Amerikas Staatsstreich
Über die amerikanische Krise ist vieles bereits geschrieben worden. Angeführt werden: die Selbstzufriedenheit und das Versagen unserer Eliten; die durch keinerlei Kenntnis getrübte Wut des einfachen Volkes; die intellektuelle und politische Hilflosigkeit der meisten anderen Amerikaner; das Fehlen einer Verbindung zwischen kritischer Intelligenz und sozialen Bewegungen (welche früher dafür sorgte, dass Ideen öffentliche Wirksamkeit erlangen konnten); die schiere Kaputtheit unserer Öffentlichkeit selbst sowie die daraus folgende Atomisierung unserer Gesellschaft.
Diese Diagnosen sind korrekt. Was allerdings gelegentlich übersehen wird, ist der entscheidende Dreh- und Angelpunkt dieser Zustände: Die amerikanische Demokratie ist einem schleichenden Staatsstreich zum Opfer gefallen. Dessen Akteure besetzen die höchsten Posten im Wirtschafts- und Finanzsektor. Ihre treuen Diener leiten unsere Universitäten und Medien sowie einen Großteil unseres Kulturlebens. Sie monopolisieren fachliches, wissenschaftliches und technisches Wissen. Ihre willigen Anhänger findet man überall, besonders unter jenen, die sich ignoriert oder missachtet fühlen und vom verzweifelten Bedürfnis nach Wiedergutmachung getrieben sind. Unfähig, ihre Angelegenheiten in die eigenen Hände zu nehmen, weisen sie zugleich lautstark die These zurück, sie ließen sich dominieren und ausbeuten. Für ihre Feinde halten sie alle gesellschaftlichen Gruppierungen, die sich für das Gemeinwohl engagieren (dessen Existenz sie prinzipiell leugnen). Ihre Feindseligkeit gegenüber „dem Staat“ ist ebenso groß wie ihr Mangel an Wissen darüber, wie dieser Staat eigentlich genau funktioniert und wie die Geschichte ihrer eigenen Nation verlaufen ist.
Natürlich gibt es große Schnittmengen zwischen denjenigen, die diesen Staatsstreich einfach hinnehmen, und den vielen Menschen, die die Re-Christianisierung des Landes anstreben, die Abtreibung und Homosexualität für sündhafte Verbrechen halten und auf Einwanderung mit Fremdenfeindlichkeit reagieren. Diese Gruppe besteht aus den Weißen, hauptsächlich im Süden und Westen sowie in kleineren Städten, die über die Wahl eines afroamerikanischen Präsidenten geschockt waren und viele der Unwahrheiten über Obama geglaubt haben (und immer noch glauben) – von seiner angeblichen Geburt in Kenia bis hin zu seinem vermeintlich muslimischen Glauben.
Für Schlammschlachten sind sich die Putschisten zu fein
Die Initiatoren des Staatsstreiches sind sich zwar üblicherweise zu fein für solche Schlammschlachten, haben aber keinerlei Skrupel, diese zugunsten ihrer Hauptziele zu instrumentalisieren. Sie wollen die Fähigkeit des Staates schwächen, Regeln zu setzen und Wohlstand umzuverteilen. Sie wollen den Sozialstaat weitgehend abschaffen, privatisieren oder zumindest eingrenzen. Es geht um das öffentliche Rentensystem, die öffentliche Krankenversicherung für Senioren sowie um vielfältige öffentliche Leistungen auf den Gebieten der Bildung, Arbeit, Gesundheit und Einkommenssicherung. Denselben systematischen Widerstand dieser Leute wecken auch die Perspektiven einer umfassenden Umweltgesetzgebung und der Wiederherstellung einer intakten öffentlichen Infrastruktur, die eine ökologisch nachhaltigere Zukunft ermöglichen könnte. Die Gewerkschaften mittels rechtlicher Hindernisse zu schwächen, ist ein weiterer Bestandteil ihres Programms.
Die Bemühungen des politisch organisierten Kapitals, das politische System der Vereinigten Staaten unter seine Kontrolle zu bringen, sind so alt wie die amerikanische Republik selbst. Das schloss allerdings bei vielen Gelegenheiten und in jeder Epoche unserer Geschichte keineswegs Versuche aus, sich den Staat für die eigenen Zwecke zunutze zu machen. Was die gegenwärtige Situation davon unterscheidet, ist die ausdrückliche und zielgerichtete Propagierung einer Ideologie, die den Markt dem Staate überordnet, die versucht, staatliche Aufgaben dem Privatsektor zu übertragen, und die es nicht zulässt, dass die unmittelbaren Interessen des Kapitals von Erwägungen eines breiteren nationalen Interesses (wie zum Beispiel dem Handel mit anderen Staaten) beeinträchtigt werden. Die Arbeit tausender Wirtschaftsexperten, die Vereinfachungen zahlreicher Kommentatoren und Journalisten, die Unter-wanderung und Manipulation des
Bildungssystems, und vor allem die Verbannung der letzten Reste öffentlichen Diskurses über ernsthafte Alternativen aus den Medien – all das gipfelte in der kultischen Besessenheit, mit der sich die Republikaner im Kongress die Überzeugung aneigneten, das Haushaltsdefizit bedrohe die Existenz des Landes.
Die Gegenmacht einer selbstbewussten Gesellschaft? Das war einmal
1952 erschien John Kenneth Galbraiths erstes Meisterwerk Amerikanischer Kapitalismus: Das Konzept der Gegenmacht. Galbraith argumentierte, das grenzenlose Profitstreben und die für den Kapitalismus kennzeichnende „short term blindness“ seien durch den Staat korrigiert worden – unterstützt von den „Gegenmächten“ einer Bürgerschaft, die sich ihrer eigenen Interessen bewusst sei, von öffentlichen Interessengruppen, Gewerkschaften und einem Kongress, der noch weitgehende politische Unabhängigkeit besaß. 1961 bat Galbraith den Präsidenten Kennedy, er möge ihn lieber nicht zum Vorsitzenden des Council of Economic Advisers machen: Er, Galbraith, wäre eine allzu sichtbare Zielscheibe gewesen. In den folgenden Jahren erschien Galbraiths Sichtweise noch einleuchtend. Allmählich aber wurden die Gegenmächte schwächer, auf die Galbraith zur Festigung des New Deal gezählt hatte. Und schwächer wurden auch die gebildeten und weitsichtigen kapitalistischen Eliten, die bereit waren, einen Gesellschaftsvertrag überhaupt zu akzeptieren.
Der Geist des neuen Kapitalismus erfasste auch die Demokratische Partei
Die Gründe für diesen doppelten Niedergang bleiben unter Historikern umstritten. Eine wichtige Rolle spielten die materiellen Kosten und moralischen Ressourcen, die der letztlich zum Selbstzweck mutierte Kalte Krieg in Anspruch nahm. Was es erschwerte, Programme zur Wiederherstellung von sozialem Zusammenhalt durchzusetzen, war nicht zuletzt die spezifische ethnische Zusammensetzung der armen Bevölkerung in Amerika, selbst wenn diese in der Mehrheit aus Weißen (und oftmals Südstaaten-Weißen) bestand. Gerade der Wohlstand, den die Nachkriegsordnung ermöglichte, untergrub nach und nach den Kampfgeist der gewerkschaftlich organisierten Arbeiterschaft – die dann wiederum vergleichsweise wehrlos dastand, als ausländische Industrien als globale Wettbewerber auf den Plan traten und umgekehrt amerikanisches Kapital die Flucht ins Ausland antrat.
Die Auswirkungen dieser strukturellen Veränderungen verstärkten sich weiter, als das Paradigma des Finanzkapitals – also die Plünderung und Zerstörung produktiver Firmen, die Welt der Derivate, Hedgefonds und obskuren Spekulationen – quantitativ und qualitativ die Vorherrschaft errang. Diese Art von Kapitalismus verlangte in besonderem Maße, dass der Staat seinen Einfluss fahren ließ. Und das war nur dadurch zu erreichen, dass man Stück für Stück den Staat selbst aufkaufte. So ergriff dieser neue Kapitalismus zunehmend Besitz von der Demokratischen Partei und zwang die Erben des New Deal innerhalb der Partei in die Defensive. Barack Obama mobilisierte im Wahljahr 2008 Millionen Afro-Amerikaner, Latinos, Junge und Alte, Frauen und die Überbleibsel der Gewerkschaftsbewegung. Aber er zeigte sich nicht weniger beflissen gegenüber den Vertretern des neuen Kapitalismus. Diese brachten zwar deutlich weniger Stimmen auf die Waage – aber viel mehr Geld.
Die Konjunkturprogramme, Arbeitsmarktinitiativen und Vorschläge des Weißen Hauses zum Staatsumbau fallen seit 2009 und bis in die Gegenwart hinein deshalb so außerordentlich mickrig aus, weil sie ein Spiegelbild der tatsächlichen politischen Kräfteverhältnisse in Amerika sind. Die Erklärung dafür liegt – abgesehen vom Radau der Tea Party und der Schuldenobergrenze – auch darin, dass eine fünfte Kolonne von ideologischen und politischen Gewährsleuten des neuen Kapitalismus das Weiße Haus selbst in Besitz genommen hat. So gesehen ist Präsident Obamas außerordentliche Kompromissbereitschaft nicht als taktisches Zugeständnis an die neuen Kräfteverhältnisse der amerikanischen Politik zu verstehen, sondern als – vorhersehbarer – Bestandteil derselben. «
Aus dem Englischen von Johanna Lutz. Wir danken der spanischen Zeitung „El País“ für die Genehmigung zum Abdruck dieses Textes. © El País/Norman Birnbaum