücken, der Nordostseekanal. Doch in Schäubles Haushaltsplänen werden die öffentlichen Investitionen weiter gekürzt.
Auch hinsichtlich der Ausbildung seiner Arbeitskräfte ist Deutschland zurückgefallen. Es wendet nur 5,7 Prozent seines BIP für Bildung und Ausbildung auf, weniger als Frankreich und viele andere Länder. Ausländer bewundern das deutsche duale Berufsausbildungssystem, doch die Zahl der Auszubildenden ist auf den niedrigsten Stand seit 1990 gesunken, viele Ausbildungsplätze bleiben unbesetzt. Und nur ein knappes Viertel der deutschen Erwerbstätigen hat einen Hochschulabschluss – weniger als in Frankreich, Spanien oder Großbritannien. Deutschland hat es versäumt, in seine Hochschulen zu investieren. Im weltweiten Vergleich sind die Universitäten Heidelberg und München die besten deutschen Universitäten – gemeinsam auf Rang 49. Zugleich verkümmert die deutsche Startup-Szenerie. Dem angesehenen Doing-Business-Ranking der Weltbank zufolge ist es in Deutschland schwieriger, ein Unternehmen zu starten als in Russland oder im Senegal. Auf Platz 12 thront Irland weit über Deutschland auf Rang 111. Deutschland hat viele weltweit führende Unternehmen wie Volkswagen und BASF, aber alle seine globalen Champions sind alt; ein deutsches Google gibt es nicht. Kein Wunder, dass 50 000 unternehmerische Deutsche nach Silicon Valley ausgewandert sind.
Niedrige Investitionen, altersschwache Infrastruktur, verfallende Bildung, fehlendes Unternehmertum – das sind bedenkliche Indikatoren. Aber der letzte Beweis für Deutschlands mangelhafte Leistung ist sein kümmerliches Produktivitätswachstum: jährlich nur 0,9 Prozent in den vergangenen zehn Jahren – weniger als in Portugal. Um ein Erfolgsmodell zu sein, benötigt Deutschland ein sehr viel höheres Produktivitätswachstum. Hinzu kommt: Das bisschen Wachstum, das die deutsche Wirtschaft überhaupt generiert, wird vor allem vom industriellen Export getrieben. In dieser Disziplin ist Deutschland überragend und belegt weltweit hinter China den zweiten Platz. Fast die Hälfte aller EU-Ausfuhren nach China stammt aus Deutschland. Die deutschen Exporterlöse haben sich seit 2000 verdoppelt, womit Deutschland jedes andere europäische Land in den Schatten stellt. Die Industrieproduktion ist in den meisten entwickelten Staaten in den letzten 15 Jahren geschrumpft – in Deutschland hat sie zugenommen.
Aber die deutsche Abhängigkeit von der Industrie könnte zur Schwäche werden. Vorerst hat Deutschland viel Glück gehabt. Seine traditionellen Ausfuhren – Investitionsgüter, Maschinen, Chemikalien – sind exakt diejenigen, die China während seiner halsbrecherischen industriellen Expansion benötigte. Auch der Euro hat Deutschland Schub verliehen. Dass er viel schwächer ist, als es die D-Mark zweifellos gewesen wäre, hat die deutschen Ausfuhrerfolge begünstigt. Bis die Krise losbrach, verschaffte der Euro Deutschland zudem boomende Exportmärkte in Südeuropa. Seit dem Einsetzen der Rezession in Südeuropa sind Deutschland nun allerdings wichtige Abnehmer seiner Ausfuhren abhanden gekommen. Da nunmehr auch Chinas Wirtschaft langsamer läuft, gerät auch die deutsche Exportmaschine ins Stocken. Seit dem Beginn der Krise ist der deutsche Anteil an den Weltexporten von 9,1 Prozent (2007) auf 8,0 Prozent (2013) gesunken – so niedrig lag er zuletzt zur Jahrhundertwende.
Exportboom auf dem Rücken der Beschäftigten
Noch schwerer wiegt, dass Deutschlands Exportboom auf dem Rücken der Beschäftigten erzielt wurde. Etwa ein Viertel der deutschen Arbeitnehmer verdient weniger als zwei Drittel des Medianlohns – mit einer einzigen Ausnahme weisen alle anderen der 17 europäischen Länder, für die vergleichbare Daten verfügbar sind, bessere Werte auf. Immerhin dürfte sich die Einführung eines Mindestlohns von 8,50 Euro pro Stunde für die deutschen Geringverdiener als willkommene Erleichterung erweisen. Das Problem besteht jedoch auch darin, dass Durchschnittsdeutsche nicht für ihre Produktivitätsgewinne belohnt werden. Der typische deutsche Arbeitnehmer produziert heute 17,8 Prozent mehr pro Stunde als 1999, erhält hierfür aber weniger Geld als damals. Die meisten deutschen Politiker begrüßen diese Stagnation der Löhne, weil niedrige Lohnkosten angeblich die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Exportwirtschaft steigern. Doch niedrige Gehälter zu zahlen kann bestenfalls für einzelne Unternehmer sinnvoll sein, für eine Volkswirtschaft bedeuten Löhne nicht zu minimierende Kosten, sondern einen Nutzen, der maximiert werden muss – sofern sie durch Produktivität gerechtfertigt sind. Niedrige Löhne sind nur dann notwendig, wenn die Produktivität niedrig ist, aber die Löhne unterhalb der Produktivität zu halten ist pervers. Abgesehen davon: Wenn Löhne künstlich niedrig gehalten werden, besteht für Arbeitnehmer ein geringerer Anreiz, ihre Qualifikation zu verbessern, und die Unternehmen haben keinen Grund, im Inland zu investieren und bessere Qualität anzubieten. Wenn Deutschland in der Wertschöpfungskette nicht nach oben rückt, wird die Produktion mit höherer Qualifikation, höheren Löhnen und höherer Wertschöpfung zunehmend anderswo stattfinden.
Ohnehin ist Deutschlands aufgeblähter Fertigungssektor nicht so großartig, wie oft behauptet wird. Zunächst einmal ist es nichts Besonderes, Dinge zu „machen“. Ist es etwa mehr wert, Autos zu bauen, als Menschen zu heilen? Ist die Herstellung von Waschmaschinen wichtiger als das Programmieren von Computern? In der Tschechischen Republik, in Irland und Ungarn ist der Anteil der Industrie an der Gesamtwirtschaft noch größer als in Deutschland – sind diese Länder deshalb etwa erfolgreichere Volkswirtschaften? Wichtig ist nicht, was Menschen tun, sondern ob ihr Tun einen Mehrwert schafft – und selbst in Deutschland finden mehr als drei Fünftel der Wertschöpfung in den Dienstleistungen statt. Leider ist es um die Produktivität in diesen Sektoren – Verkehr, Telekommunikation, Einzelhandel, Gastronomie – oft schlecht bestellt, nicht zuletzt deshalb, weil diese Branchen von übertriebener Bürokratie behindert werden.
Die Schwäche des Dienstleistungssektors ist deshalb so bedenklich, weil selbst die deutsche Industrie die Gesetze der Schwerkraft nicht mehr lange ignorieren kann. Wie früher die Rolle der Landwirtschaft schrumpft heute die Bedeutung der Industrie. Dies gilt selbst in China, der „Werkstatt der Welt“. In dem Maße, wie sich die Technologie verbessert, können wir Waren in besserer Qualität billiger herstellen. Und in dem Maße, wie Menschen wohlhabender werden, wenden sie größere Teile ihres Einkommens für Dienstleistungen – Urlaub, Gesundheit, Haushaltshilfe – auf, statt immer mehr „Zeug“ anzuhäufen. Deutschlands übermäßige Abhängigkeit von der Industrie macht das Land anfällig. Sofern es seine Wirtschaft nicht anpasst, könnte es von einem Rückgang der Nachfrage nach Industriegütern schwer getroffen werden, nicht zuletzt deshalb, weil sich China in der Wertschöpfungskette aufwärts bewegt und chinesische Unternehmen inzwischen direkt mit hochwertigen deutschen Produkten konkurrieren.
Weniger wachstumsorientierte Reformen als in jedem anderen Land
Darum muss Deutschland seine Wirtschaft verändern. Leider ist diese vielfach arthritisch. Die Produktmärkte sind stark reguliert, was den Wettbewerb behindert und etablierte Unternehmen gegenüber Newcomern sowie die Interessen der Hersteller gegenüber denen der Verbraucher begünstigt. Schröders Reformen haben dazu beigetragen, Billigarbeitsplätze zu schaffen und Langzeitarbeitslose wieder in Arbeit zu bringen – flexibler gemacht haben sie den Arbeitsmarkt nicht. Und Besserung ist nicht in Sicht: Der OECD zufolge hat Deutschland seit 2007 weniger wachstumsorientierte Reformen verwirklicht als jedes andere entwickelte Land. Die viel zu starre und träge deutsche Wirtschaft versteht viel von Kostensenkung, wenig von Kursänderung.
Auch demografisch steht Deutschland vor besonders schweren Herausforderungen, die das künftige Wachstum seiner Wirtschaft belasten. Die schrumpfende deutsche Bevölkerung ist mit einem Durchschnittsalter von 46 Jahren die älteste in der EU (verglichen mit 40 Jahren in Großbritannien und 36 Jahren in Irland).
Ein Land mit alternder Bevölkerung, in dem die Löhne (und damit die Binnennachfrage) niedrig sind, in dem zu wenig investiert wird und dessen Regierung sich nicht verschulden will, wird immer einen riesigen Überschuss an Ersparnissen produzieren – also einen Leistungsbilanzüberschuss. Dieser wird oft als Sinnbild der überlegenen „Wettbewerbsfähigkeit“ Deutschlands gesehen. Aber wenn Deutschland so erfolgreich ist, warum wollen Unternehmen dann eigentlich nicht dort investieren?
Aufgrund seiner Überschüsse ist Deutschland zu Europas größtem Gläubiger geworden. Noch im Jahr 2000 übertraf Deutschlands Auslandsvermögen kaum seine Verbindlichkeiten gegenüber dem Ausland. Bis Ende 2013 aber stieg das deutsche Auslandsvermögen auf satte 1,3 Billionen Euro – fast so viel wie das von China. In einer Schuldenkrise verleiht die Rolle als Gläubiger Macht. Aber wie wir gesehen haben, sind Deutschlands Kredite an Ausländer oft keine guten Investitionen gewesen. Einer DIW-Studie zufolge hat Deutschland im Hinblick auf die Bewertung seiner Auslandsinvestitionen zwischen 2006 und 2012 gut 600 Milliarden Euro verloren, was 22 Prozent des deutschen BIP entspricht. Nun, da sich Deutschland davor ängstigt, bei seinen Krediten an Ausländer Verluste zu machen, ist es besonders widersinnig, riesige Überschüsse anzuhäufen, die notwendigerweise im Ausland investiert werden müssen. Sobald sich herausstellt, dass die Schuldner das Geld nicht zurückzahlen können (was angesichts der deutschen Weigerung, einen Beitrag zum europäischen Wachstum zu leisten, noch wahrscheinlicher wird), dürfte die exponierte Position Deutschlands gegenüber dem Ausland zu herben Verlusten führen.
Das »Modell Deutschland« bedarf der Runderneuerung
Deutschlands gepriesene Leistungsbilanzüberschüsse sind also kein Ausdruck von Stärke, sondern das Symptom einer kranken Wirtschaft. Während die Gehälter stagnieren und die Unternehmensgewinne wachsen, lahmt zugleich die Binnennachfrage, bleibt der Dienstleistungssektor geknebelt, mangelt es wegen verkümmernder Startups an Investitionen – mit der Folge, dass deutsche Ersparnisse im Ausland verschleudert werden.
Lohnkompression ist kein tragfähiges Wachstumsmodell für Deutschland – geschweige denn für die übrige Eurozone. Es ist ein Mythos, dass die Löhne in Südeuropa zu hoch sind: In jedem einzelnen Land fiel in den zehn Jahren vor der Krise der Lohnanteil am BIP. Dass die Löhne gesenkt wurden, hat überall der Binnennachfrage geschadet und die Schuldensituation verschärft. Statt weiterhin dieselben alten Dinge zu immer niedrigeren Löhnen herzustellen, müssen sich Volkswirtschaften in der Wertschöpfungskette aufwärts bewegen und neue, bessere Produkte zu höheren Löhnen produzieren.
Das „Modell Deutschland“ bedarf dringend der Runderneuerung. Arbeitnehmer sollten die Früchte ihrer Arbeit in Form höherer Löhne genießen können. Um den Lebensstandard langfristig zu steigern, sollten sich die Akteure der deutschen Politik darauf konzentrieren, die Produktivität zu erhöhen. Sie sollten mehr in zukünftiges Wachstum investieren, indem sie für den Wiederaufbau der zerbröselten deutschen Infrastruktur und des heruntergekommenen Bildungssystems sorgen. Zugleich sollten sie Unternehmen neue Gelegenheiten zum Investieren bieten. Dafür müssen sie den Wettbewerb stimulieren und Unternehmensgründungen erleichtern. Und sie sollten Einwanderern gegenüber eine einladendere Haltung an den Tag legen. Diese werden die Folgen des Bevölkerungsrückgangs mildern und in Deutschland mit neuen Ideen und Unternehmen größere Dynamik möglich machen.
Europa muss sich ebenfalls ändern. Statt einer von engen deutschen Gläubigerinteressen geknebelten Eurozone braucht Europa eine Währungsunion, die allen Bürgern zugutekommt. Zombiebanken sollten neu strukturiert werden, übermäßige Schulden (ob privat oder öffentlich) gehören abgeschrieben. Und Europa braucht Investitionen, verbunden mit Reformen für mehr Produktivität (und damit auch steigende Löhne). Die fiskalische Zwangsjacke gehört in die Altkleidersammlung. Die gerechtere, freiere und reichere Eurozone, die auf diese Weise entstehen würde, wäre auch im deutschen Interesse. Wir brauchen wirtschaftliche und politische Erneuerung, wir brauchen nicht weniger als einen europäischen Frühling.
Aus dem Englischen von Tobias Dürr
Dieser Text basiert auf Philippe Legrains Buch „European Spring: Why Our Economies and Politics are in a Mess – and How to Put Them Right“ im Verlag CB Books. Es hat 482 Seiten und kostet 13,90 Euro.