Alle auf den Platz!
Der gebürtige Lüdenscheider Nuri Sahin gilt als Mega-Talent des europäischen Fußballs. Am 6. August 2005 schrieb er Sportgeschichte, als er im Alter von 16 Jahren und 335 Tagen als jüngster Bundesliga-Spieler aller Zeiten von seinem Verein Borussia Dortmund gegen den VfL Wolfsburg eingesetzt wurde. Wenige Wochen zuvor hatte Sahin mit der türkischen U-17-Nationalmannschaft die Europameisterschaft gewonnen. Seither wird Nuri Sahin von englischen Topclubs wie Arsenal oder Chelsea umworben.
Am Abend des 8. Oktober 2005 bestritt Nuri Sahin sein erstes A-Nationalmannschaftsspiel. Für die Türkei. Gegen Deutschland. An diesem Abend stand fest, dass Nuri Sahin niemals das Trikot der deutschen Nationalmannschaft tragen wird. Die Regularien der FIFA untersagen, dass Spieler, die in einem A-Länderspiel eingesetzt wurden, später für eine andere Nationalmannschaft spielen dürfen. Die Türkei gewann das Spiel mit 2:1. Das erste Tor für die Türkei schoss der gebürtige Gelsenkirchener Halil Altintop vom 1. FC Kaiserslautern, das zweite erzielte Nuri Sahin. Gewissermaßen verlor die deutsche Mannschaft durch zwei Eigentore – Tore von Spielern, die eigentlich Deutsche sind. Mit Nuri Sahin hat sich wieder einmal ein hochbegabter Fußballer entschieden, nicht für das Land zu spielen, in dem er geboren wurde, in dem er aufwuchs und als Fußballer sein Geld verdient, sondern für das Land seiner Eltern oder Großeltern, das er nur aus dem Urlaub kennt.
Als Frankreich im Jahr 1998 im eigenen Land mit einer Mannschaft Weltmeister wurde, die überwiegend aus Spielern mit Migrationshintergrund bestand, forderte der erfolgreichste deutsche Vereinstrainer Ottmar Hitzfeld im Spiegel: „Wir müssen auch unsere Ausländerkinder für den deutschen Fußball gewinnen. Holländer und Franzosen haben die Kinder von Einwanderern in ihrer Mannschaft. In Deutschland leben Türken, Afrikaner und Osteuropäer. Gucken Sie sich unsere Jungenmannschaften heute an: Die bestehen zu 50 Prozent aus Ausländerkindern. Wir verzichten also auf die Hälfte unseres Potenzials, wenn es von vornherein ausgeschlossen ist, die für Deutschland spielen zu lassen.“
Drei Jahrzehnte verpasster Chancen
Ohne Frage ist die deutsche Nationalmannschaft seither vielfältiger geworden. Mit Gerald Asamoah und Miroslav Klose, Kevin Kuranyi, Patrick Owomoyela und Lukas Podolski spielen mehr Fußballer mit Migrationshintergrund für Deutschland als je zuvor. Trotzdem kommen die Verfehlungen der deutschen Integrationspolitik der letzten 30 Jahre und die dadurch verpassten Chancen gerade im deutschen Fußball deutlich zum Vorschein. Es muss zu denken geben, dass keine Spieler, deren familienbiografische Wurzeln in der Türkei oder den Staaten des ehemaligen Jugoslawien liegen, in der deutschen Nationalmannschaft spielen. Dabei sind gerade dies die beiden zahlenmäßig größten Ausländergruppen in Deutschland, die zudem häufig bereits seit Generationen hier leben.
In der Ersten Fußballbundesliga spielen in der aktuellen Saison mehr als 20 Fußballer, die zwar in Deutschland geboren und aufgewachsen sind, aber nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen. Von diesen spielen 15 statt für die eigene Heimat – also Deutschland – für die Heimat ihrer Eltern oder Großeltern in der Nationalmannschaft. Neben Nuri Sahin zählen dazu Bundesliga-Spitzenspieler wie der waschechte Hamburger Ivan Klasnic von Werder Bremen sowie der im westfälischen Herne gebürtige Yildiray Bastürk von Hertha BSC Berlin. Hinzu kommen Spieler wie der kroatische Nationalspieler Robert Kovac, der aus Berlin stammt, zunächst in der Bundesliga spielte und mittlerweile beim internationalen Spitzenklub Juventus Turin unter Vertrag steht.
Der deutschen Fußballnationalmannschaft geht damit ein erhebliches Potenzial an Spitzenfußballern verloren, mit vielleicht sogar dramatischen Folgen für den deutschen Fußball: Ein Weltklasseverteidiger wie Robert Kovac könnte der wackeligen deutschen Abwehr die Stabilität geben, die notwendig ist, um gegen Spitzenmannschaften wie Brasilien oder Italien bestehen zu können. Das erfolgreichste Sturmduo der Bundesliga, Miroslav Klose und Ivan Klasnic, könnte nicht nur für Werder Bremen, sondern auch für Deutschland gemeinsam auf Torejagd gehen. Die Chancen, dass der Traum vom Gewinn der Weltmeisterschaft im eigenen Land nicht nur ein Traum bleibt, wären beträchtlich größer.
Wieso ist es nicht gelungen, diese Fußballer für Deutschland zu gewinnen? Wieso fühlen sich diese Spieler und mit ihnen Hunderttausende ihrer Landsleute dem Herkunftsland ihrer Eltern und Großeltern emotional immer noch enger verbunden als dem Land, in dem sie geboren sind und in dem sie und ihre Familien leben?
Das Leugnen hat ein Ende
Viele der Ursachen liegen in den integrationspolitischen Versäumnissen der Vergangenheit und in einer lange Zeit falschen Selbstwahrnehmung der deutschen Gesellschaft begründet. Nur mit erheblicher Verzögerung erkannte sie an, was seit Jahrzehnten offenkundig war: Deutschland ist ein Einwanderungsland – mit allen Problemen, aber eben auch mit allen Chancen, die daraus resultieren. Noch bis in die späten neunziger Jahre wurde die Notwendigkeit staatlicher Integrationsmaßnahmen schlicht geleugnet. Mittlerweile besitzen wir ein reformiertes Staatsbürgerschaftsrecht, das den Menschen, die ihren Lebensmittelpunkt dauerhaft in Deutschland haben, die volle gesellschaftliche Teilhabe rechtlich erleichtert. Und mit dem Integrations- und Zuwanderungsgesetz hat sich der Staat endlich zu seiner Mitverantwortung bekannt, Zuwanderer in die deutsche Gesellschaft einzubeziehen.
Die aktuellen Diskussionen zu den Themen „Einbürgerung“ und „Integration“ zeigen aber auch, dass nicht alle unserer Probleme mit diesen Reformen gelöst worden sind. Mit dem Abbau rechtlicher Barrieren für eine Einbürgerung ging nur teilweise ein Abbau von Barrieren in den Köpfen einher. An Stelle einer Politik der ausgestreckten Hand wird gegenüber den in Deutschland lebenden Ausländern nicht selten noch immer eine Politik der geballten Faust und eine Misstrauenskultur praktiziert, die für die Betroffenen demütigend ist. Sie signalisiert: Eigentlich gehört ihr nicht wirklich zu uns. Und wenn doch, dann müsst ihr es uns täglich beweisen.
Klar ist: Wer die deutsche Staatsangehörigkeit erlangen möchte, muss gewisse Voraussetzungen erfüllen. Der Nachweis von Sprachkenntnissen zählt ebenso dazu wie ein Bekenntnis zur verfassungsmäßigen Ordnung unseres Landes. Wenn Einbürgerungswillige aber eine diskriminierende Gesinnungsschnüffelei oder eine Quiz-Veranstaltung über sich ergehen lassen sollen, wird demonstriert, dass sie im Grunde nicht willkommen sind. Eine Türkin, die bereits lange in Deutschland lebt, einem Beruf nachgeht, die deutsche Sprache beherrscht und sich nicht strafbar gemacht hat, muss uns in Deutschland auch dann als Mitbürgerin herzlich willkommen sein, wenn sie nicht drei deutsche Philosophen mit Namen kennt.
Staatsbürger statt Staatsbewohner
Nicht minder problematisch waren die Reaktionen auf den Hilferuf der Lehrer der Berliner Rütli-Schule: Abschiebung und „Rückführung“ wurden auch für Einwanderer diskutiert, die schon in der dritten Generation hier leben. Damit sich die Ausländer auch ja nicht zu sicher fühlen und ihres Status als Gäste schön bewusst bleiben! Auch wurde vorgeschlagen, die Staatsbürgerschaft gleichsam auf Probe zu erteilen, um sie im Falle von Fehlverhalten möglichst schnell wieder aberkennen zu können. Die Integrationsbereitschaft ausländischer Mitbürgerinnen und Mitbürger wird durch derartige Drohungen ganz gewiss nicht gestärkt. Wer so redet und dumm daherschwätzt, erreicht das Gegenteil von dem, was er vorgibt.
Die Debatten der jüngsten Zeit erwecken den Eindruck, es gebe in Deutschland zu viele Einbürgerungen. Das Gegenteil stimmt: Wir haben zu wenige. Seit Mitte der neunziger Jahre ist die Zahl der Einbürgerungen kontinuierlich zurückgegangen. Für das Jahr 2004 sind zuletzt nur noch 127.153 Einbürgerungen gezählt worden. Weniger waren es zuvor nur im Jahr 1990. Dabei leben über 60 Prozent der knapp 7,3 Millionen Ausländer in Deutschland bereits seit über 10 Jahren hier. Diese Entwicklung muss alle Demokraten beunruhigen. Für eine Demokratie kann es auf Dauer nicht gut sein, wenn eine erhebliche Anzahl von Menschen ständig von der vollen gesellschaftlichen und politischen Teilhabe ausgeschlossen bleibt. Daher müssen wir dafür streiten, dass aus möglichst vielen hier dauerhaft lebenden Staatsbewohnern ohne deutschen Personalausweis deutsche Staatsbürger werden. Dies hat Nordrhein-Westfalens Integrationsminister Armin Laschet (CDU) erkannt und jüngst eine Werbekampagne für mehr Einbürgerung gefordert. „Wer sich einbürgern lässt, verlässt die Parallelgesellschaft“, so Laschet.
Es ist ein integrationspolitischer Skandal: Menschen, die hier geboren sind oder seit Jahrzehnten hier leben, fühlen sich immer noch als Fremde in ihrem Heimatland. Und selbst Repräsentanten der Mehrheitsgesellschaft betrachten sie häufig als solche. Dies darf sich in den kommenden 30 Jahren nicht fortsetzen. Die Nachfahren der Einwanderer in der vierten, fünften und sechsten Generation dürfen keine Ausländer bleiben.
Potenziale nutzen – nicht nur im Fußball
Trotz aller Schwierigkeiten hat die Zuwanderung von Menschen unterschiedlicher Herkunft Deutschland in den vergangenen Jahren enorm bereichert. Einwanderer haben bereits viel für dieses Land geleistet, obgleich viele Potenziale der Zuwanderung ungenutzt blieben und weiterhin brach liegen. Es wird in den kommenden Jahren darum gehen, die Potenziale der Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland besser zu fördern und somit für diese Gesellschaft nutzbar zu machen. Wenn uns dies nicht besser gelingt, schwächen wir nicht nur unsere Fußballnationalmannschaft, sondern die Zukunftschancen unseres Landes insgesamt.