"Auf die Menschen kommt es an!"
Worin liegt eigentlich das Erfolgsgeheimnis der sozialen Innovationsgesellschaft Finnland? Ein Interview mit dem finnischen Sozialphilosophen PEKKA HIMANEN über die Gründe für den Aufstieg seines Landes
Im vergangenen Sommer ist der amerikanische Journalist Robert G. Kaiser von der Washington Post drei Wochen lang durch Finnland gereist, um herauszufinden, wie das Land funktioniert – genauer: warum es so gut funktioniert. Die höchst lesenswerten Ergebnisse seiner Recherchen hat Kaiser in Form eines interaktiven Reise-Weblogs fortlaufend im Internet veröffentlicht (http://blogs.washingtonpost.com/finlanddiary). Im Voraus bereits führte Kaiser per E-Mail ein Interview mit dem 31-jährigen Sozialphilosophen und Vordenker der finnischen Informationsgesellschaft. Zusammen mit dem renommierten Soziologen Manuel Castells (Die Netzwerkgesellschaft) hat Himanen das einflussreiche Buch The Information Society and the Welfare State: The Finnish Model (Oxford University Press 2002) geschrieben. Das hier vorliegende Interview enthält einige der zentralen Thesen Himanens. T.D.
Das World Economic Forum stuft Finnland als die wettbewerbsfähigste Ökonomie der Welt ein. Das finnische Bildungssystem ist, gemessen an den Ergebnissen von internationalen Vergleichstests, vermutlich das Beste überhaupt. Die Finnen haben mehr Funktelefone pro Kopf der Bevölkerung als irgendein anderes Volk auf der Erde. Sie machen ausgiebigen Gebrauch vom Internet, und sie sind eine der Gesellschaften mit der höchsten Computer-Kompetenz. Sowohl Nokia als auch Linux sind finnische Erfindungen. Finnland hat ein wunderbares System der musikalischen Bildung, das eine unglaubliche Zahl von Weltklassemusikern, Sängern und Dirigenten auf dem Gebiet der Klassik, aber auch hervorragende Jazz- und Rockmusiker hervorgebracht hat. Also, was geht da eigentlich in Finnland vor? Noch vor 50 Jahren wart Ihr arm und rückständig. Warum funktioniert Euer Land heute so gut?
PEKKA HIMANEN: Die drei Dinge, die Menschen kennen müssen, um das moderne Finnland zu verstehen, sind Nokia, Linux und die „Love Metal“-Rockband HIM. Diese drei Dinge bringen den finnischen Wandel auf den Punkt. Die Funktelefone von Nokia sind Bestandteil einer ganz bewussten Politik der Investition in Innovation. Finnland investiert gemessen am Bruttosozialprodukt mehr in Forschung und Entwicklung als die Vereinigten Staaten. Finnlands Erfolg auf dem Gebiet der Informationstechnologie und die finnischen Bildungs- und Gesundheitssysteme wurden Hand in Hand entwickelt, um einen „virtuous circle“, also einen positiven Kreislauf zwischen ihnen zu schaffen: Gute Bildung schafft mehr Innovatoren, deren Erfolg dann die weitere Finanzierung des Sozialstaates möglich macht. HIM wiederum ist ein Phänomen, das unsere kulturelle Identität betrifft. Man muss sich ihr „Funeral of Hearts“ anhören, um ein Gefühl für die finnische Identität zu bekommen. Wir haben eine Geschichte des Durchleidens langer und kalter Winter, und man kann aus dieser Musik sowohl Melancholie als auch die besondere finnische Energie heraushören. Alle diese Erfolge, von der Informationstechnologie bis hin zur Musik, waren wichtig bei der Herausbildung einer neuen kulturellen Identität der Finnen: Wir sind kein armes Land mehr, sondern auf vielen Gebieten die kreativen Anführer.
Finnische Frauen scheinen freier zu sein als die Frauen anderswo. Ihr habt sogar eine Frau zur Präsidentin gewählt. Warum ist das so?
HIMANEN: Die zentrale Idee heißt Chancengleichheit: Frauen müssen sich nicht zwischen dem Kinderkriegen und der Arbeit entscheiden. Die Gesellschaft sollte dies ermöglichen, und das tut sie bei uns auch. Es gibt das universelle Recht auf kostengünstige Kinderbetreuung durch Personal, das auf Hochschulniveau ausgebildet ist. Dass es bei uns langen Mutterschaftsurlaub und Kinderbetreuung für alle gibt, verblüfft meine ausländischen Freunde meist. Aber es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass nicht nur Frauen dies durchgesetzt haben. Die Männer in Finnland haben das unterstützt. Sie sind stark genug, um starke Frauen als Partner zu haben.
Die reichen Länder des „alten Europa“ und in Nordamerika haben chronische Schwierigkeiten mit ihren Bildungssystemen. In Finnland dagegen läuft es mit der Bildung anscheinend wie am Schnürchen. Warum ist Finnland so gut darin, seine jungen Leute auszubilden?
HIMANEN: In Finnland ist der Zusammenhang zwischen der Qualität von Bildung einerseits und Armut andererseits sehr früh erkannt worden. Noch im späten 19. Jahrhundert war Finnland ein sehr armes Land mit geringer Bildung. Und es war arm, gerade weil es an Bildung mangelte. Die Entwicklung Finnlands hat ihre Ursache darin, dass in Bildung investiert worden ist. Dabei sagen die absoluten Zahlen der investierten Mittel nicht viel aus. Zum Beispiel absorbiert das finnische Gesundheitssystem 7 Prozent unseres Bruttosozialprodukts – in den Vereinigten Staaten machen die Gesundheitskosten 14 Prozent aus. Die USA haben verschiedene Systeme für die Armen und all die anderen, und diese Systeme sind nicht effizient. Bei der Bildung liegt der Schlüssel zum Erfolg nicht darin, wie viel Geld investiert wird – auf die Menschen kommt es an! Die hohe Qualität der finnischen Bildung beruht auf der hohen Qualität der finnischen Lehrer. Man braucht einen Fachhochschulabschluss, um einen Kindergarten zu leiten. Und man braucht einen Abschluss auf Magisterniveau, um an einer Grundschule zu unterrichten. Viele der besten Studenten wollen Lehrer werden. Damit verbunden ist, dass wir in Finnland tatsächlich davon überzeugt sind, in einem Informationszeitalter zu leben. Das führt dazu, dass bei uns hohen Respekt genießt, wer einen so entscheidenden Informationsberuf wie den des Lehrers ausübt.
Wenn Finnen untereinander reden, diskutieren sie dann auch über die relativen Stärken ihrer Gesellschaft im Vergleich zu anderen? Wie erklären sie einander die eigenen Erfolge?
HIMANEN: Über solche Dinge reden wir normalerweise nicht.
Nokia ist im vergangenen Jahrzehnt eines der kreativsten und erfolgreichsten Unternehmen weltweit gewesen. Es ist auch das mit Abstand wichtigste finnische Unternehmen. Was ist das Geheimnis seines Erfolgs? Warum wurde Finnland zur natürlichen Heimat des Funktelefons?
HIMANEN: Es ist kein Zufall, dass Finnland zum Heimatland der Funktelefonrevolution geworden ist. Aber der Grund ist nicht, was üblicherweise angeführt wird: die kalten Winter und dass man dann in Finnland nichts Besseres zu tun hätte, als zu telefonieren; oder dass es für die Finnen schwierig sei, auf andere Weise als per Telefon zu kommunizieren. Es ist vielmehr eine Kombination von Ursachen: Zum einen das hohe Niveau der Investitionen in technologische Forschung und Entwicklung, das seit den frühen achtziger Jahren offizielle Regierungspolitik ist. Zum anderen die nichthierarchische Struktur von finnischen Unternehmen wie Nokia. Das macht diese Unternehmen dynamischer als ihre stärker hierarchisch organisierten Wettbewerber.
Linux, die frei zugängliche Alternative zum Betriebssystem Windows, wurde von Linus Torvalds erfunden – einem Finnen. War das ein Zufall? Hat Linux etwas besonders Finnisches an sich?
HIMANEN: Linus Torvalds ist keine Ausnahme. Das Internet Relay Chat wurde von einem Finnen erfunden, der erste grafische Web-Browser (vor Netscape und Mosaic) wurde von Finnen entwickelt – und so weiter. Es liegt am Bildungssystem. Das Studium an finnischen Universitäten ist kostenlos, und man bekommt ein monatliches Studiengeld. Deshalb gibt es keinen unmittelbaren Druck, möglichst schnell einen Abschluss zu machen und eine sichere Laufbahn anzusteuern. Linus Torvalds und andere haben Zeit und Platz, um ihre Ideen auszuprobieren. Das wird als wichtiger Bestandteil des akademischen Lebens in Finnland angesehen. Linus Torvalds hat acht Jahre gebraucht, um an der Universität Helsinki seinen Magister zu machen – aber er hat Linux geschaffen!
Manche Finnen trinken viel Wodka. Die Selbstmordrate unter finnischen Männern ist hoch. Die Arbeitslosigkeit ist in Finnland höher als in den Vereinigten Staaten. Ist das rosige Bild vom erfolgreichen Finnland vielleicht doch irreführend? Was geht in Finnland schief?
HIMANEN: Das ist die dunklere Seite unserer Geschichte. Wie gesagt, wir haben eine Geschichte des Erleidens. Man muss sich klar machen: In Finnland kann die Temperatur im Winter bei minus 30 Grad Celsius liegen. Und man muss sich auch klar machen, wie Finnland ohne moderne Technologie ausgesehen hat. Es war eine echte Herausforderung, die Winter zu überstehen. Das vergisst man leicht, wenn man Finnland im Sommer besucht und die Menschen beim Sonnenbaden sieht. Leiden schafft die positive Fähigkeit, mit anderen mitzufühlen. Das ist die Grundlage aller Ethik und der Sorge um andere – und die Grundlage des finnischen Wohlfahrtsstaates. Aber Leiden kann sich auch in selbstdestruktive Melancholie verwandeln. Die gibt es bei uns noch immer, aber wie gesagt: Finnland verändert sich durch Dinge wie Nokia, Linux und HIM.
Eine damit zusammenhängende Frage: Linus Torvalds lebt jetzt in den Vereinigten Staaten. Du hast zwischen Deinem zwanzigsten und dreißigsten Lebensjahr selbst eine Zeitlang in Berkeley, Kalifornien gelebt. Warum ist Amerika für viele talentierte junge Finnen wie Dich und Torvalds so attraktiv? Gibt es dort etwas, das in Finnland fehlt?
HIMANEN: Natürlich. Finnland hat nicht denselben multikulturellen Raum, in dem Menschen mit ganz unterschiedlicher Herkunft in Kontakt zueinander treten können. Und Multikulturalismus ist eine wichtige Voraussetzung für Kreativität, wie man an Silicon Valley sehen kann. Die finnische Gesellschaft regt auch nicht in der gleichen Weise zu unternehmerischem Verhalten an wie die amerikanische. Ich habe meine Zeit in Amerika sehr genossen, und ich glaube, die meisten Europäer, die Amerika kritisieren, tun das, weil sie es nicht wirklich gesehen haben. Der für mich wichtigste Grund, nach Amerika zu gehen, war paradoxerweise die Zusammenarbeit mit meinem Kollegen Manuel Castells, der aus Spanien nach Kalifornien gezogen ist.
Finnland ist ein Wohlfahrtsstaat. Bildung und Gesundheitsversorgung sind vollständig kostenlos, die Renten sind großzügig, und es scheint ein egalitärer Geist zu herrschen. Viele andere europäische Länder kommen zu dem Schluss, dass ihre Sozialsysteme zu großzügig sind – sie können sie sich nicht wirklich leisten. Wie ist das in Finnland? Kommt auf Euch ebenfalls die demografische Krise zu, vor der so viele andere europäische Staaten stehen: eine alternde Bevölkerung und nicht genügend jüngere Erwerbstätige, um den Sozialstaat zu finanzieren?
HIMANEN: Vor dieser Herausforderung steht auch Finnland. Aber wir können sie bewältigen. In unserem Buch The Information Society and the Welfare State haben Manuel Castells und ich das Konzept des „virtuous circle“ eingeführt – also des Positivkreislaufs, des Gegenteils von einem Teufelskreis. Wenn wir imstande sind, die Art von Kreativität auszubauen, die wir bei Nokia oder auch bei HIM erlebt haben, dann werden wir genug Geld erwirtschaften, um den Wohlfahrtsstaat weiter zu finanzieren – und dies wiederum schafft die Grundlage dafür, dass unter nachhaltigen sozialen Bedingungen neue Innovatoren nachwachsen können. Etwas anderes können wir von Amerika lernen: Finnland muss seine Grenzen weiter öffnen, Zuwanderung zulassen und die Entstehung einer unternehmerischen Kultur anregen.
Die Steuern in Finnland sind hoch. Sie machen ungefähr 45 Prozent Eures Bruttoinlandsprodukts aus. Wie finden es die Finnen, dass sie so hohe Steuern bezahlen müssen? Träumen Finnen so wie die Amerikaner davon, reich zu werden? Leben reiche Finnen so wie reiche Amerikaner? In großen Häusern mit Bediensteten und so weiter? Habt Ihr in Finnland auch Konservative, die finden, der Staat sei zu mächtig, die Steuern seien zu hoch und darunter leide ihre Freiheit?
HIMANEN: Es ist interessant: Wenn Finnen gefragt werden, für welche Dinge der Staat am dringlichsten zu sorgen habe, dann nennen sie Gesundheit und Bildung. Die Steuern sind in Finnland ziemlich hoch, wenn auch im europäischen Vergleich nicht am höchsten. So lange die Finnen den Eindruck haben, sie erhielten für ihre Steuereuros eine gute Gegenleistung in Gestalt hochwertiger öffentlicher Güter, sind sie bereit zu zahlen. Im Allgemeinen finden sie, dass Steuern ein fairer Preis sind für eine Gesellschaft mit gleichen Chancen für alle. Außerdem profitieren ja alle ganz direkt von unseren öffentlichen Dienstleistungen. Alle Finnen haben öffentliche Schulen und Universitäten besucht. Alle nutzen das öffentliche Gesundheitssystem. Der Sozialstaat bietet nicht nur Dienste für die Armen. Wenn eine Gesellschaft nicht zulässt, dass ihre demokratisch gewählte Regierung die Wirtschaft besteuert, um gleiche Lebenschancen für alle zu schaffen, dann wird überhaupt niemand gleiche Lebenschancen für alle schaffen. Aber Steueranteile am Bruttosozialprodukt zu vergleichen führt in die Irre. Wenn sie sich mit den Finnen vergleichen, müssten beispielsweise die Amerikaner zu ihren 25 Prozent Steuern sämtliche Kosten ihrer Krankenversicherung, die Studiengebühren ihrer Kinder, ihre private Altersvorsorge und so weiter hinzuzählen – also all die Kosten, die die Finnen nicht mehr zu bezahlen brauchen, wenn sie ihre Steuern entrichtet haben. Im Übrigen: Die Finnen wollen aus denselben Gründen reich werden wie andere Menschen – um wohlhabend zu sein. Aber der Unterschied zwischen den Reichsten und den Ärmsten ist in Finnland nicht so groß wie anderswo. Finnen würden es nicht für fair halten, wenn wie in Amerika ein Vorstandschef 350 Mal so viel verdiente wie ein Fabrikarbeiter. Die Reichen brauchen bei uns nicht in abgeriegelte Viertel zu ziehen. Ihre Kinder gehen mit Kindern aus ganz unterschiedlichen sozialen Milieus zusammen zur Schule. Auf diese Weise entsteht keine völlig isolierte Elite. Steuersenkungen kommen viel weiter unten auf der Prioritätenliste. Selbst die „Konservativen“ in Finnland treten nicht für radikal niedrigere Steuern ein, obgleich es natürlich Politiker gibt, die den Staat für zu umfangreich halten. Umfragen zufolge ist das „Reichwerden“ für Finnen kein besonders erstrebenswertes Ziel. Üblicherweise reden die Menschen hier mehr über Gesundheit und Familie als den wichtigsten Dingen im Leben.
Was oder wer bewegt Finnen emotional? Welche besonderen Ideen, Moden, Kunstrichtungen oder Popkultur prägen die finnische Gesllschaft?
HIMANEN: Im Wesentlichen bewegen Finnen dieselben Dinge wie Menschen überall: Liebe und so weiter. Aber wenn wir an die Kultur denken, dann bewegt Finnen ganz besonders die Musik. Auf den obersten Plätzen der finnischen Hitparade finden sich immer auch Lieder in finnischer Sprache und Machart. Diese Musik verbindet finnische Sprache und finnische Mentalität. Finnen können auch sehr emotional werden, wenn sie die Musik von Sibelius hören, unserem größten klassischen Komponisten (ganz besonders die Finlandia-Hymne). Verblüffend ist – angesichts der angeblichen Unfähigkeit der Finnen, ihre Gefühle zu zeigen – die große Popularität des Tango in Finnland. Hier berühren sich Argentinien und die steifen Menschen des Nordens. Auf einer anderen Ebene bewegen jene Dinge die Finnen sehr, die mit ihrer nationalen Identität zu tun haben: Als Finnland beispielsweise 1995 Eishockeyweltmeister wurde, feierten in den Straßen von Helsinki Hunderttausende. Die Leute singen noch immer Lieder, die diesen Sieg rühmen. Die finnische Wirklichkeit ist oft sehr anders als die Stereotype, die über die Finnen im Umlauf sind.
Wir danken Pekka Himanen und Robert G. Kaiser für die Erlaubnis zum Abdruck dieses Interviews.
Aus dem Englischen von Tobias Dürr