Neue Brücken gesucht
Progressives Denken ist eine breite und komplexe Strömung im Leben der gesamten Vereinigten Staaten, das die großen sozialen Reformen des vergangenen Jahrhunderts geschaffen hat, beginnend mit Theodore Roosevelt und Woodrow Wilson und gipfelnd im New Deal Franklin Delano Roosevelts und den Great-Society-Projekten Lyndon Johnsons. Vieles verdankt der amerikanische Progressivism zweifellos der weltlichen Fortschrittstheologie, er enthält aber auch wichtige Elemente des sozialen Katholizismus, protestantischer Vorstellungen von gesellschaftlicher Gerechtigkeit sowie des jüdischen Messianismus und der Gerechtigkeitsideen des Alten Testaments.
Seit den ersten Anfängen der Republik brachten Europäer ihre Vision einer selbstverwalteten Gemeinschaft Gleicher, in der die Arbeiterschaft frei war, in die Neue Welt mit. Thomas Paine und nach ihm Robert Owen waren unter den Ersten, denen viele folgten, die in der Alten Welt an den Revolutionen von 1848 teilgenommen hatten. Als Abraham Lincoln ins Weiße Haus einzog, fand sich vor allem ein ganzes Kontingent Deutscher unter seinen Anhängern, und es waren auch Deutsche, die sich im Bürgerkrieg und in den nachfolgenden Kämpfen um die völlige Gleichstellung der ehemaligen Sklaven hervortaten. Danach kamen mit dem großen Einwanderungsstrom zwischen Bürgerkrieg und Erstem Weltkrieg keltische und englische Gewerkschafter, deutsche Sozialdemokraten, Angehörige des jüdischen Bunds sowie Griechen, Iren, Italiener und Slawen aus der österreichisch-ungarischen Monarchie, deren politische Erziehung geprägt war von dem gewaltigen Gegensatz zwischen der amerikanischen Freiheitsideologie und den brutalen Anforderungen des neuen Industriekapitalismus.
Marx sagte den Sozialismus in Amerika voraus
Unter den Einwanderern fanden sich auch Angehörige jenes Segments der qualifizierten europäischen Arbeiterklasse, die sich selbständig eine gewisse Bildung angeeignet hatten. Sie stießen auf die geistige Grundhaltung der Bewegung zur Sklavenbefreiung, die Tradition der Frauenrechtsbewegung und ein frühes Interesse an Fragen der Umwelt und Gesundheit sowie an einem für alle gleich zugänglichen Schulsystem. Viele gebildete Amerikaner sahen in den Einwanderern tatsächliche oder potenzielle Verbündete im Kampf um die Verteidigung und Wiederherstellung der Grundwerte der Republik, ein Kampf, den sie mit der neuen kapitalistische Klasse führten, der staatsbürgerliches Denken ebenso fremd war wie jedweder moralische Skrupel.
Die beiden eng miteinander verwandten Themen der moralischen Integration der neuen Arbeiterklasse und der Entwicklung eines neuen staatsbürgerlichen Ethos verschmolzen in einer breiten Koalition der Reform mit traditionelleren amerikanischen Vorstellungen einer agrarischen Demokratie. Es war die Gewalttätigkeit der Arbeitskämpfe des ausgehenden 19. Jahrhunderts, die den reflektierteren Angehörigen der älteren Mittel- und sogar der Oberschicht Anlass war, den Verfechtern eines amerikanischen Sozialismus wenn schon nicht mit uneingeschränkter Sympathie, so doch mit Verständnis zu begegnen. Gegen Ende seines Lebens meinte selbst Karl Marx, der im Unterschied zu Friedrich Engels die Vereinigten Staaten nie besucht hatte, dass die vom Dogmatismus der Europäer freien Amerikaner schneller zum Sozialismus voranschreiten könnten. Inzwischen waren durch wissenschaftliche, journalistische und politische Reisende europäische Ideen einer Reformierung der Gesellschaft mit dem Staat als regulierender Kraft und wichtiger Akteur der Umverteilung wieder nach Amerika gelangt.
Die neuen ländlichen und städtischen Bewegungen schlossen eine Eingliederung der meist besitzlosen und verarmten Afroamerikaner des Südens aus. Dort lebten die meisten Afroamerikaner bis zum Einsetzen der Migration nach Norden im 20. Jahrhundert. Später tat der New Deal Franklin D. Roosevelts, der von den Wählerstimmen der Rassensegregation praktizierenden Südstaaten und deren Unterstützung im Kongress abhing, nichts unmittelbar für die Afroamerikaner, wenngleich diese in gewissem Ausmaß von seinem Wirtschaftsprogramm profitierten. Sowohl Theodore Roosevelt als auch Woodrow Wilson, ein aus Virginia stammender Rassist, hatten inzwischen eine amerikanische Version des Sozialimperialismus verkündet. Diese stieß aller Wahrscheinlichkeit nach auch im Umfeld der britischen Labour Party auf die Zustimmung der Fabians, die sich diesbezüglich selbst kaum Zurückhaltung auferlegten. Im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts sollten Imperialismus und Rassismus sich schließlich als unüberwindliche Schranken für die Durchsetzung gesellschaftlicher Reformen in den USA erweisen.
Die Akteure des New Deal waren von Europa beeinflusst
Die Frage der Teilnahme der USA am Ersten Weltkrieg spaltete die soziale Reformbewegung – eine Kluft, die dann durch die unterschiedliche Einschätzung der sowjetischen Revolution und des Anspruchs des Kommunismus auf die internationale Führungsrolle noch größer wurde. Die vorgebliche Bedrohung durch den Kommunismus in den USA entsprach der Logik des Umgangs mit Kriegsdienstverweigerern und wurde von den Behörden mit Unterstützung der am Status quo interessierten Kräfte in beiden Parteien dazu benutzt, einen großen Teil der Bewegung für ernsthafte gesellschaftliche Reformen nicht nur zu spalten, sondern zu zerstören. Dennoch waren die zwanziger Jahre in Staaten wie Kalifornien, Massachusetts, New York und Wisconsin eine Zeit des politischen und gesellschaftlichen Experimentierens. Gewerkschaften, Bürgerrechtsgruppen und eine ständig größer werdende Schicht von Staatsbeamten erprobten, was in den dreißiger Jahren zum New Deal werden sollte.
Zahlreiche Initiatoren und Akteure des New Deal hatten sich mehr oder weniger lang in Europa aufgehalten. Der Faschismus hatte inzwischen viele dem Kapitalismus dezidiert feindlich gegenüberstehende Europäer nach Amerika vertrieben, wo sie in der politischen Erziehung einer für die Ideen der radikalen gesellschaftlichen Umgestaltung sehr aufgeschlossenen Generation eine wichtige Rolle spielten. Der New Deal war ein Bündnis zwischen den Klassen, aber auch zwischen gegensätzlichen ideologischen Strängen, von der Amerikanischen Kommunistischen Partei bis zum Sozialkatholizismus. Der Widerstand gegen die Einrichtung eines amerikanischen Wohlfahrtsstaats war stark (John Kenneth Galbraith durfte 1938 nicht an der Fakultät der Harvard University bleiben, weil er Keynesianer war). Die betreffende nationale Politik war jedoch Ergebnis einer umfassenden kommunalen und lokalen Mobilisierung. Heute würde sich kein Politiker einer klassenpolitischen Terminologie in dem Eifer bedienen, wie das Franklin D. Roosevelt tat.
Der New Deal hatte Modellfunktion für all jene, die den gesellschaftlichen Wiederaufbau Westeuropas nach dem Krieg planten. Das Projekt war 1938 zum Erliegen gekommen, als Roosevelt an der Reformierung des Obersten Gerichtshofs scheiterte und es ihm nicht gelang, die reaktionärsten demokratischen Gesetzgeber aus dem Süden zu schlagen (so wie seine Kürzung der öffentlichen Investitionen die wirtschaftliche Erholung abwürgte). So war die schließlich erreichte Vollbeschäftigung vor allem eine Folge der enormen Investitionen in die Rüstungsproduktion nach dem Kriegseintritt der Nation, der es den New Deal-Technokraten auch erlaubte, eine Planwirtschaft zu entwickeln – in Zusammenarbeit mit Finanz und Industrie. Viele dieser Technokraten sollten später nach Westeuropa gehen, um dort den Marshall-Plan in die Tat umzusetzen – nun gemeinsam mit amerikanischen Diplomaten und mit Geheimdienstagenten, deren Hauptaufgabe es war, die Kommunisten aus der europäischen Politik auszuschließen.
Das Modell des New Deal wurde von der Politökonomie der Nachkriegszeit abgelöst, die von 1945 bis 1970 bestimmend blieb. Ihr herausragendes und effektivstes Element war die Stärke der amerikanischen Gewerkschaften, denen damals mehr als dreißig Prozent der Arbeiterschaft angehörten (heute ist dieser Anteil um zwei Drittel gesunken). In streitiger Zusammenarbeit mit dem Kapital setzten die Gewerkschaften hohe Löhne und Vergünstigungen für ihre Mitglieder durch, die für den Rest der Wirtschaft den Standard bestimmten. Sie hatten auch entscheidenden Einfluss auf die Wirtschafts- und Sozialpolitik der demokratischen Präsidenten Truman, Kennedy und Johnson, den Republikanern Eisenhower und Nixon rangen sie im Ausgleich für ihre Zusammenarbeit große Zugeständnisse ab. Nixons Innenpolitik wies tatsächlich erhebliche Elemente des New Deal auf, unter anderem ein – eher schlecht als recht als Steuerfreibetrag getarntes – garantiertes Jahreseinkommen.
Es waren für Amerika Jahre einer starken, Kriegsführung und Wohlfahrtsstaat verbindenden Zentralregierung. Demokraten und ebenso die Gewerkschaften gingen in ihrer Wahl europäischer Verbündeter ökumenisch vor und arbeiteten mit Sozialisten wie sozialen Christen auf jede erdenkliche Weise zusammen. Bedingung dafür war die Anerkennung der Vorherrschaft der USA auf dem Felde der internationalen Wirtschaft und in der Nato sowie des Dollars als Reservewährung. Dem Bündnis zur Verteidigung der Freiheit gegen den Sowjettotalitarismus gehörten auch das faschistische Portugal und die autoritäre Türkei an; Francos Spanien war seit der Präsidentschaft Eisenhowers De-facto-Mitglied.
Die britische Labour Party war wie immer gespalten
Die wichtigste frühe Alternative zur Vorherrschaft der Vereinigten Staaten boten keineswegs die eingesessenen Parteien der Linken, sondern Charles de Gaulle in Frankreich und der Vatikan mit Johannes XXIII., der sich um eine Öffnung des sowjetischen Blocks bemühte. Dem folgte bald die mit beträchtlicher Unterstützung Bruno Kreiskys und der österreichischen Sozialdemokratie von Willy Brandt begründete Ostpolitik. Ihr Erfolg rechtfertigte schließlich trotz der Skepsis, mit der Nixon und Kissinger die deutsche Initiative akzeptiert hatten, die umfassendere Politik der Koexistenz, die für die Beziehungen zwischen den Supermächten in den letzten beiden Jahrzehnten des Kalten Kriegs bestimmend war.
Die Ausrichtung der anderen europäischen sozialistischen und sozialdemokratischen Gruppierungen war in diesen Jahren alles andere als einheitlich. Die britische Labour Party war wie immer gespalten in ein nostalgisches, vom alten Weltreich träumendes und die Allianz mit den Vereinigten Staaten favorisierendes Lager und eine Gruppierung, die eine britische Variante des Gaullismus suchte. Als in Frankreich François Mitterrand an die Macht kommen wollte, kaschierte er seinen resignierten Atlantizismus mit einer Rhetorik über die Einzigartigkeit Frankreichs. Die wirklich soziale demokratische Gruppierung in Italien war die der Kommunistischen Partei, die sich in ihrer Verteidigung der Besonderheit Europas dem Vatikan verbunden wusste. Demgegenüber setzte der Sozialdemokrat Bettino Craxi in den Verhandlungen über seinen Amtsantritt mit Washington auf Beschwörungen seiner Loyalität.
Diese Spaltungen entfalteten sich im größeren Zusammenhang der Trennlinie innerhalb der Vereinigten Staaten selbst. Sie beruhte auf dem inneren Konflikt um den Krieg in Vietnam, der sich vom Genfer Friedensabkommen 1954 über Eisenhowers Verhinderung der Wahlen in Vietnam bis zum fluchtartigen Abzug der amerikanischen Streitkräfte aus dem Land im Jahr 1975 erstreckte (inzwischen kehren Amerikaner als militärische Verbündete gegen China zurück). Die Auseinandersetzungen um diesen Krieg gestalteten sich umso heftiger, als er sich nicht auf die Frage des US-Imperiums allein beschränkte. Der Konflikt ging weit darüber hinaus. Er ging um die Selbstfindung und die Identität der Nation. Er umfasste alle Fragen der Autorität, Kultur und Politik, die von den sozialen Bewegungen in den späten fünfziger und frühen sechziger Jahren aufgeworfen worden waren: die afroamerikanische Mobilisierung für Rassengleichheit, die Forderung der Frauen nach wirtschaftlicher Gleichstellung, das Eintreten junger Menschen für den Vorrang dessen, was Freud als „Lustprinzip“ bezeichnet hatte, sowie die allgemeine Kritik an der repressiven Verblödung durch die Massenkultur.
Die Proponenten dieser Bewegungen, die jüngeren und älteren intellektuellen und politischen Außenseiter aus den Tagen des New Deal, definierten natürlich den korporativen Kapitalismus als Gegner. Sie brandmarkten allerdings auch den „korporativen Liberalismus“, den Post-New-Deal-Kompromiss des Kriegsführungs-Wohlfahrtsstaats mit dem Kapitalismus und dessen karrieristischen Profiteuren. Europäische Studenten kehrten nach ihrem Studienaufenthalt in den USA in ihre Herkunftsländer zurück, um dort die Rhetorik und Strategie der Erneuerung des demokratischen Protests in den sechziger Jahren in einer ganz anderen Form der Demonstration atlantischer Solidarität zu verkünden. Der Protest der französischen Studenten im Jahr 1968 war allerdings nicht unmittelbar von amerikanischen Vorbildern geprägt, sondern hatte seine Gründe vor Ort, auch in der Bewegung gegen den Krieg in Algerien in den frühen sechziger Jahren. Der Motor der sich Mitte der sechziger Jahre formierenden deutschen Protestbewegung wiederum lag in der kritischen Auseinandersetzung mit der Generation der Eltern und Großeltern. Dennoch war dieser neue transatlantische Brückenschlag der Bewegungen von ganz anderer Art als die offiziellen Verbindungen der Parteien und Politiker.
Amerika und der neue Antikapitalismus
1956 legte der britische Labour-Abgeordnete Anthony Crosland sein äußerst einflussreiches Buch The Future of Socialism vor. Crosland sah die „Zukunft des Sozialismus“ im Aufbau eines zivilisierten und der Umverteilung verschriebenen beziehungsweise gezügelten Kapitalismus. Zwei Jahre danach erschien John Kenneth Galbraiths The Affluent Society. Diese „Gesellschaft im Überfluss“ zeichnete er als ätzendes Porträt des auf hohen Konsum ausgerichteten Amerika. Es stand in scharfem Gegensatz zu Croslands zurückhaltendem, aber entschiedenen Lob des amerikanischen Modells. Galbraith war ein amerikanischer Häretiker. Seine Bücher wurden in Europa weithin gelesen, wie auch, wenn auch in geringerem Ausmaß, die Werke von Michael Harrington, vor allem The Other America, und C. Wright Mills. Ihnen schloss sich ein Europäer mit einer hämischen Deutung seiner amerikanischen Erfahrung an: Herbert Marcuse, der das kapitalistische Europa für nicht wesentlich besser erachtete. Auf verschiedene Weise und mit oft ganz eigenen, idiosynkratischen Schwerpunkten ging der neue Antikapitalismus mit einer umfassenden Kritik der kapitalistischen Kultur einher.
Zehn Jahre nach den Turbulenzen der sechziger Jahre stellte eine strukturelle Krise des westlichen Modells eines Wohlfahrtskapitalismus den von den Erben des New Deal sowie den europäischen sozialdemokratischen und sozialistischen Parteien verwalteten Klassenkompromiss in Frage. Thatcherismus und Reaganismus kamen ins Amt, und 1982 brach Helmut Kohl zu seinem langen Marsch auf, um ein und dieselbe Stelle 16 Jahre lang zu behaupten. Mitterrand war von 1981 an 14 Jahre lang an der Macht, es würde jedoch der Nachweis schwer fallen, dass er ein verändertes Frankreich zurückgelassen habe. Er verwaltete den französischen Nachkriegskompromiss – nicht mehr und nicht weniger. Felipe Gonzáles und die spanischen Sozialisten regierten von 1982 bis 1998. Sie konzentrierten sich auf die Europäisierung des Landes, setzten dem falangistischen Erbe ein Ende und machten die öffentliche Kultur Spaniens um vieles demokratischer und offener. Die Demokraten in den USA und die Parteien der europäischen Linken zeigten sich zur Unterstützung bereit, als die konservativen Regime, mit denen sie konfrontiert waren, erkennen ließen, dass sie vieles belassen würden, wie es war. In der Tat tastete Ronald Reagan das amerikanische Sozialversicherungssystem ebenso wenig an wie Margaret Thatcher das britische Krankenversicherungswesen. Sie waren jedoch – aufgrund innerer und äußerer Zwänge – nicht imstande, intellektuell und für die Wähler überzeugende wirtschaftliche Alternativen zu entwickeln.
Die Verwüstung des industriellen Kernlandes
In den USA wurde das industrielle Kernland von einer schleichenden Deindustrialisierung verwüstet. Die asiatische und vor allem die japanische Konkurrenz ließen den Absatzmarkt für amerikanische Produkte schrumpfen, gut bezahlte Arbeitskräfte in gewerkschaftlich organisierten Fabriken verloren ihre Anstellung, während Innovationen im Finanzsektor und Technologiebereich sowie im Dienstleistungsgewerbe allgemein nicht ausreichten, eine florierende Alternative zu schaffen. Dazu kamen schwerwiegende soziale Konflikte, welche die Demokraten die Treue genau jenes gesellschaftlichen Blocks kostete, den sie sich zu verteidigen bemühten: den der weißen Arbeiterklasse.
Die Vereinigten Staaten mussten mit zwei Arten von Migrationswellen fertig werden. Im Land setzte sich der Zustrom von Afroamerikanern aus dem Süden fort, was den Rassismus im Norden schürte. Von 1968 an hatten die Demokraten im Süden weiße Wähler verloren, nachdem die Partei sich auf völlig honorige Weise für die Civil-Rights-Gesetzgebung eingesetzt hatte. Die Entrüstung darüber innerhalb der weißen Bevölkerung kannte keine regionalen Grenzen. Die Wahl Jimmy Carters, des Gouverneurs von Georgia, zum Präsidenten im Jahr 1976 war ein einmaliges, unwiederholbares Ereignis. Als die USA von wirtschaftlichen Turbulenzen in Form steigender Inflation und Arbeitslosigkeit heimgesucht wurden, verlor Carter die Unterstützung seiner ehemaligen Wählerschaft. Gleichzeitig kamen auch, in der zweiten Migrationswelle, neue Einwanderer ins Land, nicht aus Europa, sondern aus Mittel- und Südamerika, Afrika und Asien. Innerhalb der weißen Arbeiterklasse vereinigte sich Xenophobie mit Rassismus, eine Entwicklung, in deren Folge die Vermittlung der Ideen eines demokratischen Klassenkampfes noch schwieriger war. Ab 1980 hatte die Partei der Demokraten innerhalb der weißen Schichten mit niedrigem Einkommen die Mehrheit fast vollständig verloren, vor allem unter den Männern.
Die politische Balance hing auch vom Einfluss anderer Faktoren ab: beispielsweise von der weit verbreiteten männlichen Ablehnung der Frauenrechtsbewegung, ebenso von der Mobilisierung fundamentalistischer Protestanten (Biblizisten) und konservativer Katholiken. Diese stellten sich gegen das Erbe des Zweiten Vatikanischen Konzils, um „traditionelle Werte“ zu verteidigen, was sie als Absage an die Trennung von Kirche und Staat definierten, als Ablehnung systematischer naturwissenschaftlicher Methoden des Unterrichts in öffentlichen Schulen, besonders in Biologie (was oft einhergeht mit einer höhnischen Zurückweisung von Warnungen vor der globalen Erwärmung), und als energische Einschränkung der Entscheidungsfreiheit von Frauen, was Abtreibung und teils sogar Empfängnisverhütung betraf. Homosexualität wurde mit fast mittelalterlichen Strafen geahndet. Für manche sozialen Gruppen – vor allem, aber nicht nur im Süden – waren diese Fragen entscheidend. Darüber hinaus waren sie ihnen wichtiger als die – der Wahrheit entsprechenden – Klagen der Demokraten, dass diejenigen, für deren wirtschaftliche Interessen sie sich einsetzten, also die sozial Schwachen, bei Wahlen gegen sie stimmten.
Die Traditionen des New Deal gerieten auch bei den Demokraten in die Defensive
Dieses Argument verlor jedoch zusehends an Glaubwürdigkeit. Teile der Demokratischen Partei im Repräsentantenhaus und im Senat, auf Gouverneursposten sowie in den Parlamenten der einzelnen Bundesstaaten akzeptierten und predigten immer häufiger die wirtschaftliche Ideologie des Kapitals. Staatsschulden seien gefährlich, Staatsausgaben überhaupt zweifelhaft, regulierende Eingriffe in den Markt häufig ein Hindernis für wirtschaftliches Wachstum. Jene Teile der Demokratischen Partei, die an der Tradition des New Deal festhielten, sahen diese innerhalb der eigenen Partei umstritten. Schlimmer noch: Sie befanden sich in der Defensive, mussten staatliche Rentenversicherung und Medicare (die staatliche Krankenversicherung für über 65-Jährige) gegen jene verteidigen, die diese Programme abbauen oder überhaupt abschaffen wollten; häufig trat man dafür ein, den staatlichen Schutz durch irgendeine Form der privaten Versicherung zu ersetzen. Sie wurden von ihren Gegnern als Vertreter bestimmter Interessengruppen dargestellt, denen daher als Repräsentanten der gesamten Gesellschaft keinerlei Legitimität zukomme. Ihre Einwände auf diese Anschuldigung, die mit keinem größeren historischen Projekt in Zusammenhang gebracht wurde, verhallten ungehört.
Unter diesen Umständen mangelte es den Verbindungen zwischen Demokraten und den einer Reform der Gesellschaft verpflichteten europäischen Parteien an Dauerhaftigkeit und Gewicht. Nach der Wahl Reagans zum Präsidenten, aber noch vor seinem Amtsantritt, waren die Gewerkschaft United Auto Workers und eine kleine Gruppe amerikanischer Sozialisten, die als Democratic Socialists of America (DSA) in der Demokratischen Partei aktiv waren, im Dezember 1980 Gastgeber einer beeindruckenden Runde europäischer Gäste: unter ihnen Willy Brandt, Felipe Gonzáles, Olaf Palme, François Mitterrand, Michel Rocard Joop den Uyl und Tony Benn. In der Washington Post erschien ein kurzer Artikel über das Treffen. Die New York Times brachte nichts darüber, weil ihr damaliger Chefredakteur, Abe Rosenthal, erklärt hatte, er habe keine Sympathien für die DSA. Noch bemerkenswerter war, dass Lane Kirkland, der Präsident des Gewerkschaftsdachverbands American Federation of Labor and Congress of Industrial Organizations (AFL-CIO), in unmissverständlicher Weise wissen ließ, dass er nicht an der Versammlung teilnehmen werde. Seine Nachfolger, John Sweeney und inzwischen Richard Trumka, waren und sind dagegen immerhin offen und bereit zur Zusammenarbeit mit europäischen Gewerkschaften und auch mit Vertretern der neuen Sozialbewegungen (Sweeney hat in Seattle und Genua an den großen Protestkundgebungen gegen die kapitalistische Globalisierung teilgenommen).
Als Gerhard Schröder mit Bill Clinton über den Dritten Weg diskutierte
Es gab dennoch amerikanisches Publikum, darunter einige demokratische Abgeordnete aus dem Congressional Black Caucus und dessen weißen Verbündeten, dem Progressive Caucus, ein paar Gewerkschafter, eine größere Zahl von Mitarbeitern des demokratischen Stabs im Kongress sowie ein Grüppchen von Beamten der mittleren Ebene aus Regierungsstellen, die im letzten Monat der Präsidentschaft Carters noch von Demokraten geleitetet wurden. In großer Zahl waren die universitären amerikanischen Freunde der europäischen Sozialisten erschienen. Das mit der Geiselkrise im Iran beschäftigte Weiße Haus nahm von dem Ereignis offiziell nicht Notiz. Senator Edward Kennedy traf mit den aus Europa angereisten Politikern anlässlich eines Essens zusammen, nahm an den öffentlichen Sitzungen aber nicht teil. Dort, über dem Podium, hatte man tapfer ein Banner mit der Aufschrift „Eurosozialismus“ befestigt. Die europäischen Besucher könnten gedacht haben, sie seien auf einem anderen Planeten gelandet – wie mir denn auch einige von ihnen damals in dieser oder jener Sprache zu verstehen gaben. Aber wer hätte es ihnen verübeln können?
Bis zum nächsten Treffen europäischer Sozialisten in Washington sollten 19 Jahre vergehen. Es war im Weißen Haus, wo sich Tony Blair, Massimo D’ Alema, Wim Kok, Lionel Jospin, Göran Persson und Gerhard Schröder in ihrer Rolle als Regierungschefs versammelten, um mit Präsident Clinton über den Dritten Weg zu diskutieren. Über diesen Begriff und dessen Ursprünge in dem Bemühen, einen neuen Kompromiss zwischen den Modellen der Wirtschafts-und Sozialpolitiken auf beiden Seiten des Atlantiks zu finden, gäbe es viel zu sagen. Die Entstehung des Paradigmas des Third Way mag in engem Zusammenhang mit dem generellen kulturellen und ideologischen Vakuum zu sehen sein, das das Ende der Sowjetunion hinterließ. Die Diskussion über diesen neuen Weg traf zusammen mit der Deregulierung des Finanzmarkts in den USA und der Konsolidierung der Herrschaft der Londoner City über die britische Wirtschaft. Das Ziel war im Prinzip die ideologische Legitimierung dieser Entwicklung. Freilich war vor allem die in der New Yorker Erklärung der sozialdemokratischen Führer ausdrücklich festgehaltene Reduzierung der Rolle von Regierungen – der Wandel von einem Initiativen ergreifenden Akteur der Politik zur vermittelnden und ausgleichenden Instanz – eine fein abgestimmte Antwort auf das Offenkundige: auf den Verlust des Glaubens unter amerikanischen Democrats und europäischen Sozialisten und Sozialdemokraten an die Möglichkeit eines größeren Transformationsprozesses. Die Übel der Gesellschaft, die Interessen spezifischer Gruppen, sollten einzeln abgehandelt werden, ohne gesamtgesellschaftlichen Projektentwurf.
Immerhin, die gemeinsame Basis von Amerikanern und Europäern hat fast die gesamte Präsidentschaft Clintons hindurch viel mehr an Dialog zugelassen als je zuvor und danach, und das natürlich vor allem dann, wenn die Sozialdemokraten die Regierung stellten. Es kam zu einigen eigens vereinbarten Zusammenkünften, doch das Treffen von Washington fand am Rande des 50. Jahrestags der Gründung der Nato im Jahr 1949 statt. In anderen Bereichen internationaler Kontrolle, also im Internationalen Währungsfonds, bei der Weltbank, aber auch bei US-Behörden, durfte die überkommene Weisheit des Markts weiter den Ton angeben – und das nicht zuletzt deshalb, weil ihr weder der demokratische Sozialismus der Europäer noch die Programmatik der amerikanischen Demokraten ernsthaft etwas entgegenzusetzen hatten. Eine Ausnahme war das Umweltproblem: In diesem Fall bot die politische Herausforderung der Grünen in Europa, vor allem in Deutschland, sowie das ökologische Bewusstsein vieler gebildeter Amerikaner einen gewissen Ansporn zu interventionistischen Maßnahmen.
Nach dem Jahr 2000 widmeten sich sowohl Amerika als auch Europa den eigenen Sorgen. Ich würde den „Krieg gegen den Terrorismus“ als spezifisch amerikanische Obsession bezeichnen. Die verbliebene Supermacht hat auf selbstzerstörerische Weise reagiert und dadurch ihre Macht und ihren Einfluss konsequent ausgehöhlt.
Anzeichen für eine breite öffentliche Front, die sich für eine Einschränkung des enormen Rüstungsbudgets einsetzen würde, sind ebenso wenig auszumachen wie Rufe nach einem systematischen Überdenken der Annahme der globalen politischen Vormachtstellung der USA, die noch immer den geistigen Kern der amerikanischen Außenpolitik bildet. Es gibt zwar zusehends Zweifel, die teils auch ausgesprochen werden – für das Militär und die politischen Eliten, die fest in der Regierung verankert sind, macht es jedoch keinen oder kaum einen Unterschied, wer unter ihnen Präsident ist. Was den Kongress und den Senat betrifft, gibt es für alle Wahlbezirke oder Staaten immer noch einen Waffenvertrag zu vergeben.
Ein neues transatlantisches Bündnis von Progressiven?
Die Öffentlichkeit von heute wird von ungewöhnlich starken zentrifugalen Kräften bestimmt. Die Wahl eines Präsidenten mit einem afrikanischen Vater wurde ursprünglich als Beweis für den Rückgang des Rassismus in den USA dargestellt, was sie zweifellos auch war. Sie hat jedoch in Teilen der Gesellschaft einen bitteren Unmut hervorgerufen, der einem allgemeinen Gefühl der Enteignung entspringt. Die wirtschaftliche Unsicherheit hat die Orientierungslosigkeit großer Teile der Bevölkerung verstärkt, die sich nicht als einem größeren Zusammenhang zugehörig sehen können. Am tatkräftigsten wird der „große Staat“ von jenen als tyrannisch und verschwenderisch angeprangert, die ihn am notwendigsten brauchen. Auf eine andere Ausbildung abzielende Einrichtungen wie ein kritischer Unterricht an Schulen und Universitäten sowie ein unabhängiger Journalismus sind zwar in ihren Enklaven erfolgreich, erreichen aber die Mehrheit der Amerikaner nicht. Wenn sich Durchschnittsamerikaner etwa mit der Krise in Europa beschäftigen, schreiben sie diese dem verschwenderischen Charakter des Wohlfahrtsstaats zu.
Unter diesen Umständen helfen die Kontakte zwischen fortschrittlichen Demokraten und ihren europäischen Kollegen zwar, eine offene Kommunikation aufrechtzuerhalten, bieten aber keine Grundlage für ein neues politisches Bündnis. Amerikanische Teilnehmer an Veranstaltungen wie den Sozialforen haben besondere Beziehungen zu europäischen Gruppierungen, die wie sie am Rand des politischen Systems agieren. Die Occupy-Wall-Street-Bewegung ist im Augenblick abgeflaut, und es ist unklar, welche Form ein Wiederaufleben, sofern es eines geben wird, haben könnte. Fest steht, dass das Beispiel der spanischen Indignados – der im Mai 2011 entstandenen Bewegung Democracia Real Ya – nicht der vorrangige Auslöser der amerikanischen Demonstrationen war. Sie haben ihre Wurzeln in heimischen Formen des Protests.
Europa ist heute viel weiter entfernt als einen Nachtflug
Amerika hat einen zusehends kosmopolitischen Präsidenten, der allerdings in Indonesien und nicht auf dem Land in Frankreich oder in einer deutschen Industriestadt zur Schule ging. Seine Texte enthalten keinerlei eindeutige Hinweise auf den Einfluss europäischer Ideen oder gesellschaftlicher Erfahrungen. Seine Politik ist die eines (angeschlagenen) amerikanischen Technokraten, sein Bezugsrahmen der des amerikanischen politischen Systems und dessen Grenzen. Auch wenn die Harvard Law School tatsächlich der französischen École Nationale d’ Administration entspricht, ist der Unterschied zwischen angloamerikanischem Common Law und kontinentalem Civil Law ausschlaggebend.
Im Handeln des Präsidenten zeigen sich keinerlei Spuren der von Blair und Clinton entworfenen Politik einer gemeinsamen Ausrichtung von Labour Party und Demokratischer Partei. Einige in Umwelt- und Wissenschaftsbehörden sowie im Arbeitsministerium tätige Regierungsbeamte schenken europäischen Vorstellungen und Strategien Beachtung. Die meisten tun das aber nicht. Der Präsident hat die Europäer aufgefordert, mehr Wert auf die Ausgabenseite zu legen, um die Wirtschaft anzukurbeln, und weniger auf budgetäre Zurückhaltung zu setzen. Viele Demokraten
wären ihm dankbar, wenn er sich in den Diskussionen innerhalb der Partei zu diesen Themen entschlossener und direkter äußern würde. Im Center for American Progress, einem wichtigen intellektuellen Bollwerk der Demokraten, empfängt der britische Labour-Programmdenker Matt Brown einen ständigen Strom von Besuchern. Auch in dem Büro, das die Friedrich-Ebert-Stiftung in Washington unterhält, ist immer etwas los. Auch die deutschen Grünen haben mit Hilfe der Heinrich-Böll-Stiftung eine gemeinsame progressive Kommunikationsebene entwickelt, der Gruppen der Zivilgesellschaft auf beiden Seiten des Atlantik zusammen führt. Die Wirkung dieser Aktivitäten mag sich vielleicht in der Zukunft einstellen, im Augenblick ist sie nicht sehr groß.
Die Europäer können sich diese etwas unbefriedigende Situation größtenteils selbst zuschreiben. Für die Debatten in Europa, die einst für die moderne Politik insgesamt von zentraler Bedeutung waren, interessiert sich heute in Amerika nur ein akademisches Publikum – und eine Handvoll für die Regierung tätiger Forscher, die sich fragen, ob sie, was ihre Karriere betrifft, nicht mit Arabisch oder Chinesisch besser dran wären als mit Französisch und Deutsch. Die Gewerkschaften pflegen ihre transatlantischen Verbindungen, worum sich auch eine schwindende Zahl von Intellektuellen bemüht. In der amerikanischen Politik sind die Europäer jedenfalls weit weniger präsent als 1898, 1932, 1945, 1968 oder sogar 1998. Eine amerikanische Renaissance des eigenen fortschrittlichen Erbes steht aus. Auf beiden Seiten des Atlantiks wird es viel programmatische Arbeit brauchen, um die entstandenen Lücken an gemeinsamen Ideen und an Überzeugungskraft zu schließen. Bis dahin wird Europa weit mehr als einen Nachtflug entfernt bleiben.
Dieser Text erschien zuerst in dem von Karl A. Duffek und Barbara Rosenberg herausgegebenen Band "Progressive Perspektiven: Europas Sozialdemokratie in der Krise". Das Buch ist im Februar im Löcker Verlag erschienen. Es hat 275 Seiten und kostet 19,80 Euro.