"Mehr wir" und "mehr ich" sind keine Gegensätze
Der SPD ist es gelungen, durch geschickt geführte Koalitionsverhandlungen und die anschließende Mitgliederbefragung aus ihrer erneuten Wahlniederlage einen Teilerfolg zu machen. Über die nun einsetzende Regierungspraxis sollte die Partei jedoch nicht versäumen, die programmatische Selbstbesinnung fortzuführen, die im 150. Jahr ihres Bestehens stattfand. Besonders aktuell bleibt die Frage, welche politische Erzählung die Brücke zwischen der vormaligen Stammwählerschaft und einer immer volatileren Mittelschicht schlagen kann. Das Verhältnis von Sozialdemokratie und Individualität wird dabei eines der zentralen Diskursfelder sein.
Im Wahlkampf setzte sich die Parole „Das Wir entscheidet“ nicht nur von der marktliberalen Freiheitsrhetorik der FDP ab, sondern auch von den auf persönliche Betroffenheit und Engagementbereitschaft zielenden Plakaten der Grünen. Ebenso wie Peer Steinbrücks Ausspruch, das Land brauche „mehr wir, weniger ich“, appellierte der Slogan an die kollektive Solidarität der Deutschen und sollte diejenigen Wählergruppen ansprechen, die auf diese Solidarität angewiesen sind. Zweifellos können Sozialdemokraten nicht akzeptieren, dass die Verfolgung von Eigeninteressen, meist auch noch aus einer privilegierten Position, zum politischen Prinzip erhoben wird. Doch kann man hoffen, den gegenwärtigen oder gar zukünftigen Mainstream der deutschen Gesellschaft zu erreichen, indem man „wir“ und „ich“ als Gegenpole versteht?
In dem jüngst erschienenen Band Die Gute Gesellschaft: Soziale und demokratische Politik im 21. Jahrhundert werden einige andere Akzente gesetzt. So schreibt etwa Andrea Nahles, ein „hohes Maß an Gerechtigkeit“ sei „die Voraussetzung für Individualität und die Entwicklung des schöpferischen Potenzials des Einzelnen“. Julian Nida-Rümelin argumentiert, dass nur solidarische Praxis, kollektive Güterabwägung und sozialstaatliche Intervention die Bedingungen „gleicher individueller Freiheit und Würde“ sowie „verantwortlicher, autonomer Lebensgestaltung“ herstellen könnten. Und Gesine Schwan verteidigt „die wohlwollende und sorgfältige Förderung der individuellen Potenziale“ gegen das grassierende Nützlichkeits- und Wettbewerbsdenken in der Bildungspolitik. Für alle drei bedeutet sozialdemokratisches Denken, den Gegensatz zwischen „wir“ und „ich“ zu überwinden und die gemeinschaftlichen, aber eben auch sozial- und kulturstaatlichen Grundlagen der individuellen Selbstentfaltung zu sichern und auszubauen. Sie bieten damit eine intellektuelle Alternative zum Marktliberalismus, der den letztlich ökonomisch definierten – und implizit der oberen Mittelschicht zugehörigen – Einzelnen von staatlichen Regulierungen und Belastungen „befreien“ will.
Die Äußerungen von Nahles, Nida-Rümelin und Schwan schließen an eine lange Tradition an. Die frühen Sozialdemokraten wollten herablassenden Bürgern zeigen, dass auch und gerade Arbeiter selbstverantwortliche und bildungsorientierte Individuen sein konnten. Ihre in Partei, Vereinen und Gewerkschaften praktizierte Solidarität ermöglichte es, diesen Anspruch auf autonomes Handeln in der feindseligen Klassengesellschaft des Kaiserreichs ein großes Stück weit zu erfüllen und auf seine Verwirklichung in einem zukünftigen republikanischen Gemeinwesen hinzuarbeiten. Später waren Sozialdemokraten entscheidend an der Revolution von 1918/19 beteiligt, die obrigkeitliche Zensur und Überwachung beseitigte und Raum für gesellschaftliche Neuerungen schuf. So bemühten sich in der Weimarer Republik Bildungsreformer um ein Schulsystem, das Arbeiterkinder nicht mehr mit autoritären Mitteln zur Unterordnung anhielt, sondern ihre Persönlichkeitsbildung förderte. Trotz einer schwierigen Finanzlage verbesserten vielfältige wohlfahrtsstaatliche Leistungen, von Jugendfürsorge und Arbeitslosenversicherung auf Reichsebene bis hin zu Sozialwohnungen, öffentlichen Verkehrsmitteln und Schwimmbädern in den Kommunen, die Entfaltungsmöglichkeiten breiter Bevölkerungsschichten.
Wie Sozialdemokraten Individualität verstehen
Sozialdemokraten trieben diese Entwicklung entscheidend voran und führten sie später in Westdeutschland fort, erst in verschiedenen Ländern und dann im Bund. Je erfolgreicher sie damit waren, desto stärker waren sie einer konservativen Kampagne ausgesetzt, die die persönliche „Freiheit“ gegen den „Sozialismus“ ausspielte. Doch traten sie diesem propagandistischen Zerrbild selbstbewusst entgegen. So begründete etwa Willy Brandt seine Ostpolitik von Anfang an mit konkreten Verbesserungen für von der Teilung betroffene Individuen und Familien. Und 1976 argumentierte er gegen die Attacken der Union, dass der demokratische Sozialismus die „freie Entfaltung der Persönlichkeit“ keineswegs behindere, sondern sie erst garantiere, indem er entwürdigende Abhängigkeiten beseitige und Mitbestimmungsmöglichkeiten erweitere.
Die historische Rückschau verweist auf Traditionen eines genuin sozialdemokratischen Individualitätsverständnisses, aber auch auf einige Probleme, die zum Teil noch heute aktuell sind. Während der Revolution von 1918/19 legten die gemäßigten Mehrheitssozialdemokraten so großen Wert auf die Selbstregulierung vernünftiger Subjekte, dass sie wilde Streiks oder heftige Diskussionen auf der Straße nur als Bedrohung des soeben Erreichten sehen konnten und damit innerhalb der Linken in die Defensive gerieten. Die kommunalen Reformer der zwanziger Jahre erschienen weiten Teilen der Öffentlichkeit als Bürokraten, die zwar Leistungskataloge vorzuweisen hatten, aber auf individuelle Notsituationen nicht zu reagieren vermochten. Mit der bereits damals feststellbaren Personalisierung und Medialisierung von Politik taten sie sich schwer. So beklagte Ernst Reuter als erster Direktor der Berliner Verkehrsgesellschaft, wie sehr die ständigen Presseberichte über Selbstmorde, Ehedramen oder Gasexplosionen die rationale Diskussion von Großstadtwachstum und Infrastrukturausbau erschwerten.
Diese Beispiele verweisen auf die grundsätzliche Herausforderung, das sozialdemokratische Individualitätsversprechen auch als solches zu vermitteln. Ein auf Gleichheit zielendes, strukturell ansetzendes Politikverständnis gerät leicht – wie unfair auch immer – in den Verdacht, über persönliche Erfahrungen und Bedürfnisse hinwegzugehen. Damit verwandt ist das Problem, dass die praktische Befriedigung individueller Ansprüche aus der Perspektive derer, die sie stellen, oft als unzureichend erscheint. Wohlfahrtsstaatliche Leistungen werden bald als selbstverständlich erachtet und stimulieren weitere Erwartungen, mit deren Erfüllung sich auch die kompetenteste Regierung schwertun kann. Als Regierender Bürgermeister Westberlins verwies Willy Brandt 1958 auf bedeutende wohnungspolitische Errungenschaften, fügte jedoch hinzu: „Solange wir nicht bauen konnten, gab es nicht die vielen Vergleichsmöglichkeiten, die heute zur Unzufriedenheit geradezu herausfordern. Der Mann am Wedding im Hinterhaus hat jetzt den Vergleich mit den neuen Siedlungen und sagt: warum die, warum ich noch nicht?“
Für Brandt war die Erfüllung solcher Erwartungen an öffentlich geförderte Privatheit letztlich eine Zeitfrage, denn das Wirtschaftswunder versprach, den so gleichmäßigen wie zügigen Ausbau von Wohnungen und Infrastruktur zu ermöglichen. In den sechziger und frühen siebziger Jahren zeigten sich die Sozialdemokraten von der Vereinbarkeit wissenschaftlicher Planung, demokratischer Partizipation und der breiten Erfüllung von Individualitätsansprüchen überzeugt. Danach wurde dies erheblich schwieriger, einerseits wegen geringerer finanzieller Spielräume und andererseits aufgrund der zunehmenden Vielgestaltigkeit individueller Vorstellungen. Aufgrund ihres universalistischen Politikansatzes erschien die Sozialdemokratie Friedensbewegten oder Hausbesetzern, die sich primär auf subjektive Erfahrungen und Betroffenheiten beriefen, als unpersönliche Betonpartei, während ihr feministische Kritikerinnen Männerzentriertheit vorhielten. Gleichzeitig versprachen konservative und marktliberale Auffassungen von individueller Freiheit, gesellschaftliche Komplexität zu reduzieren. Sie wurden politisch nutzbar gemacht, um gegen die sozialliberale Koalition unter Helmut Schmidt zu punkten und später deren Aufkündigung zu rechtfertigen.
Warum Individualität den Staat braucht
Verglichen mit dem Westdeutschland der siebziger und achtziger Jahre stellt sich die aktuelle Situation noch unübersichtlicher dar. Die Deutschen wollen mehrheitlich als Individuen angesprochen werden und reagieren allergisch auf wirkliche oder vermeintliche Freiheitsbeschränkungen. Deshalb konnten die Grünen erfolgreich als Partei des persönlichen Engagements auftreten und dann wieder aufgrund ihrer „Veggie Day“-Initiative als Bevormundungsagentur wahrgenommen werden. Ökonomischer Individualismus bleibt für viele zugkräftig, wenn er sich mit einer über das Materielle hinausgehenden Erzählung verbindet, was der FDP zuletzt offenkundig missglückt ist. Selbst die Unionsparteien treten nicht länger als Kräfte auf, die den Einzelnen ihre Lebensweise vorschreiben wollen. Sie haben sich mit Abtreibungsfreiheit und eingetragener Partnerschaft für Homosexuelle abgefunden und die Einführung des Betreuungsgeldes als Erweiterung der Wahlfreiheit verkauft. Die SPD steht vor dem Problem, einerseits mit einem zu starken Bezug auf ein – ohnehin schwer zu definierendes – „wir“ die gesellschaftliche Stimmungslage zu verfehlen, sich aber andererseits mit auf das „ich“ abstellenden Argumenten womöglich nicht hinreichend von der Konkurrenz unterscheiden zu können.
Dennoch gibt es in letzter Zeit ermutigende Veränderungen, die sich mit dem nötigen politischen Geschick in eine Trendwende verwandeln ließen. Sozialdemokraten haben allen Anlass, sich in einer von individualisierten Ansprüchen geprägten Gesellschaft selbstbewusst zu bewegen, statt sich ihr mit geringen Erfolgsaussichten entgegenzustemmen. Das hat erstens damit zu tun, dass die Staatsbedürftigkeit von Individualität wieder vermehrt anerkannt wird. Wirtschaftsliberale Publizisten sind notorisch frustriert, weil ihnen die große Mehrheit der Deutschen auch nach jahrzehntelanger Propaganda nicht folgen will. Gerade die Krise hat vielen vor Augen geführt, welche ganz persönliche Bedeutung soziale Sicherungsnetze und öffentliche Investitionen für sie haben. Die nun zuständigen sozialdemokratischen Minister können davon profitieren, wenn es ihnen gelingt, diesen Zusammenhang öffentlich zu vermitteln.
Zweitens sind auch und gerade in einer individualisierten Gesellschaft weite Teile der Bevölkerung sensibel für Gerechtigkeitsdefizite. Deshalb sind entsprechende Maßnahmen über den Kreis der Betroffenen hinaus populär, sofern sie sich nachvollziehbar und glaubwürdig auf die Verbesserung konkreter Lebensumstände beziehen. Das hat zuletzt die Diskussion um die Einführung des Mindestlohnes und die Einschränkung der Leiharbeit gezeigt.
Drittens empfinden viele Deutsche ein rein materielles Verständnis von Individualität als unbefriedigend. Sozialdemokraten können diese Stimmung aufgreifen und optimistisch wenden, indem sie die Dimension persönlicher Autonomie, Anerkennung und Entfaltung stärker in ihre Rhetorik einbeziehen. Denn öffentliche Investitionen und sozialpolitische Maßnahmen, so wichtig sie auch sind, sprechen nicht für sich selbst. Vielmehr müssen sie in eine Erzählung eingebettet werden, die historische Traditionen, aktuelle Erfahrungen und zukünftige Perspektiven verbindet. Eine Kernbotschaft sollte dabei sein, dass Sozialdemokratie und Individualität miteinander vereinbar sind. „Mehr wir“ kann zugleich „mehr ich“ bedeuten.