Alte Rezepte gegen die neue Krise?

Soll die massive Rezession als Chance genutzt werden, müssen wir uns von der Idee lösen, bestehende Verhältnisse könnten konserviert werden. Mehr denn je kommt es jetzt auf vorsorgende Sozial-, Arbeitsmarkt- und Bildungspolitik an

Bis die Beschäftigung in Deutschland zwischen 2005 und 2008 deutlich anstieg, galt unser Arbeitsmarkt lange als Problemfall. Gründe dafür waren die strikte Regulierung im Kern des Arbeitsmarktes, die hohe Belastung des Faktors Arbeit mit Steuern und Sozialabgaben, eine wenig wirksame aktive Arbeitsmarktpolitik sowie Sozialtransfers, die Erwerbstätigkeit für viele Arbeitslose finanziell unattraktiv machten. Lange war der deutsche Arbeitsmarkt geprägt von relativ wenigen, dafür aber überwiegend "guten" Jobs. Jedoch haben die Reformen in der ersten Hälfte dieses Jahrzehnts " nicht zuletzt die Hartz-Gesetze und die Agenda 2010 " die Funktion des Arbeitsmarktes grundlegend verändert. Die rot-grüne Bundesregierung hat die Regulierung von atypischer Beschäftigung wie Minijobs, befristeten Verträgen oder Zeitarbeit abgebaut und das Transfersystem deutlich stärker auf Aktivierung ausgerichtet.

Dadurch schuf sie neue Einstiegsmöglichkeiten in den Arbeitsmarkt und eine Dynamik im Dienstleistungssektor, der lange Zeit die Achillesferse des Systems gewesen war. Viele dieser zusätzlichen Arbeitsplätze sind in Bezug auf Entlohnung und Beschäftigungsstabilität weniger attraktiv als die so genannten Normalarbeitsverhältnisse, typischerweise in der Industrie, die nach wie vor als Maßstab gelten. Die neuen, flexibleren Jobs müssen aber vor allem als Alternative zur Inaktivität gesehen werden, die Menschen mit Vermittlungshemmnissen in die Lage versetzt, überhaupt am stark reglementierten deutschen Arbeitsmarkt teilzunehmen.

Aus dieser Perspektive ist die partielle Deregulierung ein Fortschritt gegenüber der Strategie der siebziger, achtziger und neunziger Jahre, als die Politik erfolglos versuchte, den Arbeitsmarkt über die sozialpolitische Abfederung von Konjunkturzyklen und strukturellem Wandel (also durch die Alimentierung von Passivität) zu stabilisieren. Dies führte zu einem Teufelskreis aus hoher Transferabhängigkeit, geringer Beschäftigungsdynamik und steigenden Abgabenlasten. Die Fortschritte beim Abbau von Inaktivität und Arbeitslosigkeit geben den Reformern insgesamt Recht, wenngleich die Erfolge mit wachsenden Unterschieden innerhalb des Arbeitsmarktes einhergehen. Zu Beginn der Wirtschaftskrise waren in Deutschland so viele Menschen beschäftigt wie nie zuvor, und die Sozialkassen waren gut gefüllt.

Die Krise trifft Deutschland ins Rückgrat

Die Krise trifft vor allem den Exportsektor: die Automobilindustrie, ihre Zulieferer und den Maschinenbau im weiteren Sinne. Damit ist das Rückgrat des deutschen Beschäftigungsmodells in Gefahr, und zwar nicht nur bei flexiblen Arbeitsverhältnissen wie der Zeitarbeit, sondern auch bei bislang stabilen, sozial abgesicherten und gut entlohnten Normalarbeitsverhältnissen. Für diese will die Große Koalition nun einen "Schutzschirm" aufspannen. Damit nehmen sich Politiker im Wahljahr die Lehren der unpopulären Hartz-Reformen zu Herzen und greifen weitgehend auf klassische, das heißt stärker sozialpolitische und damit "sanftere" Medizin zurück. Zu den bereits beschlossenen Maßnahmen zählt neben der bereits im Jahr 2007 verlängerten Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I für Ältere auch die Ausweitung der Kurzarbeit.

Diese kann derzeit bis zu 24 Monate lang genutzt werden und ist für die Arbeitgeber dank der starken Subventionierung unwiderstehlich attraktiv geworden, wobei die Anreize zur Weiterbildung während der Kurzarbeit nur halb ernst gemeint sind. Die Kurzarbeit kommt vor allem auch dem Automobil- und Maschinenbau zugute und passt zu anderen Initiativen wie etwa der "Abwrackprämie" und möglichen direkten staatlichen Beteiligungen an krisengefährdeten Automobilunternehmen.

Doch damit nicht genug. Auf der Agenda steht auch die Verlängerung der Altersteilzeit über das Jahresende 2009 hinaus, obwohl diese noch nie eine "Beschäftigungsbrücke Jung für Alt" war, wie gern behauptet wird. Und schließlich sollen verstärkt Transfergesellschaften zum Einsatz kommen, die es Arbeitgebern in der Krise ermöglichen, ihre Belegschaften für bis zu zwei Jahre über die Arbeitslosenversicherung finanzieren zu lassen, um sie danach wieder zurückholen zu können.

Kurz: Instrumente, die in den vergangenen Jahren kritisch bewertet wurden und im "Giftschrank" der Arbeitsmarktpolitik gelandet waren, kommen in der Krise zu neuen Ehren. Sollten diese Vorhaben tatsächlich beschlossen werden, würde es in der Kombination verschiedener Leistungen wieder möglich, mehrere Jahre einkommensbezogene Transfers zu erhalten. Für ältere Arbeitnehmer würden damit erneut attraktive Brücken in den Vorruhestand gebaut, die seit Ende der neunziger Jahre eigentlich Stück für Stück abgerissen worden waren.

Die Autoindustrie wird schrumpfen

Dies wird auf Dauer aber nicht genügen. Auch wenn die Politik sich derzeit wirkungsvoll als Retter von Unternehmen und Arbeitsplätzen in Szene zu setzen vermag, gilt doch gerade in der gegenwärtigen Situation, dass der Staat die Anzahl der Arbeitsplätze in einer dynamischen Wirtschaft auf mittlere und längere Sicht nicht mittels direkter Intervention oder Subventionierung garantieren kann. In vielen Fällen wird auf Kurzarbeit die Entlassung folgen, weil Insolvenzen oder betriebliche Umstrukturierungen nicht vermieden werden können. Gerade die Automobilindustrie wird über kurz oder lang erheblich schrumpfen, selbst wenn der Staat einzelnen Unternehmen unter die Arme greift. Um es klar zu sagen: Nicht jeder, der derzeit in Kurzarbeit geht, wird wieder auf seinen angestammten Arbeitsplatz zurückkehren; und lange Phasen der Kurzarbeit und des Bezugs von Arbeitslosengeld können den Wiedereinstieg in einen neuen Job sogar noch erschweren.

Zwar ist der Ansatz durchaus verständlich, Maßnahmen der Beschäftigungssicherung auf die exportorientierte Industrie zu konzentrieren, um das Rückgrat des deutschen Beschäftigungsmodells sowie die Kernmitgliedschaft der Gewerkschaften zu sichern. Aber diese Sicherheit lässt sich eben nicht erzwingen, mit noch so großem Mitteleinsatz. Deshalb ergibt es keinen Sinn, die Beschäftigten um jeden Preis in Unternehmen oder Branchen zu halten, die vor Schrumpfungsprozessen stehen.

Die genannten Maßnahmen werden die statistisch gemessene Arbeitslosigkeit im Wahljahr gering halten. Doch der Preis dafür ist hoch: Die Finanzierungsprobleme des Sozialstaates werden sich verschärfen und die Reformzwänge auf mittlere Sicht immer größer werden. Die Folgen einer solchen Politik konnten wir bereits nach der Ölkrise Anfang der siebziger Jahre sowie nach der Wiedervereinigung beobachten: Die teuren sozialpolitischen Programme führen einerseits zu höheren Ausgaben der Sozialversicherungen, andererseits zu weniger Einnahmen, da weniger Menschen am Erwerbsleben teilnehmen. Dadurch steigen die Beiträge (also die Lohnnebenkosten), die Steuern und die Staatsverschuldung. Folglich wird die Politik die Erwartungen, die sie mit den aktuellen Maßnahmen zur langfristigen Beschäftigungssicherung weckt, nicht erfüllen können. Sie spielt vielmehr auf Zeit und verschiebt die Probleme einfach in die Zukunft. Schon bald werden die Wahlgeschenke dem Konsolidierungsdruck zum Opfer fallen.

Der Kapitalismus ist nicht außer Kraft gesetzt

In der Vergangenheit hat Deutschland von einem Kapazitätsaufbau der Exportindustrie profitiert, den importorientierte Nationen wie die Vereinigten Staaten über Verschuldung finanziert haben. Zur Sicherung von Wohlstand und Beschäftigung führt kein Weg an einem Strukturwandel der Wirtschaft und des Arbeitsmarktes vorbei. Wachstumspotenziale bestehen bei personenbezogenen und unternehmensnahen Dienstleistungen, aber auch in neuen, innovativen Feldern der Industrie, etwa im Umweltbereich. Aus dieser Sicht ist die Krise durchaus eine Chance: Sie beschleunigt den Strukturwandel und lässt das produzierende Gewerbe auf einen zukunftsfähigen und innovativen Kern schrumpfen. Aber das bedeutet natürlich auch, dass bislang stabile, hoch bezahlte Arbeitsplätze verschwinden werden.

Will man die Krise als Chance nutzen, helfen die alten Rezepte nicht weiter. Man muss sich von der Vorstellung verabschieden, Arbeitsplätze mit politischen Interventionen sichern zu können. Nein, die Arbeitsplätze werden sich im Wettbewerb bewähren müssen, denn anders als einige Kommentatoren meinen, ist weder der Kapitalismus noch der Marktmechanismus außer Kraft gesetzt - weder jetzt noch in Zukunft. Im Gegenteil setzt der Markt gerade in Krisenzeiten Kreativität frei und kann helfen, neue Tätigkeitsfelder und Arbeitsplätze zu entwickeln.

Mehr denn je muss es darum gehen, Unternehmensgründungen intelligent zu unterstützen. Aber auch Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik spielen eine wichtige Rolle, die weit über den passiven Einkommensersatz hinausweist. Gerade jetzt müssen die Instrumente der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik so eingesetzt werden, dass möglichst viele Menschen auf dem Arbeitsmarkt der Zukunft, der Mobilität und Anpassungsfähigkeit erfordern wird, bestehen können. Vor allem müssen wir uns intensiv um eine breit angelegte Ausbildung der jüngeren Altersgruppen bemühen.

Aber wir brauchen auch für jene Personen eine glaubhafte Strategie, die mitten im Erwerbsleben stehen und deren Arbeitsplatz bedroht ist. Sie müssen fit gemacht werden für neu entstehende Jobs. Natürlich kann nicht jeder Automobilarbeiter zum Altenpfleger oder zum Ingenieur umgeschult werden. Es ist aber sehr wohl realistisch, erwachsene Erwerbspersonen frühzeitig weiter zu qualifizieren und in produktivere Bereiche der Industrie und dynamischere Unternehmen zu vermitteln. Die Wirtschaftskrise sollte also nicht nur Anlass sein, Arbeitsplätze zu sichern, sondern dazu beitragen, Kreativität für neue Tätigkeitsfelder zu stärken und eine Politik der Mobilität zu unterstützen.

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