Dieses Land will mehr als Merkel
Am 22. September stehen die Deutschen vor einer elementaren Entscheidung. Sie können Angela Merkel wiederwählen: Eine Kanzlerin, die in den vergangenen vier Jahren in geradezu provokanter Weise vorgeführt hat, dass sie nicht den geringsten Gedanken daran verschenkt, wie es mit Deutschland und Europa in den kommenden Jahrzehnten weitergehen soll; eine Kanzlerin, deren einziges „Versprechen“ demzufolge in der luftigen Suggestion besteht, sie werde (wie auch immer) für die Fortsetzung des Bestehenden sorgen. Oder die Deutschen können sich für Rot-Grün entscheiden: ein Bündnis zweier Parteien, die beide in ihrer Geschichte – bei allen programmatischen und sonstigen Unterschieden – niemals dafür bekannt waren, dass sie ganz einfach am jeweiligen Status quo in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft festhalten wollten. Kurz gesagt: Die Deutschen haben 2013 die Wahl zwischen einer Politik der puren Ehrgeiz- und Einfallslosigkeit, einer Politik, die sich nichts vornimmt und nirgendwo hin will – und einer Politik der aktiven Veränderung zum Besseren. Oder noch kürzer: Entschieden wird in Deutschland am 22. September zwischen Stillstand und Bewegung.
Angela Merkels bizarre Behauptung, Leiterin der „besten Regierung seit der Wiedervereinigung“ zu sein, sowie Philipp Röslers selbstzufriedene Beschreibung Deutschlands als „coolstes Land der Welt“ stehen exemplarisch für die Weigerung von Schwarz-Gelb, Politik überhaupt noch in den Kategorien von Problemlösung, Verbesserung und Zukunftsorientierung zu begreifen. Es ist klar: Wer sich ignorant und einfältig als Verwalter der besten aller Welten wähnt, der braucht sich nichts mehr vorzunehmen, weil alle denkbaren Ziele bereits erreicht sind.
Im Lichte der außerordentlichen Gestaltungsaufgaben, mit denen wir es im frühen 21. Jahrhundert zu tun haben, ist solch eine Grundhaltung in schier unglaublicher Weise abwegig. Natürlich geht es Deutschland jetzt vergleichsweise gut. Aber um es in einem aktuellen Bild zu formulieren: Der Druck der veränderten Wirklichkeit auf unsere in früheren Zeiten errichteten Deiche wächst unaufhörlich. Die Kombination aus demografischer Misere, defektem Schuldenkapitalismus, europäischen Verwerfungen, gesellschaftlicher Unwucht und ökologischer Krise erfordert dringend eine neue Politik zupackender Vorsorge, energischer Intervention und sozialer Investition. Keinen Tag länger kann sich unser Land das politische Wachkoma leisten, das Angela Merkel scharfsinnig als einzigen gesellschaftlichen Aggregatzustand identifiziert hat, in dem ihre Wiederwahl überhaupt denkbar wäre.
Peer Steinbrück hat deshalb völlig recht, wenn er den Wahlkampf 2013 in diesem Heft als grundlegende Auseinandersetzung zwischen zwei möglichen Selbstbildern der Deutschen beschreibt: Sind wir eine Gesellschaft von Menschen, die – individuell und gemeinsam – noch etwas vorhaben? Oder ziehen wir lieber still die Decken über unsere Köpfe und hoffen auf das Beste? Wären wir die mit den Decken über den Köpfen, dann behielte Merkel zweifellos die Nase vorn. Aber so sind wir in Deutschland nachweislich nicht. Dieses Land will mehr als Merkel. Und genau deshalb hat Rot-Grün alle Chancen.
Tobias Dürr, Chefredakteur