Durch die Mitte ein Riss
Eine neue Hauptkonfliktlinie durchzieht die Gesellschaften des Westens. Weniger als zuvor ist es die sozialökonomische Unterscheidung zwischen oben und unten, über die Menschen heute ihren Ort auf der politischen Landkarte definieren. Stattdessen sortieren sie sich neu anhand der Konfliktachse Offenheit versus Abschließung. Ob Menschen bereit sind, Veränderung zu akzeptieren, sogar Freude daran haben, sich auf neue Vielfalt einzulassen, oder ob sie umgekehrt Neues und Ungewohntes als dunkle Bedrohung empfinden – an dieser Schnittlinie vor allem stehen sich die Menschen inzwischen gegenüber.
Wo heute politisch gestritten wird, da setzen sich typischerweise die einen für Offenheit, für Wandel und Liberalität ein, während ihre Widersacher erbittert am Bestehenden, Eigenen und angeblich Naturgemäßen festhalten, das um jeden Preis verteidigt oder wieder hergestellt werden müsse. Der Aufstieg der völkisch-autoritären AfD ist anhand dieser Konfliktlage zu verstehen. Dasselbe gilt für die Polarisierung vor der österreichischen Präsidentschaftswahl, die Brexit-Kontroverse in Großbritannien sowie das Phänomen Trump in den USA. Auch die um sich greifende Bewunderung für autoritäre Anführer folgt aus der Achsverlagerung des Konflikts.
In normativer Perspektive ist offensichtlich, auf welche Seite in diesem Konflikt sich die Sozialdemokratie nicht schlagen kann: Sozialdemokraten, die gegen die offene und freiheitliche Gesellschaft eintreten, sind gar keine. Als Partei der Beharrung, der Abschottung oder gar der Reaktion (im Sinne von Wiederherstellung früherer Verhältnisse) kann die Sozialdemokratie niemals agieren, ohne aufzuhören, sozialdemokratisch zu sein.
Das große Problem der Sozialdemokraten überall in Europa ist nun allerdings, dass in soziologischer Perspektive alles viel komplizierter ist. Es sind nämlich große Segmente ihrer überkommenen Wählerkoalition, die sich als besonders anfällig für die Versprechen von Abschließung und Rückabwicklung erweisen. Auf der früheren industriegesellschaftlichen Konfliktachse zwischen Kapital und Arbeit war die Sozialdemokratie klar profiliert als Partei der (aufstiegsorientierten) „kleinen Leute“. Unter den Bedingungen des frühen 21. Jahrhunderts jedoch greift in arbeitnehmerischen Milieus das Grundgefühl der Verunsicherung um sich. Sie erleben ihre vormals stabile (und durch Sozialdemokraten stabilisierte) Position als bedroht. „Erstmals seit 80 Jahren funktioniert der Kapitalismus für einen großen und wachsenden Teil der Bevölkerung nicht mehr“, schreibt Neal Lawson.
Das verändert viel, sehr viel. Denn Parteien sind zu politischen Organisationen geronnene Pole gesellschaftlicher Konflikte. Der Großkonflikt zwischen Kapital und Arbeit, aus dem die Sozialdemokratie einst entstanden ist, tritt zunehmend in den Hintergrund. In der neuen Polarisierung zwischen Offenheit und Abschottung müssen Sozialdemokraten Flagge zeigen, das ist klar. Aber dieser Konflikt verläuft mitten durch ihre bisherige Anhänger- und Wählerschaft. Gerinnt aus ihm ein neues, anderes Parteiensystem des 21. Jahrhunderts, dann muss die Sozialdemokratie ihren Ort grundlegend neu bestimmen. Ob und wie das gelingen kann, davon vor allem handelt diese Ausgabe.