Ahnungslos durch die Nacht

Wladimir Putins Kriegskurs hat Deutschland auf dem völlig falschen Fuß erwischt. Obgleich die Zeichen an der Wand durchaus hätten gelesen und verstanden werden können, waren wir mental und institutionell völlig unvorbereitet. Jetzt kommt es darauf an, so schnell wie möglich wissenschaftlich-analytische Kompetenz aufzubauen. Frank-Walter Steinmeiers Auswärtiges Amt macht Nägel mit Köpfen

Mit aller Wucht hat der Krieg uns aus den Träumen gerissen: Zerplatzt die Überzeugung, dass auf dem europäischen Kontinent das Völkerrecht gilt; zerstoben die Hoffnung auf eine Zivilisierung der Konflikte und gemeinsame Sicherheit. Seit über einem Jahr hält uns die Russland-Krise in Atem. Dass sie oft als Ukraine-Krise bezeichnet wird, ist Teil der falschen Wahrnehmung. Nach der Annexion der Krim sowie der Subversion und Invasion in der Ostukraine ist klar, dass Russland einen Krieg gegen die Ukraine führt – mit allem, was dazugehört: Lüge und Propaganda, Flucht und Vertreibung, Tod und Zerstörung.

Viele wollten lieber nicht hinsehen

Noch vor einem guten Jahr schien das undenkbar. Kein Politiker oder Experte in Deutschland hätte sich vorstellen können, dass Russland einen machtpolitischen Konflikt in einem souveränen Nachbarstaat nutzt, um sich einen Teil von dessen Territorium einzuverleiben – und bereit wäre, die Grundlagen der europäischen Friedensordnung zu verletzen, wie sie die KSZE-Schlussakte seit 1975 regelt. Zunächst fiel niemandem auf, dass die Annexion der Krim und die Infiltration in den Gebieten Donezk und Luhansk exakt nach den Regeln erfolgten, die der Chef des russischen Generalstabs Waleri Gerassimow ein Jahr zuvor in einem frei zugänglichen Text zur Führung eines „hybriden Krieges“ dargelegt hatte. Als Präsident Wladimir Putin die Landnahme der Krim feierlich beging, griff er auf Begründungen zurück, die nach den beiden Weltkriegen in Europa völlig diskreditiert waren: das Territorium sei „uraltes“ russisches Gebiet und die „Landsleute“ gelte es auch jenseits der eigenen Grenze zu schützen. Wenn in Deutschland Bundespräsident Joachim Gauck analoge Überlegungen zu Deutschen in Belgien, Schlesien oder Ostpreußen anstellen würde, wäre zu Recht der Teufel los! Damit machte Putin klar, dass das großrussische, revisionistische Denken, das zu Beginn seiner ersten Amtszeit im Jahr 2000 noch ein Schattendasein führte, nun im Zentrum der Politik angelangt ist. Auch der Aufstieg der eurasischen Ideologen wie Alexander Prochanow, Alexander Dugin oder Sergei Kurginjan, die dem Kreml die Stichworte aus stalinistischem Autoritarismus, russisch-orthodoxem Prädestinationswahn, imperialer Attitüde und antiwestlicher Abgrenzung liefern, ging weitgehend unbeachtet vonstatten. Wie konnte es soweit kommen? Warum hatte niemand in Deutschland diese Zeichen der Zeit erkannt?

Die Antwort ist sehr einfach. Zum einen wollten es viele in Politik und Öffentlichkeit nicht sehen. Zum anderen konnten es an den Universitäten und Instituten viele, die sich von Berufs wegen mit den Entwicklungen beschäftigen müssten, nicht sehen. Denn dort arbeiten kaum noch Experten für Russland und den postsowjetischen Raum.

Ende der Geschichte? Pustekuchen!

Seien wir ehrlich: Der Reflex, die Augen zu verschließen, ist nicht neu. Niccolò Machiavelli hatte bereits 1513 in seinem Principe, einer Fibel, die – modern gesprochen – der „Politikberatung“ dienen sollte, geschrieben: „Viele haben sich Vorstellungen von Freistaaten und Alleinherrschaften gemacht, von denen man in Wirklichkeit weder etwas gesehen noch gehört hat; denn zwischen dem Leben, wie es ist, und dem Leben, wie es sein sollte, ist ein so gewaltiger Unterschied, dass derjenige, der nur darauf sieht, was geschehen sollte, aber nicht darauf, was in Wirklichkeit geschieht, seine Existenz viel eher ruiniert als erhält.“

Das Annus mirabilis 1989 und die nicht minder wundersam friedliche Auflösung der hochgerüsteten Sowjetunion 1991 hatten die Überzeugung genährt, dass sich – platt formuliert – früher oder später alles fügen werde. Francis Fukuyama goss dieses Denken in die Formel vom „Ende der Geschichte“. In diesem viel zitierten, aber kaum gelesenen Buch vertrat er die These, dass sich nach dem Untergang der kommunistischen Parteiherrschaft die Ideen des Liberalismus in Form von Demokratie und Marktwirtschaft künftig überall durchsetzen würden. Nahezu einmütig handelten Politiker in Deutschland und der EG beziehungsweise der EU nach dieser Überzeugung. Russland war allen Schwierigkeiten zum Trotz einer der wichtigsten Transformationsstaaten auf dem Wege zur Demokratie. Diesen Kurs galt es zu unterstützen. Das war der fruchtbare Boden, auf dem all die symbolträchtigen „Gipfel“, „strategischen Partnerschaften“, „Modernisierungspartnerschaften“ oder der „Wandel durch Verflechtung“ als Neuauflage des „Wandels durch Annäherung“ gediehen. Das Kalkül war einfach: Durch Einbindung und wirtschaftliche Zusammenarbeit sollte das Verhalten der russischen Elite beeinflusst werden.

Nach den Wirren der Jelzin-Periode, die durch Desintegration, Privatisierung, Hyperinflation und Verarmung breiter Teile der Gesellschaft gekennzeichnet war, galt Putin vielen Beobachtern als Garant für die Wiederherstellung des russischen Staates, der sozialen Gerechtigkeit, der Kooperation mit dem Westen, um die notwendige Modernisierung des Landes voranzutreiben. Spätestens seit 2012 und dem Beginn von Putins mittlerweile dritter Amtszeit ist offensichtlich, dass dies mit den realen Interessen Putins und seiner Machtelite nichts zu tun hat. Zielgerichtet bauten sie eine autoritäre Herrschaft auf und sind bis heute primär daran interessiert, die Erlöse aus dem Rohstoffverkauf zu kontrollieren. Wer es sehen wollte, konnte es aber auch früher sehen: Bereits in Putins erster Amtszeit wurden die unabhängigen Fernsehsender zerschlagen, zivilgesellschaftliche Kräfte wie Umweltschützer kriminalisiert, der Föderalismus ausgehebelt und Michail Chodorkowskij nach einem kafkaesken Prozess inhaftiert.

Osteuropaforschung schien überflüssig

In der wissenschaftlichen Welt führte ein Denken, das dem Bild vom „Ende der Geschichte“ erstaunlich nahe kommt, zu falschen Weichenstellungen. Hier gab die Auflösung der Sowjetunion der Überzeugung Vorschub, es bedürfe nicht länger einer Osteuropaforschung. Vertreter der Fachdisziplinen diffamierten Regionalforschung als anachronistisch. Fakultäten für Volkswirtschaft oder Politikwissenschaft lösten einschlägige Lehrstühle auf oder widmeten sie um. Europäische Integration statt Osteuropa lautete die Devise! Während die Osteuropäische Geschichte als Disziplin heute an mehr als 50 deutschen Universitäten vertreten ist, gibt es noch fünf politikwissenschaftliche Professuren mit einem Osteuropaprofil. Diese beschäftigen sich primär mit Vergleichender Regierungslehre. Kein einziger Lehrstuhl für Internationale Beziehungen oder für Friedens- und Konfliktforschung widmet sich explizit Russland und dem postsowjetischen Raum. Die Ukraine ist an keiner einzigen deutschen Universität in Forschung und Lehre institutionell verankert – ein Armutszeugnis.

Außeruniversitär sieht es nicht besser aus. Das Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien in Köln wurde 2001 aufgelöst. An der vom Kanzleramt finanzierten Stiftung Wissenschaft und Politik gibt es eine „Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien“, in der eine Handvoll Wissenschaftler für Russland, die Ukraine, Belarus, den Südkaukasus und Zentralasien zuständig ist – angesichts der Größe, der außen- und sicherheitspolitischen, wirtschaftlichen und energiepolitischen Bedeutung sowie der Heterogenität des Raumes ist das nicht mehr als ein Feigenblatt.

So wie die Gesellschaft angesichts des demografischen Wandels, des Utopieverlusts und der Erschütterung des Fortschrittsglaubens zunehmend vergangenheitsbezogen ist, sind wir auch in der Osteuropaforschung mit einem Übergewicht an historischer Forschung konfrontiert. Neben den universitären Osteuropahistorikern gibt es Institute wie das Geisteswissenschaftliche Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas in Leipzig, das Herder-Institut in Marburg oder das Imre Kertész-Kolleg in Jena – um nur die wichtigsten zu nennen, die hervorragende zeithistorische Arbeit leisten. Über Geschichte und Erinnerung wissen wir immer mehr, über die Gegenwart immer weniger.

Kein Nachwuchs mit Russlandprofil

In den gegenwartsbezogenen Disziplinen wie Politik, Soziologie oder Volkswirtschaft findet die Ausbildung von wissenschaftlichem Nachwuchs mit einem Russlandprofil (was nicht nur Fachexpertise, sondern auch Sprachkompetenz und fundierte empirische Landeskenntnisse voraussetzt) hingegen praktisch nicht mehr statt – von anderen Profilen aus dem postsowjetischen Raum ganz zu schweigen. Weder Universitäten noch Institute sind fähig, aktuelle Entwicklungen in der Innen- und Außenpolitik, der Wirtschaft und Gesellschaft Russlands einzuordnen, zu erklären und Handlungsoptionen zu entwickeln. Mit aller Härte wurde uns dies durch das außenpolitische Handeln der russischen Führung seit Beginn des Euromaidan im November 2013, die Annexion der Krim, die permanente Brüskierung der deutschen und der EU-Außenpolitik durch Präsident Putin und Außenminister Sergej Lawrow sowie durch den Krieg in der Ostukraine vor Augen geführt. Vor dem Hintergrund dieser strukturellen Defizite wird die Ahnungslosigkeit über die machtpolitische Rationalität, die hinter der Politik Russlands steht, oder über die gesellschaftliche Lage in der Ukraine verständlich.

Außenpolitikforschung ohne Ideen

Dieser Befund ist nicht neu. Seit Jahren bemüht sich die Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde um einen Neustart in der Regionalforschung. Dies schlug sich auch im Koalitionsvertrag zwischen CDU / CSU und SPD nieder. Da heißt es: „Wir wollen die Russland- und Osteuropa-Kompetenz in Deutschland auf eine solide Grundlage stellen. Dazu wollen wir die wissenschaftlich-analytische Expertise über diese Region stärken.“

Nun macht die Bundesregierung Nägel mit Köpfen. Das Auswärtige Amt unter Frank-Walter Steinmeier wird ein derartiges interdisziplinäres Forschungsinstitut über den postsowjetischen Raum für zunächst zweieinhalb Jahre mit 2,5 Millionen Euro jährlich fördern. Über das grundlegende Ziel herrscht Einigkeit: Das Institut soll Grundlagenforschung betreiben, wissenschaftlichen Nachwuchs ausbilden und Politik und Öffentlichkeit beraten. Diese Entscheidung ist ein Signal. Es lautet: Wir haben Bedarf und müssen etwas tun. Mehr nicht. Ein solches Institut alleine beseitigt natürlich nicht die strukturellen Mängel, die in zwei Jahrzehnten aufgelaufen sind.

Damit alleine ist es also nicht getan. Viel wichtiger als die Struktur ist die Substanz. Sieht man von der dünnen Personaldecke ab, so hat Außenpolitikforschung vor allem eine Schwäche: Die meisten Institutionen und ihr Personal glauben fälschlicherweise, sich den Interessen der operativen Politik andienen zu müssen – zum wechselseitigen Schaden. Originelle intellektuelle Einsichten, Ansichten und Optionen, die aus dem Privileg der Freiheit der Wissenschaft entstehen könnten, sind in diesem Milieu die Ausnahme. Positivistische Affirmation ist die Regel. Anders wäre nicht zu erklären, warum nahezu jede internationale Krise die operative Politik und die Wissenschaft kalt erwischt. Das gilt für den Euromaidan ebenso wie für die Krise der Europäischen Union. Mal ehrlich: Wer von den Integrationsforschern, die EU-Mittel aus dem Jean-Monnet-Programm nutzen oder gar auf entsprechenden Lehrstühlen sitzen, bürstet die EU gegen den Strich – denkt also einmal die Gefahren und Bedingungen ihrer Auflösung durch oder wagt den Brückenschlag zu den Bedingungen der Auflösung der Sowjetunion oder Österreich-Ungarns? Niemand. Das hat etwas mit selbst auferlegten Denktabus zu tun, einer weit verbreiteten Unzulänglichkeit.

Die Gründung eines neuen Zentrums für Osteuropaforschung ist Chance und Herausforderung zugleich. Dieses Zentrum ist nicht als nachgeordnete Behörde geplant. Mit der Bereitschaft, das Zentrum anzustoßen, gibt die Politik den Staffelstab an die Wissenschaft weiter. Nun wird sich zeigen, ob „Neues Denken“, das ja nicht nur in Russland aus der Mode gekommen ist, hier Einzug halten kann. Die Freiheit der Wissenschaft erweist sich zuerst an der Originalität ihrer Erkenntnisse.

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