Alarmismus als Prinzip
In diesem Kontext ist die Streitschrift des Direktors der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, dem Ort des zentralen Untersuchungsgefängnisses des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), zu verorten. Im ersten Kapitel befasst sich Hubertus Knabe mit der nostalgischen Verklärung der DDR-Vergangenheit, dem wundersamen Überleben der SED in Gestalt der PDS und nicht zuletzt mit den zahlreichen MfS-Spitzeln, die heute bei Wahlen für diese Partei kandidieren. Auch der Fall Gregor Gysi wird ausführlich verhandelt (und an anderer Stelle der Sündenfall der SPD: Manfred Stolpe).
Das zweite Kapitel „Täter ohne Strafe“ gibt schon in der Überschrift den Tenor zu erkennen: Die rechtliche Aufarbeitung des SED-Unrechts sei gescheitert. „Die Fehler der Politiker und die Rechtsprechung der Gerichte wirkten zusammen wie eine gigantische Amnestie“, resümiert Knabe. In der Tat sind einige Urteile kritikwürdig, und manches hätte besser verlaufen können, wie auch Beteiligte einräumen. Doch von einem völligen Versagen kann nur sprechen, wem das rechtsstaatliche Rückwirkungsverbot und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nichts gilt. Nach Knabes Vorstellung hätten „Zehntausende in Haft genommen werden müssen“ – die neuen Bundesländer als besiegter und besetzter Feindstaat!
Wie viel Einfluss haben die Veteranen?
In dem folgenden Kapitel „Opfer ohne Lobby“ zeichnet der Autor mit Verve die Rehabilitierung der Opfer nach. Deren Entschädigung ist angesichts ihrer fiskalischen Hartherzigkeit zweifellos als schäbig, ungerecht und einer nach wie vor reichen Gesellschaft unwürdig zu bezeichnen, auch wenn es in den vergangenen Jahren einige Verbesserungen gegeben hat. Die maßgebliche Verantwortung der Regierung Kohl für diese und andere im Buch diagnostizierte Fehlentwicklungen bleibt allerdings merkwürdig unterbelichtet; Knabe führt lieber rot-grüne Akteure vor. Den Abschluss bildet dann das Kapitel „Die Stasi lebt“: Hier behandelt der Autor die dubiosen Aktivitäten diverser Hilfskomitees und Veteranenverbände, deren Einfluss jedoch maßlos überzogen dargestellt wird.
Folgte man der Argumentation Knabes, so ließe sich nur eine niederschmetternde Bilanz ziehen: Der Deutsche Bundestag hat bei der Gesetzgebung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur mehrfach versagt; das Bundesverfassungsgericht und der Bundesgerichtshof haben die Strafverfolgung der SED-Täter hintertrieben; die Medien gehen den alerten Schönrednern auf den Leim; und selbst der Verfassungsschutz verkennt das gefährliche Wirken der alten MfS-Kader.
Anderswo gilt Deutschland als Vorbild
Selbst ein Knabe wohlgesonnener Rezensent wie Karl Wilhelm Fricke spricht denn auch von apodiktischen Wertungen eines „zuweilen eifernden Autors“. Auch Knabes frühere Werke waren vor allem durch den schrillen und alarmistischen Ton des Autors aufgefallen, etwa als dieser die Bundesrepublik von zahllosen Einflussagenten der Staatssicherheit unterwandert sah. Dem Verkaufserfolg mögen solche Zuspitzungen zugute kommen, doch der Aufarbeitung tun sie keinen Gefallen. Vielmehr diskreditieren sie alle ernsthaften Bemühungen um politische Differenzierung und historisches Augenmaß.
Denn in Wirklichkeit ist die Aufarbeitung der SED-Diktatur eine Erfolgsgeschichte, von der man in anderen postkommunistischen Ländern nur träumen kann. Nirgendwo sonst hat ein so tiefgreifender Elitenaustausch auf allen Ebenen stattgefunden, weshalb in der Bundesrepublik auch kein Filz neureicher Oligarchen existiert. Wo sonst hätte ein Parlament im breiten Konsens und über zwei Wahlperioden hinweg eine gut ausgestattete Enquetekommission eingesetzt, deren Anhörungen und in großer Auflage publizierten Ergebnisse sich so differenziert mit der soeben überwundenen kommunistischen Diktatur beschäftigen?
Das Stasi-Unterlagen-Gesetz und die Errichtung einer speziellen Behörde (mit anfangs rund 3.000 Mitarbeitern) zur Überprüfung und persönlichen Akteneinsicht sind zum Vorbild für andere Staaten geworden. Bis heute gingen der „Gauck/Birthler-Behörde“ rund 1,7 Millionen Anträge auf persönliche Akteneinsicht zu. Allein im vergangenen Jahr dokumentierten 97.000 Neuanträge das anhaltende Interesse. Ähnliches gilt für die etablierten Einrichtungen der politischen Bildung, die aufgrund ihres Engagements und Pluralismus in Osteuropa großes Ansehen genießen, sowie für eine stattliche Anzahl neu gegründeter Gedenkstätten bis hin zu der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, die speziell die zivilgesellschaftliche Auseinandersetzung fördert. Vom Fortschritt der Forschung, der sich seit 1990 in Hunderten von soliden Büchern zur DDR-Geschichte niedergeschlagen hat, gar nicht zu reden.
Gewiss besitzt diese Erfolgsbilanz auch ihre Defizite, doch sollte das in vergleichsweise kurzer Zeit Erreichte nicht gering geschätzt werden. Angemessen zu würdigen vermag dies jedoch nur, wer auch die vielfachen Hemmnisse der nur zögerlich einsetzenden Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit in der frühen Bundesrepublik oder die aktuellen Problemlagen des postkommunistischen Transformationsprozesses in anderen Ländern zur Kenntnis nimmt.
Hubertus Knabe, Die Täter sind unter uns: Über das Schönreden der SED-Diktatur, Berlin: Propyläen 2007, 384 Seiten, 22 Euro