Am Esspapier hat es nicht gelegen

Das Ergebnis im Südwesten belegt: So weitermachen wie bisher dürfen Sozialdemokraten auf keinen Fall

In den Wahlkampf anderer Leute hineinzugeraten ist so ähnlich wie Weihnachten bei den Nachbarn um die Ecke. Man ist geschmeichelt, zu deren Feier eingeladen worden zu sein – und fühlt sich zugleich doch ein bisschen unwohl. Schließlich geht es um eine Familienangelegenheit, eine intime Begegnung von Menschen, die einander gut kennen und eine lange gemeinsame Geschichte teilen, selbst wenn sie sich in manchen Fällen nicht besonders mögen. Vieles von dem, was sich ereignet, versteht man als Gast von außen nicht so richtig, aber gelegentlich kann man Dinge beobachten, die den Familienmitgliedern entgehen. Ganz in diesem Sinne kommen hier ein paar unwissenschaftliche Beobachtungen, gemacht während einiger gemeinsamer Stunden mit sozialdemokratischen Freunden aus der Bodenseeregion im Landtagswahlkampf von Baden-Württemberg.

Erstens: Negativkampagnen funktionieren. Sie funktionieren selbst dann, wenn sie nicht auf dem fiesen Niveau persönlicher Angriffe praktiziert werden wie in den Vereinigten Staaten. Der amerikanische Schauspieler W. C. Fields hat einmal gesagt, er habe noch nie in seinem ganzen Leben für etwas gestimmt, sondern immer nur gegen Sachen. Im Wahlkampf mit meinen deutschen Freunden von der SPD im tiefen Süden Baden-Württembergs hatte ich das Gefühl, dass es vielen Menschen dort genauso ging wie Fields. Ob Bahnhöfe oder Atomkraft: Die Leute schienen mehr als begierig, ihren Unmut über die Politik von Ministerpräsident Mappus in Stuttgart zum Ausdruck zu bringen. Über ihre Gründe, sich für die Grünen oder für die SPD zu entscheiden, konnten sie mir dagegen nur spärlich Auskunft geben.

Auf den ersten Blick ist das alles merkwürdig. Ich bin vor kurzem erst aus Madrid eingetroffen. Dort ist nicht schwer zu verstehen, warum die regierenden Sozialdemokraten von der PSOE nach aktuellen Umfragen um 16 Prozentpunkte zurückliegen. Eine politische Gleichung, zu deren Variablen wirtschaftliche Stagnation, Haushaltskürzungen und steigende Arbeitslosigkeit – besonders eine skandalöse Jugendarbeitslosigkeit von 43 Prozent – gehören, geht wahlpolitisch nun einmal nicht auf. Demgegenüber liegt Baden-Württemberg mit seinem hohen Wirtschaftswachstum und seiner niedrigen Arbeitslosenrate bekanntlich ganz weit vorn in Europa. „It’s the economy, stupid!“, lautete Bill Clintons berühmte Wahlkampfeinsicht. Was auch immer den „Dummen“ in Baden-Württemberg diesmal wichtig war, die ökonomische Lage gehörte jedenfalls nicht maßgeblich dazu. Klar ist, dass alle Parteien – besonders die SPD – noch hart daran arbeiten müssen, ihre langfristige Wirtschaftsstrategie zu entwickeln. Aber sowohl die SPD als auch die Grünen verdienen Anerkennung dafür, dass sie sich an die Arbeit gemacht haben, ihre wirtschaftspolitische Glaubwürdigkeit bei den Wählern wieder herzustellen. So konnten sie in Baden-Württemberg das Thema Wirtschaft, eigentlich ein „Heimspiel“ für CDU und FDP, neutralisieren und die Regierungsparteien sogar in die Defensive drängen. Das war clevere Politik und ein Schritt in die richtige Richtung.

Zweitens: Man darf nie zweimal denselben Wahlkampf führen und sollte immer offen sein für neue Ideen. Der Einfallsreichtum der Parteien hinsichtlich origineller kleiner Giveaways war beeindruckend. Ich mochte besonders die Düngerstäbchen, die die CDU verteilte, um auf ihre Arbeit für das Wirtschaftswachstum aufmerksam zu machen. Aber der erste Preis geht an die SPD mit ihrem Esspapier nebst dem Slogan „Hungrig auf den Wechsel“. Sehr witzig. Meine zehnjährige Tochter war besonders beeindruckt. Mit ihren Eltern – aber manchmal ohne große Begeisterung – hat sie bereits an Wahlkämpfen für Labour in Großbritannien und die PSOE in Spanien teilgenommen. Das essbare Material der SPD hat in ihrem jungen Gemüt eine bislang nicht vorhandene Begeisterung für Wahlkämpfe geweckt. Dafür bin ich wirklich dankbar.

Die eigenen Wähler identifizieren? Ach, lieber nicht


Noch ein bisschen wichtiger sind allerdings andere Dinge. Ich war überrascht, wie wenig unternommen wurde, um spezifische Wähler zu identifizieren. Ich fragte einen örtlichen Spitzenmann der SPD, ob in seiner Region irgendwelches Klinkenputzen vor Ort betrieben werde. Das habe man diskutiert, erzählte er mir, aber niemand sei von der Idee sehr begeistert gewesen. In Großbritannien ist es traditionell so, dass die Kandidaten und Parteiaktivisten von Haus zu Haus gehen und sich höflich nach den Wahlabsichten der Bewohner erkundigen – ein Prozess, der als „canvassing“ bezeichnet wird. Theoretisch ist es so, dass sich die Wähler von dieser unmittelbaren Aufmerksamkeit seitens einer Partei geschmeichelt fühlen sollen, aber die Praxis sieht zuweilen anders aus. Meine Erfahrung ist, dass es nicht alle Bürger zu schätzen wissen, wenn sie von einem völlig Fremden gefragt werden, wie sie abstimmen werden, während sie gerade dabei sind, das Abendessen vorzubereiten, ihre Kinder ins Bett zu bringen oder ihre Lieblingssoap im Fernsehen anzugucken. Manchmal glaube ich, es wäre weniger aufdringlich, Wähler zu befragen, wann sie zuletzt Sex hatten.

Trotzdem: Diese Methode sowie umfangreiche telefonische Wähleransprache machen es möglich, eine viel klarere Vorstellung vom Profil der Wählerschaft zu gewinnen. Besonders wichtig ist es, Wechselwählern auf die Spur zu kommen. Mit denen zu reden, die sowieso immer oder sowieso nie für die Partei stimmen, ist eine Vergeudung von knappen Ressourcen. Deshalb versucht die Labour Party, vor allem diejenigen Wähler zu identifizieren, die möglicherweise für uns stimmen werden, aber auf die mit größerer Überzeugungskraft noch ganz persönlich zugegangen werden muss. Mit beliebigen Wählern auf sonnigen Marktplätzen ins Gespräch zu kommen ist ein notwendiger und unterhaltsamer Teil jedes Wahlkampfes, aber es schien mir nicht unbedingt die beste Methode zu sein, den Kontakt zu denjenigen Menschen zu suchen, die die SPD in Baden-Württemberg am dringendsten ansprechen musste.

Reden, worüber die Leute reden

Drittens bleibt es dabei: „All politics is local.“ Baden-Württemberg hat die alte Einsicht von Tip O’Neill bestätigt, dass Politik immer vor Ort anfängt und aufhört – und dass die Parteien den Wählern nie erklären dürfen, über welche Themen sie gerade debattieren sollten. Die Ereignisse im Nahen Osten sind von tiefgreifender politischer Bedeutung. Die Revolutionen und Aufstände vom Persischen Golf bis zur afrikanischen Atlantikküste werden länger währende geopolitische Auswirkungen haben als die Euro-Krise oder das Erdbeben in Japan. Aber auf den Marktplätzen von Friedrichshafen oder Konstanz machen sich nur wenige der Passanten Sorgen über Deutschlands Rolle – oder Nicht-Rolle – bei der Bewältigung der neuen internationalen Lage. „Libyen? Hat mir gegenüber nie jemand erwähnt“, sagt mir ein SPD-Stadtrat. Also redet die SPD auch nicht darüber. Sehr vernünftig.

Mich erinnerte die Sache an eine Labour-Kandidatin in meinem Heimatbezirk in der Londoner Innenstadt, der konkrete Wählersorgen weniger wichtig waren, als sie in den achtziger Jahren Wahlkampf führte. Zum zentralen Bestandteil ihres Wahlprogramms machte sie den Abzug der amerikanischen Cruise Missiles aus Großbritannien. Erkältet und müde begann sie ihr Canvassing in der obersten Etage eines großen Blocks von Sozialwohnungen. Als eine Frau die Tür öffnete, erklärte ihr die Kandidatin, sie stehe für die Sache des Friedens und der völligen atomaren Abrüstung. „Sind sie mit dem Fahrstuhl raufgekommen?“, unterbrach sie die Frau. Die Kandidatin bejahte. „Und hat es darin nach Pisse gerochen?“, fragte die Frau. Auch dies bejahte die Kandidatin. „Was werden sie dann also, wenn Sie gewählt werden, dagegen tun, dass Leute in die Fahrstühle pinkeln?” Die Kandidatin zögerte und sagte dann, sie fürchte, dagegen nicht viel ausrichten zu können. „Na ja”, erwiderte die Wählerin, „wenn sie nicht mal Leute davon abhalten können, in einen Fahrstuhl zu pinkeln, wieso glauben sie dann, sie könnten Präsident Reagan dazu bringen, dass er seine Marschflugkörper abzieht?“

Viertens schließlich: Welche Schlüsse können Parteien der linken Mitte in Europa aus Wahlkampf und Wahlergebnis in Baden-Württemberg ziehen? Von Stockholm bis Sevilla ist der Zustand der sozialdemokratischen Parteien desolat. Die Katastrophe der SPD bei der Bundestagswahl 2009 bedarf keines weiteren Kommentars von meiner Seite. Das Labour-Ergebnis im vorigen Jahr war fast unser schlechtestes seit einem Jahrhundert. Nicht anders in Schweden, wo die Sozialdemokraten ihr niedrigstes Ergebnis seit 1911 einfuhren. In Holland fiel die PvdA aus der Regierung und in die Opposition. In Spanien glauben nur wenige, dass sich die PSOE über die Wahlen von 2012 hinaus an der Macht halten wird. Alle diese Länder haben große sozialdemokratische Traditionen, und unsere Parteien haben einen immensen Beitrag dazu geleistet, die gegenwärtige politische Landschaft zu erschaffen. Überall waren wir maßgeblich daran beteiligt, Schritt für Schritt eine kostenlose Gesundheitsversorgung, Bildung für alle und universelle Sozialleistungen durchzusetzen. Und überall verlieren wir jetzt Wahlen.

In einer für ihn kennzeichnend nachdenklichen Rede (siehe S. 48 dieser Ausgabe) hat David Miliband, der ehemalige britische Außenminister (und unterlegene Kandidat im Rennen um den Vorsitz der Labour Party) drei zentrale Gruppen von Wählern identifiziert, die sich in Europa von der sozialdemokratischen Politik entfremdet haben – oder von ihr entfremdet wurden. Angehörige der klassischen Arbeiterschicht wandern auf der Suche nach „Identitätspolitik“ zunehmend zu linken und rechten Parteien ab. Wähler mit mittleren Einkommen sehen ihre Lebensweise bedroht durch stagnierende Einkommen – und wollen durch sozialdemokratische Steuer- und Abgabenpolitik nicht noch weiter in die Enge getrieben werden. Junge, gut gebildete Wähler wiederum lehnen die üblichen Kompromisse der herkömmlichen Politik ab und wenden sich alternativen und „idealistischeren“ Parteien wie den Grünen zu.

Die sozialdemokratischen Wahlergebnisse in Baden-Württemberg belegen, dass in dieser Analyse Wahrheiten liegen, die auch das gute Hamburger Ergebnis der SPD nicht überdecken kann. Wir Sozialdemokraten können nicht einfach weiter das tun, was wir immer getan haben – und im Übrigen auf das Beste hoffen. Jedenfalls dann nicht, wenn wir noch irgendwo als regierungsfähige Partei ernst genommen werden wollen. «

Aus dem Englischen von Tobias Dürr

zurück zur Ausgabe