Abschied von der atlantischen Ordnung
Jahrzehntelang hat die weltpolitische Klammer gehalten, doch nun triumphiert die Innenpolitik. Eigennutz schlägt Gemeinsinn, Affekt überlagert Strategie. Die Antwort der freiheitlichen und pluralen atlantischen Demokratien auf die Herausforderungen durch völkische Ideologie, totalitäre Herrschaft und krude Expansionspolitik verblasst: Die Vereinigten Staaten und Großbritannien, Urheber und Hauptanteilseigner des Westens, haben jeder für sich das von ihnen etablierte Konzept aufgegeben. In der Idee des Westens entsprach dem inneren Leitbild einer demokratischen und rechtsstaatlichen Ordnung die Vorstellung einer auf Regeln, Verträgen und Strukturen gestützten internationalen Ordnung, in der Macht zwar nicht aufgehoben war, aber doch gebändigt und normativ beschränkt wurde. Die Entwicklung und der Erhalt dieser Ordnungsidee des Westens standen nahezu gleichrangig neben den nationalen Interessen der Vereinigten Staaten und bildeten die Richtschnur der Bündnis- und Partnerschaftsbeziehungen westlicher Politik.
Der Neo-Isolationismus von Donald Trump und der Neo-Souveränismus der britischen Tories bricht mit der gemeinschaftsbildenden Konzeption des Westens zugunsten der Verfolgung einseitiger Vorteile und der Entbindung von Partnerschaftsbezügen. Mit Trump und dem Brexit ist affektiver Eigennutz zu Politik geworden, die einen unbedingten Vorrang des Eigeninteresses vor geteilten Interessen durchsetzen will und dazu souveräne Handlungsfreiheit postulieren muss. In den Vereinigten Staaten wie in Großbritannien hat sich der Paradigmenwechsel von unten vollzogen, auch wenn der Einfluss medialer Kampagnen und Inszenierung stark gewesen sein mag. Damit reicht der Wandel tief und lässt eine einfache Rückkehr zur vorherigen Lage kaum zu. Nicht prinzipiell, aber doch praktisch ist damit das Ende des Westens gekommen.
Am schärfsten zeigen sich die Folgen naturgemäß an den Rändern westlicher Gemeinschaftsbildung. Für Japan und Südkorea gelten von nun an die rivalisierenden geopolitischen Kalküle und Interessen der Großmächte. Für die Staaten der ASEAN-Gruppe stellt sich die Frage nach der Tragfähigkeit ihres Integrationskonzeptes, dessen rechtliche und institutionelle Schwäche unter dem Dach der Gemeinschaftsidee des Westens weniger ins Gewicht fiel. Die Souveränitäts- und Autonomieansprüche der Großmächte werden sich unter den Staaten Ost- und Südostasiens verbreiten und den Zusammenhalt wie die Zusammenarbeit schwächen. Mehr Staaten als bisher werden in der Region mit der global stärksten Rüstungsdynamik auf nationale Machtmittel zur Interessensicherung setzen.
Die EU – ein lebendiges Denkmal des Westens
Nirgendwo hat das ordnende Konzept des Westens vergleichbare Gestalt gefunden und tiefere Wurzeln geschlagen als auf dem europäischen Kontinent. Nun muss sich zeigen, ob die Unruhe der europäischen Gesellschaften tatsächlich überwunden ist. Im Grunde hat die europäische Integration das westliche Ideal übertroffen, indem sie den Interessenausgleich supranational ausgestaltet hat. Im Unterschied zur britischen und amerikanischen politischen Klasse haben die Kontinentaleuropäer in der Gemeinschaft zugleich den Verlust autonomer Handlungsfähigkeit überwinden wollen. Der Kerngedanke der Sicherung von Souveränität durch deren Bündelung auf europäischer Ebene ist von den Erfindern des Westens nicht geteilt, vielleicht nicht einmal verstanden worden. Die Ideen vom Vorrang des Nationalen und des Souveränismus wirken auch in vielen Gesellschaften der EU fort, nur die Dichte und Evidenz der bisherigen Integration bremsen deren Potenzial.
Ohne das Engagement vor allem der Vereinigten Staaten für das im Grunde universale Konzept des Westens fehlt den Europäern in der EU jedoch die Kraft, das Konzept einer auf Recht, Regeln und Verfahren gegründeten Weltordnung (sowie die damit verbundene Vorstellung vom Schutz globaler öffentlicher Güter) zu behaupten. Es wird durch das Konzert der Mächte und deren normative Kraft des Faktischen überlagert und relativiert werden. Wenn überhaupt, dann kann Europa dieses Konzept am besten nach innen bewahren. Die Integrationsleistung der EU, das Maß an positivem Frieden, das sie geschaffen hat, ist ein lebendiges Denkmal des Westens. Diese Leistung zu erhalten und attraktiv auszugestalten könnte der wichtigste Beitrag Europas zur internationalen Ordnung werden, sollten die heutigen Strukturen weiter zerfallen.
Zur Sicherung der europäischen Interessen reicht es jedoch nicht, Europa zum Themenpark liberaler Weltordnung zu stilisieren. Der Wandel in den transatlantischen Beziehungen, der ja nicht allein steht, sondern auf den Aufstieg Chinas, die Rückkehr Russlands und die Entwicklung multizentrischer Staatenbeziehungen folgt, verändert die Rahmenbedingungen der Gewährleistung von Wohlfahrt und Sicherheit in Europa. Die Reichweite der Veränderung äußert sich vor allem in drei Bereichen:
Erstens: Das multilaterale Handelssystem stagniert beziehungsweise regrediert. Die Krise der Welthandelsorganisation ist älter als die Trump-Regierung, doch die Abwendung der Amerikaner beschleunigt die Tendenz zur Herausbildung regionaler Handelsblöcke. Dies stärkt den Zusammenhalt in der EU wie in anderen regionalen Wirtschaftsräumen, solange einzelne Akteure dort nicht ausbrechen, weil sie glauben, auf sich gestellt bessere Bedingungen realisieren zu können. Die britische Entscheidung zum EU-Austritt fällt in diese Kategorie. Sie könnte Nachahmer in den Regionalorganisationen Lateinamerikas oder Südostasiens finden, nicht jedoch in Europa, wo die größere Nähe zum britischen Drama den Mehrwert der Integration klarer hervortreten lässt.
Europas Verletzlichkeit nimmt drastisch zu
Zweitens: Das globale Allianzsystem der Vereinigten Staaten verliert seinen Anker. Seine Ratio bestand im Quidproquo der kollektiven Verteidigungsleistung von Staaten zu den Bedingungen und unter Führung Washingtons, gegen die Zusicherung amerikanischer Sicherheitsleistung einschließlich der nuklearen Abschreckung. So konnten Staaten Sicherheit gegen eine Bedrohung erlangen, die sie allein und ohne die Amerikaner nicht hätten verteidigen können, während die USA im Gegenzug eine Multiplizierung ihrer militärischen Reichweite vor Ort erlangten. Für die amerikanische Politik hatte dieser Deal schon vor Trump an Stimmigkeit verloren. Der neue Präsident hat ihn de facto aufgekündigt und in eine käufliche Sicherheitsleistung verwandelt, denn Amerikas Sicherheit braucht das Allianzsystem in Europa oder Ostasien nicht mehr. Für Europa bedeutet dies, dass die europäischen Staaten ihre Sicherheit zuerst und zumeist mit eigenen Mitteln gewährleisten müssen. Ihre Fähigkeit dazu wird zur Voraussetzung des künftigen transatlantischen Sicherheitsverbunds werden – eine Konsequenz, die die Amtszeit von Donald Trump überdauern dürfte.
Drittens: Die Verletzlichkeit und die Verwundbarkeit der offenen Gesellschaften Europas nehmen drastisch zu. Keiner der anderen großen Wirtschaftsräume und keiner der anderen großen Akteure der internationalen Politik wird durch die Folgen binnen- und zwischenstaatlicher Konflikte in seiner Nachbarschaft so unmittelbar betroffen wie die Europäische Union. Sie lag auch schon vorher exponiert in unruhiger Nachbarschaft, doch mit dem Konstellationswandel der internationalen Politik sind die Risiken gewachsen. So agieren in Syrien zwar Russland und die Vereinigten Staaten, aber die Folgen ihres Handelns betreffen neben den Ländern der Region primär Europa. Die EU ist Zielpunkt der größten Flucht- und Wanderungsbewegungen in die wirtschaftlichen Zentren; die meisten anderen Länder wie China, Japan und Russland sind abgeschottet oder schotten sich – wie die USA – zunehmend ab. Bei der Bekämpfung der Fluchtursachen stehen die Europäer zumeist allein da, eine an Recht und guter Regierungsführung orientierte Entwicklungsstrategie verfolgen in Afrika weder Amerikaner noch Chinesen.
»Mehr Europa« – was heißt das heute überhaupt?
Wenn also Europa sein Schicksal in die eigenen Hände nimmt, wie Bundeskanzlerin Angela Merkel die Konsequenz formuliert hat, dann müssen die Europäer ihre Handlungsfähigkeit erheblich verstärken. Je weiter die Ordnungsinteressen zentraler Akteure hinter ihrem Großmachtnationalismus zurückfallen, desto mehr Integration braucht Europa, um die Eigeninteressen der Europäer zu sichern – so paradox dies klingen mag. Der wachsende Multilateralismus und die nachfolgende Regimebildung haben de facto weniger Integration erforderlich gemacht; ein schrumpfender Multilateralismus erfordert die gegenteilige Bewegung.
Die neue Unordnung in der Welt, das Näherrücken der Konflikte und ihrer Folgen, die Haltung der amerikanischen Regierung im Kontext von Russlands geopolitischem Kalkül und von Chinas zunehmendem Wirtschaftsnationalismus – diese Faktoren werden „mehr Europa“ begünstigen. Leicht wird dies jedoch keinesfalls, wie die folgenden fünf Handlungsfelder zeigen, die für eine Selbstbehauptung Europas zentral sind:
Erstens: In einem wirtschaftsnationalen und protektionistischen Umfeld müssen die Europäer das Wertschöpfungspotenzial des eigenen Wirtschaftsraums bestmöglich nutzen. Dazu sollte die EU den Binnenmarkt vollenden, einen einheitlichen Raum für die digitale Wirtschaft und Dienstleistungen schaffen sowie für die Daten von Unternehmen und Bürgern eine europäische Serverstruktur bereitstellen. Eine effiziente, nachhaltige und autonome Energieversorgung erfordert mehr grenzüberschreitende Verbünde und gemeinsame Investitionen in erneuerbare Energieträger.
Zweitens: Die Kompetenzen für alle Bereiche des Handels, einschließlich der Dienstleistungen und kulturellen Güter, sollten auf Ebene der EU gebündelt werden. Die Mitgliedsstaaten sollten grundsätzlich die Marktmacht der EU auch im Energiebereich gemeinsam nutzen und eine Diversifizierung der Lieferstrukturen EU-weit vorantreiben. Soweit der multilaterale Rahmen schwach bleibt, muss die europäische Handelspolitik ihr Netz von Handelsverträgen mit wichtigen Märkten vorantreiben und dabei die EU-Interessen der Nichtdiskriminierung und Reziprozität wahren. Europäische Unternehmen brauchen den Schutz durch die Union, wenn ihr Markteintritt unfair behindert wird. Dies gilt auch für die Interessen europäischer Unternehmen bei Zusammenschlüssen und Übernahmen in Drittstaaten sowie innerhalb der EU.
Für eine europäische Einwanderungsbehörde
Drittens: Die Europäer müssen deutlich stärkere gemeinsame Anstrengungen zur Sicherung ihrer Außengrenzen sowie beim Umgang mit Einwanderung, Flucht und Asyl unternehmen. Im Grunde braucht die EU eine europäische Grenzpolizei und Küstenwache, die von allen gemeinsam finanziert wird und die hoheitliche Aufgaben für die Mitgliedsstaaten übernimmt (darunter auch die Registrierung und Erstaufnahme von Migranten sowie die Zurückweisung und Rückführung illegaler Einwanderer). Statt einer Koordination der unterschiedlichen Einwanderungs- und Asylpolitik benötigt die EU eine gemeinsame Politik, die von einer europäischen Einwanderungsbehörde verwirklicht wird. Und sie benötigt einen Lastenausgleichsfonds, der die stark asymmetrische Verteilung der Kosten von Zuwanderung ausgleichen kann. Angesichts der Widerstände in manchen Mitgliedsstaaten ist dieser Teil der EU-Agenda möglicherweise nur mit einer Kerngruppe umsetzbar, vergleichbar mit der Entstehung des Schengener Abkommens.
Viertens: Außenpolitisch benötigt Europa vor allem eine effektivere Bündelung der unterschiedlichen Instrumente zum Umgang mit den zahlreichen Krisen in seiner Nachbarschaft. Was in Hinblick auf die brennenden Konflikte im Nahen Osten selbstverständlich erscheint (und dennoch nicht geschieht), müsste auf die Kontrolle der zentralen Machtrivalität zwischen Iran, Saudi-Arabien und der Türkei ausgedehnt werden. In der Krise der Global Governance wird es zudem von Europa allein abhängen, ob Initiativen zur vorbeugenden Stabilisierung und Entwicklung Afrikas südlich der Sahara nachhaltige Wirkung erzielen. Die bisherigen Bemühungen jedenfalls haben ihre Ziele nicht erreicht.
Fünftens: In der Sicherheits- und Verteidigungspolitik erfordert eine glaubwürdige Stärkung der eigenen Fähigkeiten die Anwendung des Prinzips der Integration zur Stärkung des europäischen Beitrags in der Nato. Militärisch und finanziell effiziente Streitkräfte setzen eine defense of scale voraus, eine hinreichend kritische Masse bei der Entwicklung, Beschaffung und Ausrüstung. Dafür wiederum bedarf es eines gemeinsamen Verteidigungsauftrags. In Bezug auf die üblicherweise der Nato zugerechnete Aufgabe der Territorialverteidigung könnte das Prinzip der Integration „von unten“ angewendet werden, etwa durch die schrittweise Verschmelzung nationaler Streitkräfte und aufbauend auf Erfahrungen der bilateralen Zusammenarbeit wie zwischen den Niederlanden und Deutschland. Wenn es dagegen um die Verteidigung europäischer Interessen jenseits des eigenen Kontinents geht, sollte Frankreich ein Angebot zur modularen Integration von Fähigkeiten anderer Europäer unterbreiten. Dies sollte durch die Entwicklung EU-eigener Fähigkeiten in der Planung, Führung und Unterstützung von Missionen erweitert werden.
Gegen das Recht des Stärkeren hilft eigene Kraft
Mithilfe dieser Schritte muss Europa eine machtpolitisch relevante Position erreichen, wenn die Europäer ihre Interessen in einer von Macht dominierten Welt behaupten wollen. Dies bringt den Abschied lieb gewordener Ordnungsvorstellungen mit sich, besonders von der Idee eines Gleichklangs innerer und äußerer Politik. Als Ideal bleibt der Gedanke einer „zivilisierten“ internationalen Politik von Bedeutung, in der die Stärke des Rechts Macht beschränkt. Eine europäische außenpolitische Strategie dagegen muss mit der Tatsache umgehen, dass große Macht ein Recht des Stärkeren etabliert, dessen Einhegung selbst Macht erfordert.