An American Tragedy

Die großartige Masha Gessen zeichnet die Geschichte der tschetschenischen Brüder nach, die das Blutbad beim Boston Marathon anrichteten

Mein Gott, warum …? So steht es schon in der Bibel. Warum mussten so viele Menschen sterben? Warum hat es niemand verhindert? Zu wissen warum, hilft ein Ereignis einzuordnen, hilft es zurückzustutzen auf Ursache und Wirkung. Verbunden ist damit die Hoffnung, eine Wiederholung möglicherweise verhindern zu können.

Am 15. April 2013 explodierten im Zielbereich des Bostoner Marathons im Abstand von 13 Sekunden zwei mit Schwarzpulver und Metallsplittern gefüllte Kochtopf-Bomben. Sie töteten drei Menschen und verletzten weitere 264 zum Teil schwer. Die Täter, zwei junge Männer, hatten die Bomben in Rucksäcken deponiert und sich danach seelenruhig entfernt. Die beiden Männer waren Brüder. Ihre Namen Dschochar und Tamerlan Zarnajew deuten ihre Herkunft an: Tschetschenien im Nordkaukasus.

Der gescheiterte Traum

Die russisch-amerikanische Journalistin Masha Gessen hat sich auf die Suche nach dem Warum begeben. Sie hat mit Familienmitgliedern, Freunden und Bekannten der beiden Täter gesprochen. Sie ist in die Heimat der Familie gereist, hat ehemalige Lehrer und Weggefährten interviewt. In ihrem Buch The Brothers: The Road to an American Tragedy nimmt Masha Gessen ihre Leserinnen und Leser mit auf eine Reise durch die Länder der ehemaligen Sowjetunion: Dagestan, Kirgisistan, -Kasachstan, Kalmykien, Tschetschenien. Im Titel klingt Theodore Dreisers Roman Eine amerikanische Tragödie aus dem Jahr 1925 an. Wie in Dreisers Roman geht es auch bei The Brothers um die Suche nach dem besseren Leben und das dramatische Scheitern des amerikanischen Traums.

Entwurzelung und Verunsicherung

Gessen entführt uns dazu in die Welt einer Kontinente umspannenden Großfamilie, deren Entwurzelung mit den stalinistischen Deportationen in den vierziger Jahren begann. Ihre Mitglieder taumeln zunehmend heimatlos durch die Staaten der Sowjet- und Postsowjetunion und landen nach einer Odyssee schließlich in Cambridge/Massachusetts an der Ostküste der Vereinigten Staaten.

Es gibt schlimmere Orte zum Ankommen. Cambridge ist international, liberal und beherbergt mit der Harvard University und dem MIT zwei der berühmtesten Universitäten Amerikas. Cambridge könnte der richtige Ort sein für eine Familie, die große Hoffnungen in ihre vier Kinder – zwei Jungen und zwei Mädchen – setzt. Sie sollen lernen und Erfolg haben, um später ein gutes Leben zu führen. Aber der Zeitpunkt der Ankunft – wenige Monate nach dem Anschlag auf das World Trade Center am 11. September 2001 – hätte ungünstiger nicht sein können.

Die Eltern Zubeidad und Ansor Zarnajew kamen in ein Amerika, das zutiefst verunsichert und auf sich selbst bezogen war; ein Land in dem sich eine fast pathologische Angst vor Moslems breit machte. Sie reisten mit einem Touristenvisum ein und konnten zunächst nur ihren jüngsten Sohn Dschochar mitbringen, der damals acht Jahre alt war. Die anderen drei Kinder blieben bei Familienangehörigen in Kasachstan. Die Eltern erlebten die für Einwanderer üblichen Schwierigkeiten: Wohnungssuche, Jobsuche, Verständigungsprobleme. Aber sie waren bereit, hart zu arbeiten, lernten Englisch, fanden eine Schule für Dschochar und Menschen, die ihnen die Hand reichten und eine bezahlbare Wohnung anboten. 2003 wurden sie als Asylbewerber anerkannt und konnten die anderen drei Kinder, inzwischen Teenager, nachholen.

NSU-Parallelen liegen auf der Hand

Der älteste Sohn, Tamerlan, hatte bis dahin in sieben verschiedenen Städten sowie fast ebenso vielen Ländern gelebt und noch mehr Schulen besucht. Er sah gut aus, war sportlich und hätte es mit ein bisschen mehr Ehrgeiz in Amerika vielleicht zu etwas bringen können. Stattdessen strauchelte er durchs Leben. Eine Ausbildung schloss er nie ab. Die beiden jüngeren Schwestern integrierten sich besser, hätten gern wie ihre Freundinnen die Freiheit amerikanischer Teenager genossen, was ihnen die Eltern jedoch untersagten. Sie endeten in unglücklichen, mehr oder weniger arrangierten Ehen und drifteten zwischen den Kontinenten hin und her.

Der jüngste Sohn hingegen, Dschochar, entwickelte sich zum golden boy der Familie, oberflächlich perfekt integriert, ein freundlicher, attraktiver und intelligenter Junge, auf dem die Hoffnungen der Familie ruhten: Schule, College, Studium der Meeresbiologie an der University of Massachusetts in Dartmouth. Wenigstens für ein Mitglied der Familie würde sich, wie es schien, der amerikanische Traum erfüllen, für den die Eltern und ihre Kinder so viele Entbehrungen auf sich genommen hatten.

Und dann kommt das Attentat und damit der vielleicht verstörendste Aspekt dieses Buches: Masha Gessen gibt keine Antwort auf das Warum. Ja, Tamerlan, der ältere Bruder, war vor dem Anschlag zu Besuch in Dagestan, wo er schon als Jugendlicher zwei Jahre lang gelebt hatte. Ja, in Dagestan gab und gibt es religiösen Fanatismus. Und ja, die Familie wurde in den USA zunehmend religiöser. Aber reicht Radikalisierung wirklich aus als Ursache für das Grauen, das die beiden Brüder dann verursachten?

Gessen bezweifelt das und gibt gleichzeitig offen zu: „Was dieser Geschichte fehlt, ist eine klare nachvollziehbare Erklärung, warum zwei junge Männer, die wie hunderttausende andere auch zu sein schienen, dieses Blutbad mitten in ihrer eigenen Stadt anrichteten.“ Aber dann wittert die Autorin doch noch eine Spur.

Sie führt zu denjenigen, die solche Attentate eigentlich verhindern sollen, in diesem Fall zum FBI, der zentralen Sicherheitsbehörde der Vereinigten Staaten. Die Kompetenzen und finanzielle Ressourcen des FBI waren nach den Anschlägen vom 11. September erheblich ausgeweitet worden. Den Terror zu bekämpfen wurde zur absoluten Priorität. Und tatsächlich ereigneten sich zwischen 2001 und 2013 in den USA keine islamistischen Attentate. Das FBI sei mit seinen Undercover-Agenten jedoch oft Ideengeber vereitelter Anschlägen gewesen, zitiert Gessen einen ehemaligen FBI-Mitarbeiter. Auch Tamerlan Zarnajew wurde 2011 mehrfach vom FBI interviewt, so Gessen. Ob er auch als V-Mann rekrutiert wurde, wie seine Mutter behauptet, bleibt offen. Ob er an weiteren Morden beteiligt war ebenfalls. Parallelen zur Unterwanderung der rechtsradikalen Szene in Deutschland durch den Verfassungsschutz liegen auf der Hand.

Wie entstand dieser Hass?

Den Hass, der dem Anschlag zugrunde liegen musste, erklärt das allerdings nicht. Und so steht hinter all den Versuchen, das Warum des Anschlags zu erklären, eine amerikanische Tragödie von großen Hoffnungen und zerplatzten Träumen, von Entwurzelung und gescheiterter Integration, von Enttäuschung, die irgendwann in Gewalt umgeschlagen ist. Dementsprechend tragisch endet auch die Geschichte: Tamerlan Zarnajew starb, als ihn sein Bruder Dschochar auf der Flucht mit dem Auto überfuhr, der heute 22-jährige Dschochar wurde im Mai dieses Jahres zum Tode verurteilt.

Masha Gessen, The Brothers: The Road to an American Tragedy, New York: Riverhead Books 2015, 288 Seiten, 19,95 Euro

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