Alles wird besser, aber nichts mehr gut: Über die Seelenqualen der Berliner Republik



Vorab: Ich persönlich glaube nicht, dass es um Deutschland so schlecht steht wie alle sagen. Meine Vermutung gründet sich vor allem auf Beobachtungen, die ich bei meinem letzten Besuch im „Futterhaus“, einem größeren Heimtierbedarf-Geschäft gemacht habe. Dort gibt es nämlich nicht nur – was dem wahren Heimtierenthusiasten vermutlich ganz normal erscheint – Heu, das zur Geschmacksverbesserung mit getrockneter Pfefferminze versetzt ist, oder Käfigeinstreu mir Zitronenaroma. Sondern auch, und das schon seit September, Adventskalender für Hunde und Katzen. Wohlgemerkt: Nicht etwa „mit“. Für. Ich finde, in einem Land, in dem auch nur ein einziger Mensch die offenbar nicht unberechtigte Hoffnung hegt, es ließen sich Adventskalender für Hunde und Katzen verkaufen, kann der Kapitalismus noch nicht ganz am Ende sein.

Die allgemeine Stimmung allerdings ist finster. So wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts die „Neurasthenie“, ein Zustand der nervösen Rastlosigkeit, in Deutschland eine Art Volkskrankheit gewesen sein muss (mit den bekannten Katastrophenfolgen), so sehr weist der heutige Seelenzustand der Berliner Republik in Richtung Depression. Vielleicht ist Depression noch nicht einmal der richtige Begriff, denn der Depressive zieht sich ja in sich selbst zurück, ist eher passiv, will niemanden sehen, nicht aus dem Haus gehen, am liebsten im Bett bleiben. Unser aktuelles deutsches Leiden scheint eine aktivere, aggressivere Komponente zu haben: Es ist mehr eine Art Selbsthass; ein Sich-Bestätigt-Fühlen, wenn der schlimmste Fall eintritt; eine lustvolle Selbstanklage; eine 24-Stunden-Standby-Bereitschaft zum Nölen.

Das Gejammer kommt aus etlichen Richtungen zugleich. Zuerst und massenhaft natürlich von den Bürgern, die sich in Deutschland immer gern klein und hässlich, unmündig und übervorteilt im Angesicht einer (allerdings heute selbst gewählten) Obrigkeit fühlen. Und auch voneinander das Schlechteste denken.

Geld hat niemand in der Tasche

Da sind die Rentner, die einander in der Eisenbahn mit bitterem, anklagendem Gesichtsausdruck und gar nicht so leise zuraunen, die Jüngeren könnten sie ja ebenso gut „gleich vergasen“. Da sind die Mädels aus der Hockey-Olympiamannschaft, die sicher den einen oder anderen Euro an steuerzahlersolidarisch aufgebrachter Sportförderung genossen haben, und jetzt für eine private Krankenversicherung werben: Über den Generationenvertrag (von dem sie alle nur eine verschwommene Vorstellung haben mögen) machten sie sich „keine Illusionen mehr“, heißt es im Werbetext.

Die rotgrüne Regierung hat Bürger und Unternehmen seit 1998 um 60 Steuermilliarden entlastet – das merkt aber keiner, die Handy-Rechnungen sind so hoch. Geld, um sich durch Konsum die Stimmung zu verbessern, hat niemand in der Tasche – viele Leute allerdings nicht deshalb, weil sie (ein echtes Problem!) gerade arbeitslos geworden wären, sondern weil ihre Finanzberater ihnen befehlen, jeden beweglichen Cent in die private Altersvorsorge zu stecken. Schließlich „weiß“ doch „jeder“, dass die Rentenversicherung über kurz oder lang sowieso „zusammenbrechen“ wird. (Frage: Ist es vollkommen naiv und ahnungslos zu glauben, dass in diesem Fall auch ein bisschen privates Fondssparen nicht helfen wird, weil der Zusammenbruch der Rentenversicherung bedeuten würde, dass der Staat selbst zusammengebrochen ist?)

Das typisch deutsche Genörgel kann überall an- und einsetzen, der Kritikreflex ist übermächtig, nie wird einer neuen Idee mit angelsächsischem Why-not-Optimismus begegnet. Wenn zum Beispiel ein an sich doch netter und witziger Mensch wie Florian Illies mit privatem Geld eine neue Kunstzeitschrift gründet, dann lautet die Party-Reaktion darauf unweigerlich: „Ja, aber er hat die wichtigsten Szene-Galerien in Mitte nicht berücksichtigt.“ Die Feuilletons wiederum bringen es fertig, einen neuen deutschen Schriftstellerinnen-Boom auszurufen (was ja zunächst als gute oder zumindest interessante Nachricht erscheint), und dann in den Besprechungen jedes einzelne Buch zu verreißen. Überhaupt Rezensionen in Deutschland: Kein Vergleich mit dem freundlichen Interesse, das sowohl Romanen als auch Sachbüchern in England oder Amerika entgegen gebracht wird. Wir hingegen lieben den Ton der Vernichtung.

Man steht herum und hört wehleidige Musik

Die Musikgruppe, die dieses Lebensgefühl vielleicht am besten verkörpert, heißt Rosenstolz und hatte in letzter Zeit Erfolg unter anderem mit einem Lied, das die Midlife-Crisis einer ganzen Generation ausdrückt: „Alles wird besser“, heißt es da im Refrain: „aber nichts mehr gut. Alles wird schöner – aber nichts mehr heiß.“ Und die dreißig- bis vierzigjährigen Fans, darunter viele schwule Pärchen, wippen traurig zu dieser Beschwörung schwindender Hoffnungen. Niemand sieht aus, als sei er froh darüber, dass man selbst im spießigen Deutschland als schwules Paar heute offen herumstehen und wehleidige Musik hören kann. Aber alle machen den Eindruck, als könnten sie sich auf Knopfdruck darüber aufregen, dass sie immer noch nicht das Recht aufs Ehegattensplitting haben.

Die PISA-Studie, nur um das noch zu erwähnen, war Anlass für eine wahre Orgie der Selbstgeißelung: Seht her! Peitschenhieb! So schlecht gehen wir mit der Zukunft unserer Kinder um! Peitschenhieb! So schlecht sind bei uns Schulen, Lehrer, Lehrpläne. (Wussten wir gerade das nicht insgeheim immer?) Und die Demokratie? Hält man für eine Sache zwischen oben und unten, wobei man sich selbst als Aggressiv-Depressiver natürlich unten wähnt – und permanent betrogen. Also nicht die beste Staatsform, sagen bereits 60 Prozent Patienten im Osten. Man braucht kaum hinzuzufügen, dass in einer Gesellschaft, die sich so fühlt, natürlich niemand mehr Kinder bekommt.

Massiv verstärkt wird der Grund-Missmut der Bevölkerung zum einen von Seiten der Wirtschaft, zum anderen von den Medien. Die Wirtschaft hat Interesse daran, die Krise, die durch Globalisierung und demografischen Wandel unbestreitbar entsteht, möglichst groß und heillos zu reden – damit lässt sich dann jede Einschränkung von Arbeitnehmerrechten, neuerdings auch jede Lohnsenkung rechtfertigen. Und den Journalisten liegt die schlechte Nachricht gewissermaßen von Natur aus näher als die gute. Deshalb funktionieren meistens auch die netten Pläne aus Redaktionskonferenzen nicht, endlich auch einmal über „positive Beispiele“ zu berichten – das Ergebnis klingt fast immer wie Propaganda aus der sozialistischen Arbeitswelt.

Es gibt einstweilen wenige Anzeichen, die auf eine spontane Selbstheilung hindeuten. Aber die deutsche Depression muss bekämpft werden, wenn wir nicht in eine vermeintlich ausweglose Situation geraten wollen, aus der wir uns dann nur mit einer unserer zu Recht von der Welt gefürchteten Radikalkuren befreien könnten.

Medikamente – mehr öffentlich ausgegebenes Geld – werden in diesem Fall, auch wenn sie heute durchaus zu einer fortschrittlichen Therapie gehören, nicht helfen. Jedenfalls nicht allein – auch wenn man darüber nachdenken darf, ob ein intelligentes Arbeitsmarktprogramm nicht insgesamt hilfreicher gewesen wäre als eine Steuerreform ohne jeden Wohlfühl-Effekt. So oder so: Die Patienten brauchen nicht in erster Linie Geld, sondern Gespräche und Geschichten. Da ist es extrem unglücklich, wenn ausgerechnet das Staatsoberhaupt am Tag der deutschen Einheit – in anderen Ländern wäre so etwas der Nationalfeiertag – darüber klagt, unser größtes Problem sei „zu viel Staat“. Das ist das Gegenteil von einem Programm zur Heilung – solche Sätze machen die Bevölkerung krank. Die Politik müsste auf den gegenwärtigen Therapiebedarf ganz anders reagieren als unser Sparkassen-Präsident. Möglicherweise bedeutet das: ihre Methoden amerikanisieren – nicht im Hinblick auf noch größere, noch perfektere Parteitage, sondern durch eine selbstbewusstere, selbstverständlichere Kommunikation in Einkaufszentren und Fußgängerzonen, in Schulen und Altenheimen. Wenn die Lektüre von Bill Clintons Autobiografie eine Erkenntnis bringt, dann die, wie viel Zeit professionelle Wahlkämpfer in den Vereinigten Staten für das direkte Gespräch mit den Leuten verwenden, die sie repräsentieren wollen. Und wie viel Mühe der amerikanische Präsident auf die Entwicklung und Pflege einer politischen Rhetorik verwendete, die eben nicht permanent die eigenen demokratischen Fundamente in Frage stellte. Nach dem Attentat eines politikverdrossenen amerikanischen Fanatikers auf das staatliche Verwaltungsgebäude in Oklahoma City habe er darauf geachtet, selbst nie wieder von „staatlichen Bürokraten“ zu sprechen, schreibt Clinton.

Den Bürgern sagen, dass sie Unsinn reden

Damit die Stimmung besser werden kann, brauchen wir eine Re-Politisierung der Öffentlichkeit. Und wir brauchen Politiker, die bereit sein müssen, den Bürgern gelegentlich auch ins Gesicht zu sagen, dass sie Unsinn reden. Hartz IV hat vielerorts gezeigt, dass das möglich ist, wenn ein politisches Konzept tatsächlich Substanz hat. Wenn hingegen nicht einmal der zuständige Minister sein eigenes Rentenmodell erklären kann, gibt es natürlich Probleme. Aufrufe zu besserer Stimmung, zwangsfröhliche Gute-Laune-Appelle sind eigentlich immer zum Scheitern verurteilt. Aber vielleicht könnten wir trotzdem mit ganz bescheidenen mentalen Übungen beginnen: die nächsten fünf Beispiele neuer öffentlicher Infrastruktur, die uns begegnen – Spielplätze, Straßenkreuzungen, Uferpromenaden – freundlich anschauen und uns fragen, wo im Ausland das besser aussehen würde. Beim nächsten Restaurantbesuch daran denken, wie Restaurants in Deutschland vor 20 Jahren ausgesehen haben. Nicht jedes mal „zu viel Staat“ denken, wenn wir den Bundespräsidenten sehen. Und beim nächsten Termin mit dem Finanzberater mutig sagen: „Ich vertraue darauf, dass es auch in dreißig Jahren noch eine staatliche Rentenversicherung geben wird. Ich will nicht in noch einen Fonds mit ungewisser Zukunft investieren. Zum Wohle der deutschen Volkswirtschaft werde ich jetzt Ihr Büro verlassen und mir einen Golf Fünf kaufen.“

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