Viel mehr als nur ein Rechtsruck
Bei der Nationalratswahl am 15. Oktober wurde Österreichs Parteiengefüge durchgeschüttelt wie seit Jahrzehnten nicht. Nach elf Jahren Großer Koalition von SPÖ und ÖVP stimmten die Bürger klar für einen Machtwechsel. Aber sie sorgten auch für eine politische Neuordnung aufseiten der Opposition. Das schränkt die Möglichkeiten der Regierungsbildung ein. Die Sache ist einfach und kompliziert zugleich. Sie erinnert in gewisser Weise an Deutschland, wo die Große Koalition zusammen 13 Prozentpunkte verlor und die AfD als drittstärkste Kraft ins Parlament einzog.
Diese Reihenfolge gibt es nun auch in Österreich: Die ÖVP liegt vor der SPÖ, und auf Platz drei behauptete sich eine gestärkte rechtspopulistische FPÖ. Deutlich dahinter folgen die liberalen Neos und eine neue linksalternative Partei, die aus einer Spaltung der Grünen hervorging. Die Ökopartei hingegen stürzte ab, verlor zwei Drittel ihrer Wähler. Der Unterschied zu Deutschland: Eine Koalition von ÖVP oder SPÖ mit den Kleinparteien ergibt keine Regierungsmehrheit.
Kurz verkaufte sich als Erneuerer
Österreich wählte also rechts. Nur in Wien konnte die SPÖ überzeugend dazugewinnen. Ansonsten ging es für die Sozialdemokraten praktisch überall bergab, auf dem Land und in den Städten, bei den jungen Wählern, sogar bei den Arbeitern. Wie bei den deutschen Nachbarn stand im Wahlkampf vor allem der Streit um die Migrationspolitik im Zentrum der Auseinandersetzung. Die Debatte darüber, ob und wie stark man nach der Migrationswelle des Jahres 2015 mit restriktiven Maßnahmen reagieren müsse, wurde hart geführt. Der Umgang mit diesem Thema hat – neben der Sehnsucht nach dem Ende des großkoalitionären Dauerstreits – für den Wahlausgang eine entscheidende Rolle gespielt.
Bis zum Frühjahr hatte die FPÖ in den Umfragen noch bei satten 33 Prozent gelegen. Dann übernahm Anfang Mai nach monatelangen Intrigen und Querelen der erst 31 Jahre alte Außenminister Sebastian Kurz die ÖVP und krempelte sie mit seinen Gefolgsleuten um. Er gab den „Schwarzen“ einen neuen Anstrich und verkaufte sich als der Erneuerer des Landes. Auf den Feldern Migration und Flüchtlingspolitik setzte Kurz ganz auf die harte Linie, nahe an der FPÖ. Anders als die Freiheitlichen baut Kurz allerdings auf europäische Lösungen in der Migrationspolitik, wie auch in der Finanzpolitik. Das Ergebnis: Die ÖVP gewann acht Prozentpunkte hinzu, so viel wie noch nie in den vergangenen 70 Jahren. Bundespräsident Alexander Van der Bellen beauftragte Kurz mit der Regierungsbildung.
Nun heißt es von allen Seiten, der Einzug der rechtspopulistischen FPÖ in eine Bundesregierung sei unvermeidlich. In der Tat gibt es inhaltlich viele Schnittmengen zwischen ÖVP und FPÖ: schlankerer Staat, Steuererleichterungen, Abbau des Sozialstaates, rigide Sicherheitspolitik.
Aber der Knackpunkt ist die Europapolitik. Im zweiten Halbjahr 2018 übernimmt Österreich den Ratsvorsitz in der EU, ein echtes Prestigeprojekt für ein so kleines EU-Land. Die FPÖ als Mitglied der von Marine Le Pen gegründeten ENF-Fraktion im Europäischen Parlament macht sich da nicht so gut. Und FPÖ-Chef Heinz Christian Strache hat bereits zur Koalitionsbedingung gemacht, dass er und seine Mitstreiter Schlüsselposten in einer möglichen Regierung erhalten. Das zu verhindern, liegt nun in der Hand der Sozialdemokraten, die im Wahlkampf eindringlich vor dem Regierungseintritt der Blauen gewarnt haben.
Bundespräsident Van der Bellen wünschte sich in seinem Regierungsbildungsauftrag an Kurz explizit eine „proeuropäische Regierung“. Der Präsident ist qua Verfassung der Regierungsmacher. Er kann jeden Minister ablehnen, er ernennt den Bundeskanzler. Und der Noch-Außenminister Kurz war vier Tage nach der Wahl extra nach Brüssel gereist, um dort ein demonstratives Bekenntnis zum traditionellen Kurs der „Europapartei“ ÖVP abzulegen.
Springt die SPÖ über ihren Schatten?
Innenpolitisch täte sich Kurz mit der FPÖ leichter. Aber in Europa würde er mit FPÖ-Ministern seinen guten Ruf riskieren. Die SPÖ könnte, wenn es ihr darum geht, einen Rechtsruck zu verhindern, noch eine entscheidende Rolle spielen. Nur sie ist in der Lage, den Regierungseintritt der FPÖ noch zu verhindern, müsste dafür allerdings über ihren Schatten springen und sich als Juniorpartner in einer runderneuerten Großen Koalition anbieten. Oder sie könnte sich bereit erklären, eine Minderheitsregierung Kurz zu tolerieren, zumindest bis nach dem EU-Vorsitz im Jahr 2019.
Eine Schlüsselrolle spielt Noch-Bundeskanzler Christian Kern. Sein Verhältnis zu Sebastian Kurz ist sichtlich zerrüttet. Das Vertrauensverhältnis zwischen den beiden ist nach einem Dirty-Campaining-Skandal um den Chef der SPÖ-Wahlkampagne zerstört. Es ist undenkbar, dass Kern den Vizekanzler gibt. Aber es wäre möglich, dass er sich auf die Rolle des Oppositionschefs der Sozialdemokraten im Parlament zurückzieht. Eine starke Gruppe in der Partei macht sich sogar dafür stark, dass Kern versuchen sollte, mithilfe der FPÖ an der Macht zu bleiben – in einer rot-blauen Koalition. Vor allem in den Gewerkschaften gilt diese Variante als echte Option. Allerdings erklärte der rote Wiener Bürgermeister Michael Häupl bereits öffentlich, wozu ein Pakt mit Strache führen würde: zur Spaltung der SPÖ.