Abschied vom Mythos Aufbau Ost
Stephan Hilsberg --
Der Traum vom schnellen Reichtum ist in den neuen Ländernausgeträumt. Was nun? Je mehr sich der Osten am Westen orientiert, desto mehr wird ihm der Abstand dorthin bewusst. Das Gerede vom Aufbau Ost ist gut gemeint - aber schädlich
Abschied vom Mythos Aufbau OstIn gesellschaftlicher und ökonomischer Hinsicht wird die Situation im Osten Deutschlands als unbefriedigend empfunden. Viele der Probleme sind dabei hausgemacht, der Rest ist das verdrängte und unbewusste Erbe der DDR. Während die Zeit der Wende 1989/90 noch einen Wettbewerb der Verheißungen brachte, scheint Ostdeutschland heute vor allem die hässlicheren Seiten der Deutschen zu repräsentieren - ein tiefer Sturz statt großer Höhenflüge. Und dennoch: Die Hoffnung stirbt zuletzt. Heute präsentiert sich Ostdeutschland den einen als ein ungelöstes Rätsel, den anderen als Drama. Die Ostdeutschen selbst erscheinen noch immer eher als Objekte ihrer Geschichte denn als deren Gestalter. Allzu pessimistisch mag zwar das neue Trugbild sein, demzufolge gar keine der Hoffnungen der Anfangszeit in Erfüllung gehen könnten. Aber welche dieser Hoffnungen noch realistisch sind und auf welchen Wegen ostdeutsche Wünsche eingelöst werden könnten - das sind Fragen, deren Antwort sich aus dem Abarbeiten der verschiedenen bisher versuchten oder nur gedachten Konzepte ergibt, welche bislang die Hoffnungen einzulösen versprachen. Vor allem der Rechtsextremismus gilt heute als Markenzeichen der neuen Länder. Inzwischen dämmert es, wie tief er hier verwurzelt ist und dass er zu DDR-Zeiten nie wirklich verschwunden war. Nur mühsam lernen die Deutschen im Osten, mit diesem Phänomen umzugehen und ihre nachwachsende Generation dagegen zu immunisieren. Dabei sind die rechtsextremen ostdeutschen Jugendlichen nicht bloß irgendwelchen Rattenfängern (gar aus dem Westen) aufgesessen. Vielmehr vermittelt ihnen ihre rechtsextreme Ideologie tatsächlich die Erfahrung von Sinnhaftigkeit: Ihre Existenzprobleme, die persönlichen wie jene ihrer ostdeutschen Region, kompensieren sie mit dem Glauben an ein starkes, ausländerfreies Deutschland, mit dem Erlebnis des starken Führers und dem Kult der haltgebenden Gemeinschaft. Hier ist der Geist des Nationalsozialismus noch lebendig. Hier hat auch das Leben in Ostdeutschland einen Sinn, weil von hier aus das Heil für ganz Deutschland erwächst. Die Gesinnung der Rechtsextremen ist totalitär. Sie maßen sich das Recht der Gewalt an, mit welchem sie national befreite Zonen schaffen, linke Jugendliche verprügeln - so wie sie Ausländer totschlagen und obdachlosen "Abschaum". Sie sind die eigentliche totalitäre Herausforderung für die junge, unerfahrene, noch schwache Demokratie im deutschen Osten, die an sich selbst nicht so richtig glauben will und deshalb den mental starken Strukturen der Rechten wenig entgegenzusetzen vermag.Von der PDS ist kaum ein Beitrag zu erwartenOstdeutschlands zweite politische Eigenart ist die PDS. Auch sie vermag ihren Anhängern Sinn zu geben: "Haben wir es nicht immer gewusst?" Aber die meisten von ihnen schicken sich in das Unvermeidliche. Die heutige Gesellschaft, die "kapitalistische", war nie ihre Wunschvorstellung. Gerade diese Ordnung wollten sie überwinden. Doch ihr Experiment, die DDR, ist zutiefst missglückt. Die Idee, dafür den Westen verantwortlich zu machen, hat sich nicht durchgesetzt. So ist nichts geblieben als der alte Gedanke, den Kapitalismus überwinden zu wollen, eine alternative sozialistische Gesellschaft aufzubauen. Doch die PDS wird selbst alimentiert vom verteufelten Kapitalismus. Gemessen an ihren Ergebnissen ist sie eine erfolgreiche politische und parlamentarische Kraft in Ostdeutschland. Die PDS ist gewissermaßen gegen ihren Willen erfolgreich - und an diesem Erfolg schleift sich ihre Ideologie ab. Auf Dauer bleibt der Partei nichts übrig, als sozialdemokratisch zu werden. Was aber die Sozialdemokraten mit ihr anfangen, ist ungewiss. Und so ist auch die Zukunft der PDS ungewiss. Eine Hilfe bei der Bekämpfung des Rechtsextremismus ist sie kaum, denn weil sie ihr eigenes totalitäres Erbe unaufgearbeitet mit sich herumschleppt, vermag sie die Wurzeln dieses Rechtsextremismus nicht zu erkennen. Sie kann ihn verteufeln, aber gerade damit bewirkt man gegen den Rechtsextremismus nicht viel. Auch wenn es darum geht, die Möglichkeiten von Demokratie, Rechtsstaat und sozialer Marktwirtschaft bewusst zu machen, ist von der PDS kaum ein Beitrag zu erwarten. Zu sehr setzt sich das Feindbild, das die PDS zusammenhält, aus eben diesen Kategorien zusammen. Die PDS ist eben wider Willen erfolgreich, ihr Wirken eher nostalgisch und destruktiv. Wenn es dem Osten besser geht, kommen die Leute zurück Weite Landstriche in den neuen Ländern erscheinen mittlerweile zukunftslos. Und so verlassen die Menschen ihre Heimat, um Geld im Westen zu verdienen. In der Migration erblicken manche Beobachter eine neue Variante des alten Schicksals der DDR, die an der "Republikflucht" zugrunde ging. Doch man kann die Menschen nicht zu Geiseln ihrer Region erklären. Heute ebenso wie damals ist es ein Menschenrecht, den Wohnort frei zu wählen. So wie die DDR daran scheiterte, dass sie die Menschen zu ihrem Glück zwingen wollte, scheitern heute die Regionalpolitiker, die in der Migration das Ende jeder Perspektive für ihre Region sehen. Natürlich vergreisen die Landschaften, natürlich gehen die agilen und kreativen Bürger. Doch Migration ist kein Krebsgeschwür. Wenn es Ostdeutschland wieder besser geht, werden auch die Menschen zurückkehren. Nicht wenige Mit-bürger in Ostdeutschland empfinden freilich schon diesen Satz als Zumutung. Wenn Politiker ihn aussprechen, wird ihnen unterstellt, sie wollten die Situation schön reden. Die zivile Gesellschaft ist in Ostdeutschland noch nicht sehr weit entwickelt. Staatsgläubigkeit paart sich mit Passivität. Nur langsam wachsen Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein. Eine nachhaltige Politik - beispielsweise der SPD - müsste auf die Stärkung der zivilen Gesellschaft setzen, weil nur diese imstande ist, dem Rechtsextremismus zu begegnen; nur sie kann Perspektiven sowie vernünftige Lösungen auf kommunaler und regionaler Ebene entwickeln. Von einer solchen Politik ist jedoch nur wenig zu spüren. Auch die demokratische Politik in Ostdeutschland ist ein Abbild der Schwäche ziviler Gesellschaftsstrukturen. So bleiben die Menschen mit ihren Sorgen allein und wenden sich enttäuscht ab. Natürlich gibt es dabei einen Zusammenhang zwischen Politik und Gesellschaft. Eine starke Gesellschaft produziert genügend demokratischen Nachwuchs; eine schwache demokratische Elite aber vermag keine Antworten zu geben - und damit auch keine Orientierung. Das Bedürfnis der Menschen nach plausiblen Erklärungen und Perspektiven, die ihrem Wirken einen Sinn geben könnten, vermag sie nicht zu befriedigen.Auch die ökonomische Lage bietet dafür keinen Ersatz. Die Einkommen in Ostdeutschland sind niedrig, nur wenige sind wirklich reich. Am besten geht es noch jenen, die im öffentlichen Dienst arbeiten, wo man im Osten allerdings auch nicht so viel verdient wie in den alten Bundesländern. In der Wirtschaft werden vielerorts Löhne gezahlt, für die sich die Kollegen im Westen nicht die Hände schmutzig machen würden. Auf Grund der niedrigen Einkommen entwickelt sich ostdeutsches Vermögen sehr zögerlich. Die durchschnittliche Produktivität liegt noch immer weit unter Westniveau. Sie erlaubt keine höheren Löhne. Die Reserve der Arbeitslosen tut das übrige um die Einkommen zu drücken. Trotzdem sind die niedrigen Löhne kein positiver Standortfaktor, sondern allenfalls die Voraussetzung dafür, dass überhaupt produziert wird. Das Baugewerbe wird noch einige Jahre lang schrumpfen und versaut damit die politisch so wichtige Wirtschaftsbilanz des Aufholprozesses. Im verarbeitenden Gewerbe gibt es zwar zweistellige Wachstumsraten, aber auf so niedrigem Niveau, dass es noch Jahrzehnte dauern wird, bis im Osten Durchschnittslöhne wie im Westen gezahlt werden. Diese langsame Entwicklung wird als Perspektivlosigkeit empfunden - zu Recht, wenn man sie aus dem Blickwinkel der Betroffenen betrachtet. Eine ganze Generation ist bereits sozialverträglich aus dem Arbeitsmarkt ausgegliedert worden. Noch mindestens eine weitere Generation aber wird mit den hohen Arbeitslosenzahlen leben müssen. Dazu wird sich ein beträchtlicher Facharbeitermangel gesellen, der die Ausweglosigkeit der ostdeutschen Situation in noch grelleres Licht setzen wird. So herrscht in Ostdeutschland Frust. Denn den Ostdeutschen war anderes versprochen worden. Es sind die nicht erfüllten Sehnsüchte, die auf die Stimmung schlagen. Da war etwa von einem "zweiten Wirtschaftswunder" die Rede, das sich in den neuen Ländern abspielen sollte - doch in Wirklichkeit gab es dafür keine Voraussetzungen. Das westdeutsche Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit fußte auf ganz anderen Voraussetzungen: Nach nur zwölf Jahren Diktatur konnte man ganz anders starten als in Ostdeutschland 1990 nach vierzig Jahren Staatswirtschaft. Der von den Vereinigten Staaten garantierte Wechselkurs der Deutschen Mark von 4:1 im Verhältnis zum Dollar war ein Himmelsgeschenk für die westdeutsche Exportindustrie. Geld kam ins Land, und alle profitierten. Trugbilder pflastern den ostdeutschen WegSo entpuppt sich das Gerede von einem zweiten Wirtschaftswunder als macht- und interessengeleitetes Trugbild, das seinen politischen Zweck erfüllte: Die Westdeutschen zahlten, die Ostdeutschen glaubten an die Zukunft ihrer Region - und gaben bei Wahlen ihre Stimmen entsprechend ab. Tatsächlich waren die Menschen - nicht nur in Ostdeutschland - damals viel zu sehr bereit, diesem Trugbild aufzusitzen. Ihr Wunsch nach persönlichem Erfolg war in der Vorstellung vom Wirtschaftswunder gut aufgehoben. Ein anderes Bild trug den Namen "Selbsttragender Aufschwung". Seine Adressaten waren ebenfalls Ost- und Westdeutsche gleichermaßen. Ein Aufschwung, der sich selber trüge, werde nicht so teuer kommen, und dennoch steigenden Lebensstandard der Ostdeutschen garantieren. Dieses Bild war gar nicht so falsch, doch der Aufschwung kam eben nur auf sehr niedrigem Anfangsniveau zustande. Und nur dort, wo Großansiedlungen gelangen (wie in Dresden) oder gerettet werden konnten (wie in Jena), profitierten die Regionen überhaupt davon. Selbst hier aber sanken die Arbeitslosenquoten nicht auf einstellige Ziffern. Eine Perspektive für die Sehnsüchte der Ostdeutschen vermittelte dieser "selbsttragende Aufschwung" nicht. Dafür fiel er gemessen an seinem ursprünglichen Versprechen viel zu bescheiden aus. Inzwischen setzt man auf die endogenen, von innen her entstehenden Kräfte. Auch dieses Bild nimmt sich recht verlockend aus. Dem Westen suggeriert man, dass ihn der Osten nun gar nichts mehr kosten werde, dem Osten wiederum, dass er es selbst richten könne. Ostdeutschland müsse zu sich selbst finden, heißt es. Das alles ist richtig - aber es dauert eben. Zugleich ist die These von den endogenen Kräften und der Selbstfindung eine Bankrotterklärung des Märchens vom dicken Wirtschaftswunder. Wer an dieses Wirtschaftswunder geglaubt hat, ist heute ratlos - nicht nur die Wessis, sondern noch viel mehr die Ossis, die noch 1994 meinten, mit ihrer Entscheidung für die CDU zugleich den ganz großen Aufschwung zu wählen.Der Osten wollte hoch hinaus - jetzt fühlt er sich gedemütigtIm Grunde wollten die Ostdeutschen reich werden. Sie hatten sich immer an der alten Bundesrepublik orientiert. 1990 schien ihr Wunsch in Erfüllung zu gehen. Helmut Kohl spürte den Wunsch und befriedigte ihn mit seiner Erzählung von den blühenden Landschaften. So funktioniert Politik. Ein Jahrzehnt danach ist dieser Traum noch immer nicht mehr als ein Traum. Die Vorstellung vom Aufbau Ost hat sich als Phantom erwiesen, wenn auch als eines mit Spätfolgen. Denn verfolgt wird dieses Phantom noch immer, bis heute existiert der Traum vom schnellen Geld. Weil in ihm die alte Vision der bürgerlichen Gesellschaft aufscheint, stirbt er womöglich nie. Schon immer hat die Gier nach Geld und Reichtum die Menschen beflügelt. In Ostdeutschland ist, so gesehen, nichts Unnormales geschehen. Nur die extremen Formen waren außerordentlich, in denen sich dieser Wunsch hier manifestierte. Ohne das Phantombild vom schnellen Geld und die sich daran anschließende Ratlosigkeit ist Ostdeutschland heute nicht zu verstehen. Viele Ostdeutsche sitzen in der Falle. Sie wollten groß heraus, sie wollten es ihren westdeutschen Landsleuten zeigen - jetzt sind ihre Träume gestutzt. Es zeigt sich, dass sie den Westen nicht einmal einholen können, vom Überholen ganz zu schweigen. Die Ostdeutschen fühlen sich vom Westen pauschal gedemütigt. Zu Unrecht zwar, denn die meisten Westdeutschen haben sich wirklich zurückgehalten, während wenige die Ostdeutschen nach allen Regeln der Kunst über den Tisch zogen. Statt selbst Geld zu verdienen, haben die Ostdeutschen immerhin anderen das Geldverdienen erleichtert. Aber das erzeugt Trotz und Abwehr, was in der gegenwärtigen Loser-Lage Ostdeutschlands nicht weiterhilft. Je stärker sich die Ostdeutschen an Westdeutschland orientieren, desto mehr wird ihnen der Abstand dorthin bewusst. Genau deshalb ist jedes Gerede vom Aufbau Ost kontraproduktiv. Zwar ist die Parole vom Aufbau Ost gut gemeint, der Kanzler hat ihn zur Chefsache erklärt. Doch aus der Falle, in der Gerhard Schröder sich hier befindet, kann ihn in Wahrheit auch kein Staatsminister für die Angelegenheiten der neuen Länder befreien. Eine Politik für Ostdeutschland müsste deshalb den Namen Ostdeutschland paradoxerweise ganz aus ihrem sprachlichen Repertoire verbannen. Das wird durchaus versucht. Doch ist diesen Versuchen nur mäßiger Erfolg beschieden. Denn mit der Verdrängung des Traums vom schnellen Geld, vom besseren Leben ist die Sehnsucht der Ostdeutschen noch nicht befriedigt. Jederzeit können die Wunden, welche die Vergeblichkeitserfahrung geschlagen hat, wieder aufreißen. Und die Verletzungen erinnern schmerzhaft an die alten Hoffnungen, die zugleich jederzeit und schnell wieder entbrennen können. Dafür braucht es nicht die PDS oder gar die Rechtsextremen. Dafür reichen schon die andauernden Debatten um den Aufbau Ost, der jährliche Bericht zur Lage der Deutschen Einheit, die Sprüche der Opposition. Oder auch nur der Blick auf den Gehaltszettel. Deshalb ist es schwierig, die Sehnsucht Ost einfach beiseite zu lassen. Und doch liegt in diesem Versuch auch eine Chance. Zuerst müsste endlich aufgeklärt werden. Dringend nötig ist die schonungslose Bilanz des zurückgelegten Weges, die nüchterne Feststellung des erreichten Standortes. Solch eine Bilanz würde nicht jeden erreichen, einige wichtige Leute aber doch. Die Regionen sind mehr als das Ganze Auch die Regionalisierung Ostdeutschlands ist ein notwendiger Prozess. Denn längst nicht mehr gibt es ja ein Ostdeutschland schlechthin. Stattdessen gibt es Sachsen, Berlin, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Mecklenburg-Vorpommern. Wo man etwa sächsische Identität empfindet, verblasst der Vergleich mit dem Westen. Hier sind keine Wunden zu heilen. Sachsen ging niemals so wie Ostdeutschland in der DDR auf. Sachsen braucht keine Vergleiche mit Westdeutschland zu ziehen. Es ist im Werden. Es hat, im Gegensatz zu Ostdeutschland, eine tausendjährige Geschichte voller Höhepunkte, an die man anknüpfen kann. Sachsen ist ein Lichtpunkt. Ähnlich geht es Thüringen. Bei Brandenburg wird es schon schwieriger. Brandenburg war nur Provinz, kein Staat. Der Staat war Preußen, der - zu Unrecht oder nicht - Vergangenheit sein soll. Hinzu kommt das unerledigte Problem Berlin. Die Metropole ist sich selbst genug, und gegen sie mutet Brandenburg, sowieso schon ländlich geprägt, stets arg provinziell an. Sachsen-Anhalt hat ähnliche Schwierigkeiten wie Brandenburg, aber immerhin kein Vereinigungsproblem. Mecklenburg-Vorpommern hat demgegenüber eine längere Geschichte, an der es sich festhalten kann. Das Problem ist hier Vorpommern, das stets mehr nach Berlin als nach Schwerin tendierte. So wie diese Länder gegenwärtig gestrickt sind, können sie nicht genug Identität erzeugen. Sie sind zur Modernität verdammt, wenn sie sich aus dem provinziellen Mief befreien wollen. Eine Vereinigung von Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Berlin und Vorpommern ist durchaus vorstellbar, auch wenn die gegenwärtige Politikergeneration die Frage nur mit ganz spitzen Fingern anfasst. In solch einer Regionalisierung Ostdeutschlands steckt das Potenzial für eine Teillösung des ostdeutschen Problems. Sie erlaubte den Blick nach vorn, ermutigend und erfrischend angesichts der lähmenden Larmoyanz, die Ostdeutschland gefangen hält. Würde solch ein Konzept verfolgt, ohne die Menschen zu Geiseln einer neuen Landesidentität zu machen, dann ließen sich so durchaus Perspektiven neuer Freiheit gewinnen. Doch für die Sehnsucht Ost in ihrer ganzen Dimension ist das noch keine Antwort. Darin liegt die Schwäche der gegenwärtigen Regionalisierungsversuche. Faktisch wird der unbefriedigende Zustand des Aufbaus Ost hingenommen, dem Traum vom schnellen Geld stellt man eine Art Konstruktivismus entgegen. Man nimmt den Status quo hin und geht zur vermeintlichen Tagesordnung über. Einem solchen Weg folgen die Menschen aber nicht. Und deshalb kommt man nicht umhin, sich mit der Sehnsucht Ost erneut zu beschäftigen.Diese Sehnsucht Ost war ein Produkt der Teilung und der DDR. Der kleinere deutsche Staat bot den Menschen nur mäßige Perspektiven. In der geschlossenen Gesellschaft war kein Platz für kreative, aufmüpfige, tatendurstige Geister. Wer sich nicht anpasste, wer nicht den Gessler-Hut der marxistisch-leninistischen Ideologie grüßen wollte, wer gar die schlechten Perspektiven des DDR-Sozialismus erkannte, für den gab es in der DDR-Gesellschaft so gut wie kein Betätigungsfeld. Schon deshalb fiel der Blick der solchermaßen Randständigen auf die alte Bundesrepublik. Hier war vieles leichter zu haben: Wohlstand, Rechtsstaat und Mitbestimmung, Leistung und Freiheit. In deren Genuss kamen all jene, die sich vor dem Fall der Mauer in den Westen aufmachten. Deren Botschaften von dort waren die beste Werbung für die alte Bundesrepublik. Daran konnten alle Appelle nichts ändern, nur ja in der DDR zu bleiben. Mit der Wendezeit änderte sich diese Lage, das war den meisten klar. Doch niemand wusste schon so genau, was mit der DDR, was mit den ostdeutschen Landstrichen in einem vereinigten Deutschland passieren würde. Große Hoffnungen wechselten mit tiefen Befürchtungen. In dieser Situation behielt die Nüchternheit nicht die Oberhand. Statt dessen wurden Illusionen genährt. Dies war die Zeit, als der Traum vom schnellen Geld geboren wurde, vor dem alle anderen Träume verblassten. Nicht wenige Ostdeutsche bezahlen noch heute für ihre Blindheit von damals. Dasselbe gilt auch für manche Kommune, die sich sinnlose Infrastrukturprojekte hat aufschwatzen lassen. Verheißungsvoll gestartete Unternehmen gingen an Geldgier und falschen Beratern zugrunde. Allein durch betrügerische Haustürgeschäfte dürften ganze Vermögen von Ost nach West gewandert sein. Wie Ostdeutschland doch noch reich werden könnteDas Bild von schnellem Geld und leichtem Erfolg erfasste eine Gesellschaft, die bisher für unmündig gehalten wurde und sich entsprechend verhielt. Dieser Traum hat Kraft bis heute, er verlangt nach einer Antwort. Genau deshalb ist es falsch, zur Tagesordnung überzugehen - der Traum selbst muss endlich auf seine Realitätstauglichkeit geprüft werden, ganz nüchtern und ganz aufgeklärt. Wir brauchen eine Debatte, die davon handelt, wie man in Ostdeutschland reich werden kann, welche Rezepte es dafür gibt. Erst wenn diese Debatte geführt worden ist, wird klarer zu sehen sein, welche Chancen Ostdeutschland und die Menschen in Ostdeutschland heute haben. Ein flächendeckender Einkommenszuwachs setzt voraus, dass Geld in die Region kommt, zusätzliches Geld. Dafür gibt es zwei Modelle: Entweder die Menschen kommen direkt und bringen ihr Geld mit. Oder sie bleiben zu Hause und bezahlen mit ihrem Geld Waren und Dienstleistungen, die in der Region produziert werden. Für das erste müssen in der Region "Events" geschaffen werden. Dazu zählen der Lausitzring oder Thermalbäder ebenso wie Naturschönheiten. Der Spreewald lockt Leute an, die Ostsee auch. Für die Natur muss geworben werden, Events lassen sich organisieren. Musikfestivals sind genauso vorstellbar wie Abenteuersportarten. Man kann gar nicht verrückt genug denken, um hier auf Ideen zu kommen. Riesa ist das ostdeutsche Zentrum für Sumo-Ringer. Events müssen Ausstrahlungskraft entwickeln, sonst kommen keine Leute. Die Menschen aber sind verwöhnt, Unterhaltung gibt es allenthalben auf hohem Niveau. Und doch besteht hier ein großes Betätigungsfeld für kreative Kommunal- und Landespolitiker. Das fünfte Rad am Wagen heißt KulturNötig sind auch Investitionen in Infrastruktur: Bildung und Verkehr, Wissenschaft und Forschung, Verwaltung und Kultur. Doch Investitionen in die Infrastruktur sind keine hinreichende Voraussetzung für die Entwicklung einer Region. Die Aufbauarbeit, die hier geleistet wird, braucht noch einige Jahre. Sie geschieht im Stillen, und sie vollzieht sich unspektakulär. Die Bilanzen sind übrigens von Land zu Land sehr unterschiedlich. Die Entwicklung dieser Rahmenbedingungen wird nur teilweise vom Bund gesteuert. Wichtiger sind bereits jetzt die Länder, die faktisch die gesamten Fördermittel der Europäischen Union - etwa 60 Milliarden Mark zwischen 2000 und 2006 - alleine ausgeben. Bereits das zeigt, dass eine homogene Politik des Aufbaus Ost de facto nicht mehr möglich ist. In der Verkehrspolitik passiert gegenwärtig sehr viel. Aber auf den Gebieten von Wissenschaft und Forschung müsste wesentlich mehr geschehen. Gravierend wirken sich die Fehler in der Bildungspolitik aus. Vom hohen naturwissenschaftlichen Standard der DDR ist nicht mehr viel zu spüren. Dabei schult kein Schulfach das logische Denken so sehr wie das Studium der Naturwissenschaften. Hier sollte dringend umgesteuert werden, denn die Kraft von Regionen kommt in nichts anderem zum Ausdruck als in den intellektuellen Fähigkeiten ihrer Bürger.Die Kultur ist heute das fünfte Rad am Wagen, was nicht nur das Potenzial für Events schmälert. Erst recht liegt die Verwaltungskraft der Regionen im Argen. Die beiden wichtigsten Funktionen der Verwaltung bestehen neben der Ausführung der Gesetze in Planung und Rat für die jeweilige politische Leitungsebene. Dafür aber muss sich die Verwaltung auf der Höhe der Zeit befinden. Wir stehen in einem europäischen Wettbewerb, so dass schlechte Verwaltung desaströse Auswirkungen auf regionale und kommunale Entwicklungen zeitigen muss. Bei der Entwicklung der Infrastruktur gibt es also durchaus Betätigungsfelder. Hier können Stellschrauben bewegt werden, was sich für die Zukunft der Region als segensreich erweisen kann. Bei der Entwicklung von Unternehmen sieht es schon anders aus. Häufig sind Großbetriebe die Motoren der Regionalentwicklungen. Sie können umgekehrt auch Totengräber einer Region sein, wenn, wie in der Niederlausitz mit ihrer Braunkohle- und Energieindustrie, ganze Regionen ihre Erwerbsquelle verlieren. In Ostdeutschland ist es partiell gelungen, Großbetriebe zu erhalten oder neu anzusiedeln. Das gilt für Dresden (Infineon), für Schwarzheide (BASF) oder das Vogtland (VW). Solche Großbetriebe erzeugen nicht nur regionale Kaufkraft, sondern auch einen Bedarf an Dienstleistern und Zulieferbetrieben. In Ostdeutschland gibt es insgesamt zu wenig Großbetriebe; sie anzusiedeln, fällt schwer und ist sehr teuer. In der unmittelbaren Wendezeit haben nur wenige große Konzerne Ostdeutschland als Produktionsstandort ins Auge gefasst. Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks war Ostdeutschland für keinen Konzern mehr attraktiv. Deshalb kosten Ansiedlungen den Staat heute nicht selten Milliardenbeträge, die allerdings sinnvoll angelegt sind. Gelingt eine solche Ansiedlung, sind die verantwortlichen Politiker deshalb zu Recht stolz auf einen solchen Erfolg. Doch auf die Ansiedlung von Großbetrieben zu hoffen, um damit kurz- und mittelfristig Geld ins Land zu holen, wird sich als vergeblich erweisen. Der Mittelstand ist sich oft selbst genugDie meisten der ostdeutschen Betriebe sind kleine- und mittelständische Unternehmen. Sie haben regional nur geringe Effekte, wenngleich im verarbeitenden Gewerbe - bei niedrigem Ausgangsniveau - hohe Wachstumsraten festgestellt werden können. Langfristig sind diese Betriebe das Rückgrat einer leistungsfähigen Industrie in Ostdeutschland, kurz- und mittelfristig jedoch scheiden sie als Arbeitsplatzspender aus. Die Löhne entsprechen nur selten westdeutschem Niveau. Gelingt einmal einem kleinen oder mittelständischen Unternehmen der Durchbruch, so ist er häufig sich selbst genug. Seit einiger Zeit wird häufig von Netzwerken gesprochen. Damit sind informelle Verbindungen zwischen Betrieben, Bildungs- und Forschungseinrichtungen sowie Verwaltungen gemeint. Solche Netzwerke können durchaus schnelleres Wachstum bewirken. Hier werden Partnerschaften organisiert, die einzelne versprengte Unternehmen mit der Wissenschaft verbinden. Das schafft selbstverständlich Sicherheit und Perspektiven. Doch auch dies wirkt sich nur langfristig aus. Das generelle Problem Ostdeutschlands ist der Mangel an Betrieben, großen wie kleinen. Deshalb ist es zwar richtig, die vorhandene Substanz maximal zu fördern, aber es wäre verfehlt, sich über deren kurz- und mittelfristige Effekte Illusionen zu machen. Jegliche Hilfe für diese Unternehmensstruktur ist im Übrigen nur wenig ostspezifisch. Diese Rezepte können in allen Regionen Europas angewandt werden. Sie tragen daher nicht dazu bei, einen Aufholprozess zu stimulieren, sondern stabilisieren die vorhandenen Strukturen für die Zukunft. Schnelles und zusätzliches Geld wird mit dieser Politik nicht in die Regionen zu spülen sein. Dasselbe gilt für die Entwicklung der Infrastruktur und erst recht für die Schaffung von Events, mit denen die Kaufkraft von Menschen aus anderen Regionen abgeschöpft werden soll. Ostspezifisch an diesen Politikformen der Förderung von Events, der Schaffung von Infrastruktur und Unterstützung von Unternehmen ist aber deren Finanzierung. Ostdeutschland bekommt dafür erhebliche Mittel zur Verfügung gestellt. Diese Mittel fließen unmittelbar aus Brüssel, aus Berlin, oder sie stammen aus dem Länderfinanzausgleich. Hinzu kommt die Sozialunion, wodurch Ostdeutschland voll in das soziale Netz integriert ist. Dass sie kurzfristige Impulse gäbe und zusätzliches Geld in die Regionen brächte, ist aber von dieser Politik nicht zu erwarten. Auch an sehr grundsätzlich anderen Vorschlägen herrscht kein Mangel. So werden immer wieder manchesterliberale Vorstellungen lanciert, wie zusätzlicher Markt durch die Senkung sozialer Standards geschaffen werden könne. Das soziale Netz, heißt es etwa, schneide den Arbeitsmarkt nach unten ab. Deshalb müssten die Löhne nach unten "gespreizt" werden. Hierdurch könnten Anreize entstehen, auch gering bezahlte Arbeit anzunehmen, wodurch das soziale Netz entlastet werde und zusätzliche Unternehmen entstünden. Mehr Menschen würden in den Arbeitsmarkt integriert, wodurch es zu zusätzlicher Wertschöpfung komme, was wiederum zum "selbsttragenden Aufschwung" führen werde.Für sich genommen mag diese Theorie funktionieren. Allerdings ist zu bedenken, dass erstens auf diese Weise keine höherwertigen Jobs entstehen können und zweitens der Schwarzmarkt angekurbelt wird. Denn sofern es nur um billige Arbeitskräfte geht, bestehen in Ostdeutschland bereits jetzt eine ganze Menge Angebote auf dem Schwarzmarkt. Dieser Schwarzmarkt ist die Folge relativ hoher Lohnnebenkosten in den regulären Jobs. Diese schlagen umso mehr zu Buche, je geringer die Arbeitsproduktivität ist. Sowieso ist das Lohnniveau in Ostdeutschland ja sehr niedrig, weshalb die Schaffung noch billigerer Jobs kein zusätzliches Geld in die Kassen bringen würde. Schon deshalb bietet es für Ostdeutschland keine Perspektive ein regionales Niedriglohngebiet zu etablieren. Politisch wäre es ohnehin ein Schildbürgerstreich: Man kann keine Politik machen, um den Wohlstand einer Region zu erhöhen, wenn damit zugleich der Lebensstandard ganzer Schichten gesenkt wird.Griechenland, Süditalien, OstdeutschlandFaszinierend ist hingegen die Idee eines Sondersteuergebietes für Ostdeutschland. Diese Idee knüpft an die Erfolgsvoraussetzungen des westdeutschen Wirtschaftswunders an, indem sie allen Produzenten einer ganzen Region steuerliche Vorteile gibt. Dadurch haben alle Betriebe im Sondersteuergebiet einen Kostenvorteil. Dies kommt vor allem dem Export der Waren und Dienstleistungen zugute, die im Sondersteuergebiet produziert werden. Ein solcher Anreiz hätte durchaus Lenkungswirkungen für Standortentscheidungen - Ersatzinvestitionen würden stärker als bisher nach Ostdeutschland kommen. So würde ein stärkeres Wachstum Ostdeutschlands mit Hilfe eines abgeschwächten Wachstums der übrigen Regionen finanziert. Der Vorteil dieses Verfahrens liegt in seiner unbürokratischen Handhabung: Es wirkt sich unmittelbar beim Produzenten aus, ohne dass dieser ein einziges zusätzliches Formular ausfüllen müsste. Der wachstumssteigernde Prozess läuft also automatisch ab. Der Nachteil liegt darin, dass in Deutschland kein isoliertes Sondersteuergebiet installiert werden könnte. Deutschland gehört der Europäischen Union an, die solch ein Verfahren - nicht ganz zu Unrecht - als verdeckte Subvention verbieten würde. Dennoch könnte man es in der EU als neues Instrument zur Förderung der benachteiligten Regionen installieren. Schließlich gibt es neben Ostdeutschland noch die iberische Halbinsel, Süditalien und Griechenland, die auf ähnliche Weise gefördert werden könnten. Bislang allerdings erhebt Brüssel keine Steuern, weshalb es auch keine Steuern erlassen kann. Folglich müsste man zuerst eine "Brüsseler" Steuer einführen. Dadurch würde die EU gestärkt, was im Prinzip nicht falsch ist. Ob sich auf diese Weise ein Effekt erzielen lassen würde, welcher tatsächlich auf die Entwicklung der Regionen durchschlagen könnte, ist aber fraglich. Vermutlich ist das Erlassen von 10 Prozent Umsatzsteuer zu wenig, um damit das Produktivitätsdefizit benachteiligter Regionen auszugleichen.