6 x Ostdeutschland
Seit 2009 sind alle Landtage im Osten neu gewählt worden. Die politische Szenerie zwischen Schwerin und Dresden ist inzwischen erstaunlich stabil
Sechs ostdeutsche Landtage in zwei Jahren: 2009 haben die Thüringer, Sachsen und Brandenburger ihr Landesparlament neu gewählt, in diesem Jahr waren Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern und Berlin dran. Dabei gab es ein paar gemeinsame Trends, aber auch ein paar Überraschungen. Das kleine Superwahljahr 2011, in dem bundesweit ganze sieben Landtage neu bestimmt wurden, endete für die SPD positiv, für die CDU traurig und die FDP einfach nur noch furchterregend.
In Mecklenburg-Vorpommern errang die SPD einen glanzvollen Wahlsieg, denn nur ein einziges Mal (2002) hatte sie hier noch mehr als die nun errungenen 36 Prozent gewonnen. Vor allem aber: Noch nie war der Abstand zwischen der erst- und der zweitplatzierten Partei im Nordosten so groß wie jetzt. Die SPD in Mecklenburg-Vorpommern hat einen Bilderbuchwahlkampf hingelegt und wurde mit einem dazu passenden Sieg belohnt. Sie hat den nötigen Spagat zwischen sozialer und wirtschaftlicher Kompetenz hinbekommen. Letztlich fuhr sie den Lohn für die stabilitätsorientierte Politik ein, die sie bereits vor knapp zehn Jahren begonnen hatte. „M-V“ nimmt seit 2006 keine Kredite mehr auf; nur Sachsen und Bayern gelingt dasselbe. Vor allem hat es die Nordost-SPD geschafft, bei den Themen Wirtschaft und soziale Gerechtigkeit zugleich Kompetenzführer zu sein. Das gelang der SPD in jüngerer Zeit sonst nur in Hamburg und Brandenburg – offenbar eine wichtige Bedingung für gute Ergebnisse. Begleitet haben die Sozialdemokraten dies mit verstärkter Profilierung in Familienfragen. Den Generationenwechsel im Amt des Ministerpräsidenten hat die SPD im Nordosten jedenfalls gut bewältigt. Die SPD nutzt ihre zentrale Position im Parteiensystem optimal aus, auf sie sind alle Koalitionsüberlegungen der anderen demokratischen Parteien ausgerichtet. Hier ist die Sozialdemokratie eine wahre Partei der Mitte.
Einzig der Wiedereinzug der NPD ins Schweriner Schloss wirft Schatten auf den Wahlausgang. Zwar haben die Rechten etwa ein Drittel ihrer Stimmen verloren, doch zeigt das Ergebnis auch, dass in Mecklenburg-Vorpommern eine soziale Basis für Ausländerfeindlichkeit, Trotz und Protest existiert. Obwohl die Arbeitslosigkeit nur noch halb so hoch ist wie vor fünf Jahren, obwohl Tourismus und Energiewirtschaft Jobs schaffen, hat sich die soziale Spaltung im Land eher verschärft. Zu viele Arbeitsplätze sind prekär und schlecht bezahlt, zu wenig vom Aufschwung kommt in den Randregionen an. Eine der wichtigsten Aufgaben der neuen Regierung wird es deshalb sein, Land und Gesellschaft zusammen zu halten und die Voraussetzungen für ordentliche Löhne zu schaffen, von denen Familien wirklich leben können.
Mobilisierung bei Wahlen setzt sich meist aus drei Faktoren zusammen. Die „Grundmobilisierung“ ergibt sich aus der allgemeinen Stimmung, die in erster Linie im Bund gemacht wird. Darauf setzt die „Vor-Ort-Mobilisierung“ auf, bei der es um die Kompetenz der Parteien im Land (oder der Kommune), ihre Amtsdauer, ihre Koalitionsmöglichkeiten und regionale Probleme geht. Drittens können die jeweiligen Spitzenkandidaten für einen zusätzlichen Mobilisierungsschub sorgen – oder eben nicht.
In Mecklenburg-Vorpommern spielten alle drei Faktoren der SPD in die Hände. Die CDU hatte hingegen mit mieser Stimmung im Bund, einem nur mäßig beliebten Spitzenkandidaten und einer nur wenig mobilisierenden Koalitionsstruktur zu kämpfen. Für die FDP sprach eigentlich nichts. Und zwar nicht nur in Mecklenburg-Vorpommern, sondern auch in Berlin. Entsprechend fielen die Wahlergebnisse aus.
Spitzenkandidat ohne Inhalte – das reicht nicht
Auch wenn die beiden Herbstwahlen hauptsächlich Landeswahlen waren: Die Bilanz der CDU und mehr noch der FDP ist niederschmetternd. Blickt man nicht nur auf die Prozente, sondern auch auf die absoluten Stimmen, wird das Drama deutlich. Die FDP hat in Mecklenburg-Vorpommern drei Viertel (!) ihrer Wähler verloren, die CDU ein Drittel. Auch in Berlin kehrten 75 Prozent der FDP-Wähler von 2006 ihrer Partei den Rücken. In beiden Ländern wird Schwarz-Gelb von gerade einmal einem Viertel der Wähler unterstützt. Die Parteien der Bundesregierung sind auf dem Weg, sich selbst abzuschaffen.
Und die Sozialdemokraten? Jede Wahl brachte ihr 2011 Regierungsverantwortung, aber kaum Stimmenzuwächse. Die SPD liegt nicht mehr auf der Intensivstation, vollkommen genesen ist sie jedoch noch nicht. Auch in „M-V“ und Berlin hat sie Wähler nicht hinzugewonnen, sondern (in mäßigem Umfang) verloren. Die Tür für den Sieg im Bund hat die SPD damit noch nicht aufgeschlossen. Beide Wahlen legten nämlich auch die Schwächen der Sozialdemokraten offen. Die gibt es vor allem bei den jüngeren Wählern, besonders den jüngeren Männern. Auch bei ihrer historischen Kernklientel, den Arbeitern, hat die SPD nicht zu alter Stärke gefunden, ebenso wenig bei den Angestellten.
Die Rolle des Spitzenkandidaten wird von Sozialdemokraten bisweilen überschätzt. Der Trend der Wahlen dieses Jahres war klar: Den SPD-Anhängern war die Lösungs- und Programmkompetenz der Parteien stets wichtiger als der Spitzenkandidat. Das war bereits bei der Brandenburg-Wahl 2009 und in Hamburg Anfang dieses Jahres sichtbar. Und es bestätigte sich bei den September-Wahlen. Erwin Sellering ist ein populärer Landesvater, wichtiger waren den Wählern der SPD jedoch die Inhalte seiner Partei. Es war also riskant, dass die Berliner SPD in ihrer Wahlkampagne ausschließlich (!) auf Klaus Wowereit setzte und auf Programmatik verzichtete. Das mag die leichten Stimmenverluste erklären. Mit Blick auf die Bundestagswahlen in (spätestens) zwei Jahren darf die SPD also getrost das Müntefering-Motto „Macht Politik!“ beherzigen – mit Inhalten und mit Personen.
Zurück in den Osten. Wie sieht die politische Landschaft nach der Runderneuerung der Landtage aus? Erstaunlich stabil. Nach den großen Ausschlägen in den neunziger Jahren haben sich drei mittelgroße Parteien etabliert. Das Muster starker Sozialdemokraten im Norden und starker Christdemokraten im Süden verfestigt sich – nach den Ergebnissen der Bundestagswahlen 2009 keine Selbstverständlichkeit. Die SPD bewahrt damit ihre zentrale Stellung im ostdeutschen Parteiensystem – als einzige Partei, die in alle Richtungen koalitionsfähig ist.
Daneben hat sich mittlerweile auch im Osten ein soziales Milieu herausgebildet, das die Grünen in die Landtage tragen kann. Die Linkspartei verliert sowohl in der Opposition als auch an der Regierung an Profil; mit der Westausdehnung hat sie ihr Alleinstellungsmerkmal als „Ost-Partei“ verloren und dürfte damit ihren Zenit in den neuen Ländern überschritten haben. In Ost-Berlin stand die damalige PDS vor zehn Jahren knapp vor der absoluten Mehrheit, mittlerweile erreicht sie dort nicht einmal mehr 23 Prozent – ihr schlechtestes Ergebnis seit 1990.
Den Reiz des Unkonventionellen und Widerborstigen – einst Markenzeichen von „Gysis bunter Truppe“ – besitzt für den Augenblick die Piratenpartei. Sie hat in Berlin einen originellen Wahlkampf geführt und damit den Nerv der kreativen Milieus in der Stadt getroffen. Offenkundig erschließen die Piraten neue Themen für eine neue Generation von Wählern. Ob sie gekommen sind, um zu bleiben, oder ob sie einfach nur integriert werden wollen, kann derzeit noch niemand wissen.
Insgesamt jedoch sind die politischen Ausschläge in Ostdeutschland kleiner geworden, die Stabilität hat zugenommen. Die aktuellen Wahlergebnisse in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern haben an der Gesamtkonstellation wenig verändert. Eigentlich kein schlechtes Zeichen für eine Region, die in den vergangenen zwei Jahrzehnten mehr als genug Veränderungen und Umwälzungen erlebt und nicht selten auch erlitten hat. Das ostdeutsche Parteiensystem wird also langsam erwachsen. «