Mehr Spreu als Weizen
Den Herausgebern geht es darum, wie „das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit in der Balance zu halten“ ist. Nicht ohne Weiteres nachvollziehbar ist, warum sie sich damit eine Position zueigen machen, die beide Begriffe zu vergleichbaren Gütern erklärt. Mindestens ebenso berechtigt dürfte schließlich die Auffassung sein, dass es sich keineswegs um Begriffe derselben Kategorie handelt. Ist nicht die Freiheit zentraler Wert im demokratischen Rechtsstaat? Hat nicht die Sicherheit gegenüber der Freiheit eine dienende Funktion? Und sollte deswegen nicht vielmehr gefragt werden, ob die Abwägbarkeit zwischen Freiheit und Sicherheit eine Chimäre ist, weil Sicherheit immer dem Schutz der Freiheit verpflichtet ist und nicht mit dieser substanziell abgewogen werden kann, als ginge es um zwei Substanzen mit gleichem spezifischem Gewicht?
Es ist eines von drei Problemen dieses Buches, dass die Herausgeber sich der eigenen Positionierung nicht stärker enthalten und zudem selbst viel Fragwürdiges zu Papier bringen. Am Eklatantesten wird dies dort, wo sie mit erschütternder Unsensibilität die so genannte Rettungsfolter als im Einzelfall moralisch vertretbar, aber rechtlich nicht regelbar beschreiben: „Die Frage ist nur, ob uns dieses moralische Verständnis in einem Extremfall dazu veranlassen sollte, das allgemeine rechtliche Folterverbot zu relativieren.“ Mit Verlaub, das ist überhaupt keine Frage. Folter ist Zivilisationsbruch, und bereits wer sie für denkbar oder gar vertretbar hält, wirkt an diesem Zivilisationsbruch mit.
Verwunderlich ist auch die Behauptung der Herausgeber, die „Struktur der neuen terroristischen Bedrohung“ sei „dergestalt, dass die traditionellen rechtsstaatlichen Sicherungen grundsätzlich unterlaufen zu werden drohen“, was nicht weiter begründet wird – ebenso wenig wie die Behauptung, dass Terrorismus keine schwere Form von Kriminalität sei, sondern „eher an technische Großrisiken ... erinnert“. Das alles erscheint bedauerlicherweise reichlich unreflektiert.
Das zweite Problem des Buches: Es erscheint in der Versammlung der Beiträge recht beliebig. Unklar bleibt besonders die Auswahl der Autoren. Es ist gewiss nicht verkehrt, Vertreter aus Politik und Wissenschaft zu Wort kommen zu lassen. Wenn das aber der Ansatz war, ist vor allem die Auswahl der schreibenden Politiker reichlich willkürlich. Warum kommen neben Wolfgang Bosbach für die Union und Ralf Stegner für die SPD mit Gerhart Baum und Burkhard Hirsch gleich zwei Altliberale mit zudem zwei ziemlich gleichgerichteten Texten zu Wort? Statt des früheren nordrhein-westfälischen Innenministers Hirsch hätte man reizvoller Weise den amtierenden FDP-Innenminister des Landes, Ingo Wolf, als Autoren gewinnen können. Es war schließlich Wolf, der lange Zeit das zwischenzeitlich vom Bundesverfassungsgericht für nichtig erklärte Verfassungsschutzgesetz seines Landes propagiert und verteidigt hatte. Autoren aus den Reihen der Grünen und der Linkspartei sucht man zudem vergeblich.
Wo Ralf Stegner überall studiert hat
Das dritte Problem des Bandes ist ein erkennbarer Mangel an Sorgfalt. Lautet der Titel Vom Rechtsstaat zum Präventionsstaat, so versehen die Herausgeber die gleichlautende Überschrift ihrer Einleitung mit einem Fragezeichen. Das zweite Kapitel trägt die Bezeichnung „Die Aufgabe des Rechtsstaates im Kampf gegen den Terrorismus“, wobei die Doppeldeutigkeit offenkundig unfreiwillig ist, was spätestens den Lektoren hätte ins Auge fallen müssen. In den Angaben zu den Autoren erfährt man dann, wo Ralf Stegner überall studiert hat, aber nicht, dass Innen-Staatssekretär August Hanning früher Chef des BND war, was zu wissen mindestens ebenso interessant ist. Stattdessen wird der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der CDU Wolfgang Bosbach im Autorenverzeichnis promoviert, obwohl er gar keinen Doktortitel hat.
Über diese Nachlässigkeiten und Schwächen trösten zwei sehr gelungene Beiträge hinweg: Erhard Denninger legt überzeugend dar, dass das Streben nach maximaler Risikoabwehr geeignet ist, Freiheitsrechte potenziell zu beeinträchtigen, und dass hierin der wesentliche Unterschied zur Technikfolgenabschätzung besteht. Sehr klug sind auch seine Überlegungen zum Kern des Gesellschaftsvertrages: Die Bürgergemeinschaft ist eben keine Versammlung potenziell Verdächtiger und ihre Grundkultur keine des Misstrauens. Erfreulich ist ferner seine klar ablehnende Haltung zum Thema Folter, wobei man sich fragt, warum man heute über Selbstverständliches erfreut sein muss.
Aus einem ganz anderen Grund ragt der Beitrag des Bundesdatenschutzbeauftragten Peter Schaar hervor. Sehr präzise beschreibt Schaar den „Rüstungswettlauf in der Informationstechnologie“– ein gelungenes Bild, das er mit einer informativen Übersicht technischer Entwicklungen und entsprechender gesetzlicher Regelungen zu deren Missbrauchsbekämpfung vom 19. Jahrhundert bis heute unterlegt.
Sind Krieg und Frieden nicht mehr zu trennen?
Verschiedene andere Beiträge sind weniger lesenswert, manche allerdings erhellend. Recht bestürzt ist man etwa angesichts der folgenden Aussage von Wolfgang Bosbach: „Nicht die Effektivität oder die Vernetzung waren doch das Diabolische am NS-Staat, sondern die Inhalte, die in den Formen des Staates durchgesetzt wurden.“ Was für ein gefährlicher Unsinn! Lassen sich die Unrechts-Strukturen des NS-Staates ernsthaft von seinen Unrechts-Inhalten trennen? Wäre das Polizei- und Nachrichtendienstsystem des NS-Staates gerechtfertigt gewesen, wenn es „guten“ Zwecken gedient hätte?
Sehr aufschlussreich ist partiell auch, was August Hanning, Staatssekretär im Bundesinnenministerium für geboten hält. Sehr schön im Kontrast zu den Ausführungen Peter Schaars liest sich etwa folgender Satz: „Wir müssen die technischen Mittel kontrollieren, die Kriminelle und Terroristen im 21. Jahrhundert zur Ausübung ihrer Taten nutzen.“ Gemeint sind Kommunikation und das Internet. Niemand wird bestreiten, dass hier die Möglichkeit zur Beobachtung in Verdachtsfällen erforderlich ist. Wer von Kontrolle spricht, meint aber nicht den gezielten Zugriff, sondern qualitativ etwas anderes. Kein Wunder insofern, dass Hanning von einem „Zielkonflikt zwischen Freiheit und Sicherheit“ spricht, den es so nicht gibt, und zu folgendem Fazit gelangt: „Die ... Sicherheitsarchitektur mit ihrer strengen Trennung von innerer und äußerer Sicherheit, von Krieg und Frieden und von Kombattanten und Zivilbevölkerung ist dem modernen Konfliktbild nicht mehr gewachsen.“ Wer solche Unterscheidungen nicht vornehmen mag, bringt den Rechtsstaat auf die abschüssige Bahn. Terrorismus ist nicht ein bisschen Krieg, sondern im Inland genuine Kriminalitätsbekämpfung und damit Polizeiaufgabe.
Kaum weniger bedenklich ist der Beitrag von Manfred Baldus, Jura-Professor in Erfurt und von mir persönlich geschätzt, der ernsthaft schreibt, „dass das Würdeversprechen seinen Absolutheitsanspruch dann verliert, wenn die Würde einer Person nur geschützt werden kann durch die Verletzung der Würde einer anderen Person“. Dies ist nicht nur vor dem Hintergrund der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes aus dem Jahr 2006 zum Luftsicherheitsgesetz unvertretbar, in der es die Abwägung von Leben gegen das Leben Unschuldiger für unzulässig erklärt, sondern vor allem auch in dieser Allgemeinheit falsch. Würde ist unteilbar.
Was Dürrenmatt besser verstand
Am Ende der Lektüre des Buches stellen sich viele Fragen. Ob man die zehn Euro mit größerem Gewinn in die Kinokarte für einen guten Film hätte investieren können, ist darunter nicht die geringste (wobei für denselben Betrag zweifellos schlechtere Bücher erhältlich sind). Der Antwort auf die Frage (wenn sie denn eine war), ob sich der Rechtsstaat zum Präventionsstaat entwickelt, kommt man freilich nicht näher. Dies ist auch kaum verwunderlich, weil die Frage (wenn sie denn eine ist) falsch gestellt wird. Prävention war und ist ein Merkmal der inneren Sicherheit.
Die Frage ist vielmehr: Wie viel Prävention darf der Rechtsstaat auf dem Gebiet der inneren Sicherheit zur Anwendung bringen? Da hilft die Essenz von Friedrich Dürrenmatts „Die Physiker“ (Man darf nicht alles tun, nur weil man es tun kann!) weiter als mancher Unfug, der sich in diesem Buch findet. Wenn man aber eine falsche Frage stellt, bekommt man nicht zwangsläufig hilfreiche Antworten. Im konkreten Fall: viel Spreu und Weizen. Unter dem Strich: mehr Spreu als Weizen. Und von dem Weizen in diesem Buch wird der Leser nicht wirklich satt.