Die blaue Banane wuchs auch nicht von selbst
Die Aussöhnung von Polen und Deutschen begann mit großen Gesten und kleinen Missverständnissen. 1965, der Zweite Weltkrieg lag gerade mal 20 Jahre zurück, schrieben die polnischen Bischöfe an ihre deutschen Amtsbrüder einen Brief. Der Brief, in Zeiten von E-Mails kaum vorstellbar, lag wochenlang in einem Postfach in Rom und blieb daher lange unbeantwortet. Dabei enthielt er einen Satz, der nach all dem Leid, dass die Deutschen den Polen in der Vergangenheit zugefügt hatten, gerade für viele Polen unvorstellbar war: „Wir vergeben und bitten um Vergebung.“
Geschrieben hatte den Brief der Breslauer Bischof Bronislaw Kominek, unterstützt wurde das Schreiben vom Krakauer Erzbischof Karol Wojtyla, dem späteren Papst Johannes Paul II. Polens kommunistische Führung war allerdings wenig amüsiert über die Initiative der Bischöfe und verschärfte zunächst ihren Kurs gegen die katholische Kirche. Umso enttäuschender für die polnischen Kleriker fiel dann die Antwort der deutschen Bischöfe an ihre polnischen Amtsbrüder aus. Diese fürchteten, die große Zahl der Heimatvertriebenen in Deutschland zu verprellen und konnten sich nicht zu einer ähnlich großen Geste der Versöhnung durchringen, vielleicht auch deshalb nicht, weil sie die historische Reichweite des Briefes verkannten.
Die Früchte der Neuen Ostpolitik
Dennoch: Der „Brief der polnischen Bischöfe“ leitete eine erste Phase der vorsichtigen Annäherung zwischen Polen und Deutschen ein, die dann in der Neuen Ostpolitik Willy Brandts ihren ersten Höhepunkt fand. Mit dem 1970 unterzeichneten und zwei Jahre später vom Bundestag ratifizierten Warschauer Vertrag erkannte die Bundesrepublik de facto die Oder-Neiße-Linie als polnische Westgrenze an. Und besonders Brandts Kniefall in Warschau am Tag der Vertragsunterzeichnung im Dezember 1970 war nicht nur ein starkes politisches Zeichen, sondern mit fünf Jahren Verspätung gewissermaßen auch die deutsche Antwort auf den Brief der polnischen Bischöfe.
Das – heute fast ikonisch wirkende – Bild von Brandts Kniefall verbreitete sich damals nur langsam in Polen. Den kommunistischen Machthabern war Brandts Geste zu stark, stand sie doch im Kontrast zu der scharf anti(west)deutschen Propaganda, die sie selbst im Kalten Krieg betrieben. So wundert es auch nicht, dass in Polen von einigen zu hören war, der deutsche Bundeskanzler habe vor dem „falschen Denkmal“ gekniet. Nicht vor dem Denkmal für die Toten des Aufstandes von 1943 im jüdischen Ghetto Warschaus hätte er knien sollen, hieß es, sondern vor dem Denkmal des Warschauer Aufstandes der polnischen Heimatarmee von 1944.
Die Früchte der Neuen Ostpolitik ließen sich dann Ende der achtziger Jahre ernten. Der Zusammenbruch der staatssozialistischen Systeme in Europa brachte zuerst in Polen mit Tadeusz Masowiecki einen Nicht-Kommunisten an die Macht. Der Fall der Berliner Mauer und die anschließende Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten machten den Weg frei für einen Neustart der deutsch-polnischen Beziehungen. Auch dieser begann wieder mit einer großen Geste, einem Versöhnungsgottesdienst im niederschlesischen Kreisau. Geplant war er für den 10. November 1989, musste aber kurzfristig wegen des überraschenden Mauerfalls in Berlin um einen Tag verschoben werden.
Die erste Etappe der Verständigung
Die in deutscher und polnischer Sprache gehaltene Messe sowie die Umarmung der beiden Katholiken Helmut Kohl und Tadeusz Masowiecki an einem wichtigen Ort des deutschen Widerstandes gegen das Nazi-Regime leiteten die ersten Etappe der Verständigung zwischen dem wiedervereinigten Deutschland und dem demokratischen Polen ein. Zunächst wurden neue Verträge geschlossen und gemeinsame Institutionen geschaffen. Die Bestandsgarantie für die Oder-Neiße-Grenze im Rahmen der 2+4-Verhandlungen und der Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit von 1991 legten dazu die Grundlage.
Verabredet wurden eine deutsch-polnische Regierungskommission, eine Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit und ein deutsch-polnisches Jugendwerk. Im Sommer 1991 legten die Außenminister Deutschlands, Frankreichs und Polens auch den Grundstein für das Gesprächsformat des „Weimarer Dreiecks“, einer engen politischen Abstimmung der drei größten Länder im Herzen Europas.
Zunehmend griff die Kooperation auch auf die regionale und kommunale Ebene über. Städtepartnerschaften wurden wiederbelebt oder neu verabredet, Kreise fanden Partner auf der jeweils anderen Seite von Oder und Neiße. Das Land Brandenburg verankerte die Zusammenarbeit mit den polnischen Nachbarn 1992 sogar in seiner neuen Verfassung, ein Alleinstellungsmerkmal unter den Bundesländern. Allein Brandenburg schloss mit vier polnischen Wojewodschaften Partnerschaftsverträge. Und in Frankfurt an der Oder wurde mit der Europa-Universität Viadrina eine Hochschule gegründet, deren Ziel es von Anfang an war, eine Brücke über den Grenzfluss zu schlagen. Und die zusammen mit der Adam-Mickiewicz-Universität in Posen 1998 das Collegium Polonicum als gemeinsame internationale Lehr- und Forschungseinrichtung eröffnete. Zudem bestehen zwischen Polen und Deutschland inzwischen etwa 1 000 Schulpartnerschaften – wobei diese Zahl sogar noch höher sein könnte, denn nicht alle Wünsche nach Partnerschaften gehen in Erfüllung.
Im Mai 2004 trat Polen dann der EU bei, und mit dem Beitritt des Landes zum Schengen-Raum drei Jahre später entfielen auch die letzten Grenzkontrollen. Diese Daten markieren den Übergang zur zweiten Etappe in den Beziehungen zwischen Deutschland und Polen nach der Zäsur von 1989/90. Diese ist gekennzeichnet durch eine enorme Intensivierung des Miteinanders der beiden Gesellschaften und Volkswirtschaften. Am stärksten zeigt sich diese Verdichtung am Umfang des Außenhandels zwischen Deutschland und Polen: Im Jahr vor dem polnischen EU-Beitritt 2003 beliefen sich die Exporte deutscher Unternehmen nach Polen auf einen Wert von 16 Milliarden Euro, 2015 waren es bereits 52 Milliarden Euro – ein Anstieg um mehr als das Dreifache. Für Brandenburg ist Polen mittlerweile der wichtigste Handelspartner überhaupt, die Dynamik bei den Ein- und Ausfuhren ist ungebrochen, der Außenhandel stieg hier sogar um das Vierfache. Zudem stehen die Polen an der Spitze der ausländischen Gäste in Brandenburg.
Sogar die Landfrauen kooperieren
Auch wenn es noch Lücken gibt, ist die deutsch-polnische Infrastruktur mittlerweile gut ausgebaut. Drei Autobahnen führen von Berlin aus in Richtung Polen, die Bahnstrecke von Berlin in Richtung Warschau ist weitgehend modernisiert. Viele Hochschulen und Forschungseinrichtungen kooperieren miteinander. Selbst Feuerwehren und Katastrophenschützer, Landfrauen und Orchester arbeiten längst über Oder und Neiße hinweg zusammen. Ein Meilenstein der Zusammenarbeit – und zugleich ein eindrucksvoller Ausweis der neuen bilateralen Normalität – ist das 2015 in Kraft getretene deutsch-polnische Polizeiabkommen. Es ermöglicht deutschen und polnischen Polizisten, ihrer Arbeit bei Bedarf auch im jeweiligen Nachbarland nachzugehen und vereinfacht die Verbrechensbekämpfung im Grenzraum ganz erheblich.
Eines zeigen die gesammelten Erfahrungen der vergangenen Jahre sehr deutlich: Die Basis aller guten deutsch-polnischen Zusammenarbeit ist die konkrete kommunale und zivilgesellschaftliche Kooperation vor Ort. Unabhängig davon, ob es in der „großen Politik“ zwischen Berlin und Warschau mal knirscht: In den Regionen geht die Zusammenarbeit weiter. Deshalb ist es an der Zeit, ausgehend von diesem stabilen Fundament ein weiteres Kapitel der deutsch-polnischen Kooperation aufzuschlagen und über die unmittelbare Grenzregion an Oder und Neiße hinauszuschauen.
Wirtschaftsgeografen sprechen gern von der „blauen Wachstumsbanane“. Damit bezeichnen sie das ökonomische Herzland Westeuropas. Es zieht sich von Südostengland über die Benelux-Länder den Rhein hinauf über Süddeutschland bis nach Oberitalien. Die Verflechtung innerhalb der Region ist enorm: hohe Bevölkerungsdichte, erfolgreiche Industrien, gut vernetzte Infrastruktur, hohe ökonomische, kulturelle und wissenschaftliche Verflechtungen. Alle diese Faktoren verstärken sich wechselseitig und haben einen europäischen Wachstumsraum von großer Dynamik geschaffen.
Neues Wachstum an einer alten Schnittlinie
Man muss gar keine neue farbige Obstsorte erfinden, um zu erkennen: Auch im östlichen Mitteleuropa existieren genügend Potenziale, um über den Status quo der unmittelbaren grenzüberschreitenden Zusammenarbeit hinaus eine dynamische, transnational zusammenhängende Wachstumsregion zu entwickeln. Solch eine mittelosteuropäische Wachstumszone kann die Region von Hamburg über Berlin, Leipzig-Dresden-Prag bis hinüber nach Breslau-Oberschlesien-Krakau im Osten sowie Wien-Bratislava im Süden werden. Hier gibt es vielfältige kulturelle Beziehungen und historische Bezüge, eine entwickelte Infrastruktur, wichtige industrielle Zentren, bedeutende Wissenschaftsstandorte, Zentren von Kultur und Tourismus sowie Metropolen, die weit über die Region hinaus ausstrahlen.
Die „blaue Banane“ im westlichen Mitteleuropa hat nach dem Zweiten Weltkrieg vier, fünf Jahrzehnte gebraucht, bis sich ihre innere Dynamik auf allen Gebieten voll entfalten konnte. Hochgeschwindigkeitszüge zwischen Brüssel und London, zwischen Köln und Paris fahren erst seit den neunziger Jahren. Überhaupt hat erst die europäische Integration diese Wachstumsregion möglich gemacht.
Die Region zwischen Elbe, Oder und Donauknie hat es sicherlich etwas schwerer, schließlich war sie noch bis vor zweieinhalb Jahrzehnten durch den Eisernen Vorhang getrennt. Aber die Integration unserer mittelosteuropäischen Nachbarn in die EU eröffnet die Perspektive, dass genau an dieser alten Schnittlinie eine neue Wachstumsdynamik entstehen kann – und entstehen muss. Erste gute Ansätze dafür gibt es bereits. Das Programm der diesjährigen europäischen Kulturhauptstadt Breslau wird in der deutschen Hauptstadtregion sehr genau verfolgt und wahrgenommen – und zwar nicht nur von der offiziellen Politik, sondern gerade auch von der Zivilgesellschaft.
Die Uckermark im Nordosten Brandenburgs wiederum ist in den vergangenen Jahren zur neuen Heimat für mehrere tausend Polen geworden, die es aus dem boomenden, aber immer teureren Stettin hinaus ins dünn besiedelte Grüne zieht – und die dabei Brandenburger Dörfern neues Leben einhauchen. Es gibt Pläne für gemeinsame Stadtverwaltungen in der Grenzregion, für eine gemeinsame deutsch-polnische Universität, für ein gemeinsames deutsch-polnisch-tschechisches Fernsehprogramm. All diese Ideen können positive Anstöße sein, damit die Regionen und die Menschen sich näher kommen.
Mit einer positiven Vision einer großen gemeinsamen Wachstumsregion kann es auch gelingen, in den vergangenen Jahren aufgekommene Zweifel am Modell der europäischen Integration wieder zu zerstreuen. Unser Ziel muss es sein, dass zwischen Hamburg, Dresden, Prag und Wien genauso wie zwischen Berlin, Breslau und Krakau in einigen Jahren transeuropäische Schnellzüge verkehren, die diesen Namen tatsächlich verdienen. Unser Ziel muss es sein, dass die bestehenden Hochschulen stärker als bisher miteinander kooperieren, dass Unternehmen stärker grenzüberschreitend agieren, dass der kulturelle Austausch enger wird, dass mehr Schüler, Studenten und Azubis in der ganzen Region lernen, lieben und leben. Unser Ziel muss es sein, der ganzen Region das Gefühl zu vermitteln, dass zusammen wachsen von zusammenwachsen kommt.