Wir haben es selbst in der Hand
Drei Tage Hallig im Regen und mein Liebster liebt ein Buch. Ich betrachte die wechselnden Flugformationen von tausenden Ringelgänsen und Alpenstrandläufern. „Endlich schreibt mal einer wie es ist“, stört mein lesender Partner die Andacht. „Endlich mal einer, der nicht jammert, nicht meckert, Unternehmertum nicht verteufelt, sondern dafür plädiert, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Musst du lesen.“
Als er über der Lektüre einschläft – ob sie doch nicht so spannend ist? – lasse ich die Zugvögel sausen. Zivilkapitalismus heißt es. Untertitel: Wir können auch anders. Auf dem Rücktitel steht: „Kapitalismus ist Bürgerpflicht.“ In einer Zeit, in der die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinanderklafft und der Kapitalismus stetig neue Ungleichheiten produziert, wie der französische Ökonom Thomas Piketty darlegt, könnte das Buch anregenden Diskussionsstoff geben für die langen Halligabende mit Blick auf tief hängende Wolken.
Gegen Kapitalismuskritiker jeder Art
Der Einstieg gefällt mir, ist furios, zieht hinein. Der Journalist und Mitbegründer des Magazins brand eins Wolf Lotter weiß, wie wichtig der erste Satz ist. „Nach langer Herrschaft wird kurzer Prozess gemacht. Es ist ein Prozess, bei dem die Richter das Todesurteil bereits in der Tasche haben.“ Das Todesurteil, gefällt 1939 kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, galt dem Kapitalismus. Es stammt, erklärt der Autor, von dem Wirtschaftswissenschaftler Josef A. Schumpeter.
Doch wie wir heute wissen, war das Todesurteil verfrüht – und das findet der Autor gut so. Wolf Lotter zieht lieber gegen die Kapitalismuskritiker zu Felde: „Linke, Rechte, Konservative, Kirchen und Nichtregierungsorganisationen, Parteien und Politiker“ würden im Kapitalismus „die Ursache für alle menschlichen Fehler“ sehen, also zum Beispiel für „Gier, Neid, Raub, Betrug, Erpressung, Respektlosigkeit und Gewalt“. Eine steile These. Zum Glück hat das Buch nur 220 Seiten. Den Beweis werde ich also noch auf der Hallig erfahren. Vorerst schlafe auch ich ein Stündchen, erschöpft vom Furor der ersten Seite.
Die Pause ist kurz, der Liebste ist wieder erwacht und lässt mich teilhaben an seiner Lektüre. Wenn ihm eine Formulierung besonders gut gefällt, liest er sie vor. Beispielsweise, dass der größte Feind der Wahrheit nicht die Lüge ist, sondern der Mythos. Das hat der ehemalige Präsident der Vereinigten Staaten John F. Kennedy gesagt. Oder: „Man soll die neue Welt nicht jenen überlassen, die schon die alte an die Wand gefahren haben.“ Kommt mir bekannt vor. Ich greife zum iPad, um den Satz zu googeln, finde aber nur Wolf Lotter, und lese deshalb lieber über Zugvögel, zum Beispiel über ihre Flugformationen.
„Der Physiker und Vogelforscher Andrea Cavagna aus Rom stellte in einem EU-Forschungsprojekt fest, dass Vögel sich an den sieben Nachbarvögeln ausrichten, was der höchsten Zahl entspricht, die Vögel unterscheiden können.“ Steht so bei Wikipedia. Und was machen wir Menschen? Kaufen große Autos, auch wenn sie nicht in die Garage passen, nur weil der Nachbar eins hat. Versuchen ganz unauffällig herauszukriegen, wo die Freundin die superschicken Klamotten gekauft hat und bestellen auch gleich diesen wunderbaren Wein, von dem kleinen feinen Weingut, übrigens noch ein „Geheimtipp“. Wie die Zugvögel. Ob das der Kapitalismus mit uns macht, oder sind wir Menschen so?
Wäre Leibeigenschaft etwa besser?
Beim Abendessen erzählt mein Liebster mir mehr über den Lotterschen Kapitalismus. Der sei nämlich gar nicht so böse, wie wir spätestens seit Karl Marx glauben. Der Kapitalismus sei quasi neutral, lerne ich, wie ein Hammer, der ja auch nichts dafür könne, wenn er einem auf den Fuß falle und den Zeh zerschmettere. Er zeigt mir die Stelle im Buch: „Der Kapitalismus ist ein Instrument, ein Werkzeug. Wir können mit ihm machen, was wir wollen.“ Und es kommt noch besser: „Der Kapitalismus sorgt heute in der Globalisierung, die zu einem seiner Synonyme geworden ist, für die größte Gerechtigkeitskampagne in der Menschheitsgeschichte.“ Und was ist mit den Arbeitsbedingungen in China, den Löhnen in Bangladesh, den einstürzenden Fabriken, mit der zunehmenden Armut und Unsicherheit? Der Liebste legt das Buch weg, damit der Abend nicht im Streit endet.
Am nächsten Morgen hat er sich neu munitioniert. Lotter zitiert nämlich den indischen Wirtschaftswissenschaftler Jagdish Bhagwati und seine Verteidigung der Globalisierung. Der schreibt, man könne den Kapitalismus auch als System ansehen, „das paradoxerweise Privilegien abschaffen und wirtschaftliche Möglichkeiten eröffnen kann“. Das findet mein Liebster auch: „Du willst doch nicht ernsthaft behaupten, dass Leibeigenschaft oder Schuldknechtschaft besser sind“, sagt er.
Ich kenne mich mit Indien nicht aus und muss passen. Meine Urgroßeltern allerdings waren arme Heidebauern. Bei denen wurde der Pflug nicht von einem Pferd gezogen, das hatten sie nämlich nicht, sondern von den Töchtern. Das ist nur gut hundert Jahre her. Ich kann mein Geld mit dem Laptop verdienen. Vermutlich habe ich das ein Stück weit dem Kapitalismus zu verdanken.
Trotzdem lässt mir dieser Bhagwati keine Ruhe. Das iPad gibt Antwort: Er ist Ökonom, lehrt in den Vereinigten Staaten an der Columbia University in New York und hat für die World Trade Organization gearbeitet. Ein Verteidiger „der freien Marktwirtschaft gegen Globalisierungskritiker und Protektionisten“, wie das Handelsblatt schreibt. „Da haben sich ja wohl zwei gefunden, die sich mit ihren Meinungen gegenseitig bestätigen“, wende ich ein. Wir vertagen die Debatte auf den Abend und ich gehe trotz Regen und Wind auf eine Vogelbeobachtungsexkursion.
Bei meiner Rückkehr ist mein Liebster im hinteren Drittel des Buches angekommen, bei der Finanzkrise von 2008. „Wie erklärt er die Eurokrise, die Gier der Banken – hat das mit Kapitalismus nichts zu tun?“, will ich wissen. Der Liebste freut sich über die Frage, denn er will mit seinen neuen Erkenntnissen punkten: „Der Aufstieg der Finanzwirtschaft ist an die Ausdehnung staatlicher Aktivitäten gebunden, sie ist viel älter als der Industriekapitalismus“, liest er vor. Es seien die Kaiser und Könige gewesen, die sich der Banker bedienten, um ihre absolutistischen Systeme aufzubauen, dann die Fabrikherren, um „ihre eigenen Reiche zu errichten“. Die Finanzindus-trie sei historisch also eindeutig ein Kind der Politik. Gilt übrigens immer noch, wenn Staaten bei den Banken Schulden machen, um Wohltaten nach der Wahl an ihre Bürger auszuschütten. Das ärgert den Liebsten, einen Liberalen mit SPD-Parteibuch, schon lange. Ich gehe erstmal meine Gummistiefel waschen und in den Hotelausguck. Heute soll es Sonnenuntergang über Amrum geben. Den will ich mir nicht entgehen lassen.
Die Dinge selbst in die Hand nehmen
Als ich zurückkomme, hat der Liebste das Buch fast durch und ist bei dem für ihn spannendsten Teil angekommen. Beim Christentum und bei Aristoteles. Vor allem Letzterer sei es, der unser heutiges Unbehagen am Kapitalismus nährt. Aristoteles, dieser einflussreichste Philosoph des alten Griechenland habe den Mehrwert des Geldes als „gegen die Natur“ angesehen und den Tauschhandel propagiert, der edel und gut sei, weil er keinen Mehrwert schaffe. „Aber auch keine Veränderung, keinen Fortschritt, keine Entdeckung kennt, sondern nur einen Kuchen, den es zu verteilen gibt und der immer gleich groß bleibt“, liest der Liebste vor, dem die Status-quo-Liebhaber und Beharrer in diesem Land schon lange auf die Nerven gehen.
„Den Teil musst du unbedingt lesen“, sagt er und erklärt mir, dass das Unbehagen am Mehrwert des Geldes den Herrschenden wunderbar in den Kram passte. Sie konnten sich nämlich Geld leihen und dann denjenigen, der es ihnen gegeben hatte, als gierig verteufeln. Zum Beispiel die Fürsten des Hochmittelalters, die Geld für ihre wirtschaftliche Expansion brauchten, das sie sich von Juden liehen. „Jeder liebt die Bankiers, wenn sie Geld geben, jeder hasst sie, wenn sie es wiederhaben wollen. Man selbst berief sich auf das christliche Zinsverbot, das sich wiederum auf Aristoteles und das Alte Testament gleichermaßen beziehen konnte.“ Klingt ziemlich logisch und wirft zudem ein neues Licht auf die Bankenkrise der vergangenen Jahre.
Und welchen Kapitalismus will nun Wolf Lotter? Am letzten Tag schnappe ich mir das Buch und lerne, dass wir es selbst in der Hand haben. Denn wir leben in einer Wissensgesellschaft, und das Wissen in unseren Köpfen ist unser Kapital. Dabei sollten wir uns nicht auf die Politik verlassen, sondern die Dinge selbst in die Hand nehmen. Oder um Lotters Bild vom Anfang aufzunehmen: Wir müssen uns den Hammer ja nicht auf den Fuß fallen lassen, wir können ihn auch nutzen, um einen Nagel in die Wand zu schlagen. Bei meiner Vogelwanderung habe ich übrigens gelernt: „Bei Richtungsänderungen des Schwarms reagiert nicht unbedingt die Schwarmspitze, jedes Individuum kann eine Richtungsänderung hervorrufen und der ganze Schwarm organisiert sich hierdurch um.“ Vielleicht hat Lotter ein bisschen Recht, denke ich.
Ein sinnvolles Leben, das wär mal was
Viele der jetzt 20- bis 25-Jährigen, die ich kenne, nehmen ihr Leben in die Hand. Sie verkaufen IT-Dienstleistungen, sprechen mehrere Sprachen, waren als Schüler und Studenten im Ausland, wollen ihr Leben selbstbestimmt leben. Generation Y nennt die Forschung sie. „Verwöhnte Wohlstandskinder“, die hohe Ansprüche stellen und wenig leisten wollen, sagen andere. Immerhin: Ein sinnvolles Leben ist ihnen wichtiger als Status, Konsum, Prestige. Wenn sie so weitermachen, werden sie die Welt verändern, in der wir Leben. Dialektik heißt ja nicht nur, dass das Sein das Bewusstsein bestimmt, sondern auch das Bewusstsein das Sein.
„Bei Annäherung von Greifvögeln verdichtet sich der Schwarm, um das Anvisieren eines Individuums zu erschweren. Manchmal wird sogar der Greifvogel vom Schwarm so eingeschlossen, dass dieser sich flugunfähig abfallen lassen muss.“ Oder um Wolf Lotter aufzugreifen: „Wir können auch anders.“
Wolf Lotter, Zivilkapitalismus: Wir können auch anders, München: Pantheon Verlag 2013, 224 Seiten, 14,99 Euro