Anfangen können

Die Griechenlandkrise brachte es mit aller Klarheit an den Tag: Es fehlt in Deutschland seit langem an einer aufgeklärten Europa-Debatte, in der zwar kritikwürdige Fehlentwicklungen unerschrocken diskutiert werden, in der auch heftig über die Ausrichtung europäischer Politik gestritten wird - in dem all dies aber geschieht, ohne dass sogleich europafeindlich und nationalpopulistisch daherschwadroniert wird.

Die Griechenlandkrise brachte es mit aller Klarheit an den Tag: Es fehlt in Deutschland seit langem an einer aufgeklärten Europa-Debatte, in der zwar kritikwürdige Fehlentwicklungen unerschrocken diskutiert werden, in der auch heftig über die Ausrichtung europäischer Politik gestritten wird – in dem all dies aber geschieht, ohne dass sogleich europafeindlich und nationalpopulistisch daherschwadroniert wird. Zu guten Teilen erklärt sich der Mangel schlicht aus der Unkenntnis vieler Bürger über ganz elementare Erfolgs- und Misserfolgsbedingungen unseres Landes. Ulrike Guérot hat Recht: Wir in Deutschland finden gegenwärtig alles Mögliche wichtig, einen Bahnhofsbau in Südwestdeutschland, die Zustände auf einem Segelschiff der Bundesmarine oder die exakte Höhe der Sozialleistungen für Langzeitarbeitslose. Und wenn in Berliner Akademikerlokalen inzwischen mit mehr Hingabe über die Lage im „Dschungelcamp“ debattiert wird als über die Motive der Demonstranten auf dem Kairoer Tahrir-Platz und was deren Freiheitsstreben für Europa bedeutet, dann liegt erst recht der Verdacht nahe, dass es vielen bei uns derzeit schwer fällt, Wesentliches von Unwesentlichem zu unterscheiden.

Nun darf in einem freien Land jeder selbst entscheiden, was ihm bedeutsamer erscheint, die Zukunft der Freiheit selbst, der Zustand Europas oder der Ausgang der nächsten Folge von „Schlag den Raab“. Das Problem ist nur, dass alles im Leben seine Voraussetzungen hat, einschließlich der bei uns in Deutschland im Grunde grenzenlosen Freiheit, sich mit Nebensächlichem abzulenken. Und diese Voraussetzungen unserer Lebensform  treiben uns viel zu wenig um. Das betrifft beileibe nicht nur die Fragen, ob Europa prosperiert und woran es zerbrechen könnte. Es betrifft vielmehr sämtliche Themen, die darüber entscheiden,  ob wir Deutschen in zwanzig, zehn oder auch nur fünf Jahren noch zufriedenstellend werden leben können. Dass sich die Geschichte überall um uns herum dramatisch beschleunigt, ist angesichts der ineinander verwobenen Finanz-, Wirtschafts-, Schulden-, Haushalts-, Energie- und Nahrungsmittelkrisen unserer Zeit mit Händen zu greifen. Hinzu kommen, mindestens, Demografie und Klima. Der Grund, auf dem wir stehen, gerät ins Wanken; die Welt, wie wir sie kennen, ist nicht von Dauer. Die Menschen spüren das subkutan, aber viele haben längst die Lust oder den Mut verloren, den Dingen auf den Grund zu gehen. Doch genau darauf käme es jetzt an: mit aller Macht begreifen zu wollen, was da eigentlich vor sich geht, um Verhältnisse verändern, erneuern, verbessern, auch bewahren zu können. Es ermutigt nicht, dass das meistverkaufte politische Buch unserer Zeit ein defätistisches Machwerk ist,  in dem abstrus (nämlich biologistisch) gedeutete gesellschaftliche Probleme letztlich für unlösbar erklärt werden. 

Den eigentlichen, inoffiziellen Schwerpunkt dieses Heftes bildet deshalb erneut die Idee des Fortschritts. Führende deutsche Sozialdemokraten, auch wichtige Vertreter der Grünen und der Gewerkschaften entdecken dieses Prinzip erfreulicherweise gerade  wieder. Sie erkennen, dass das bloße Festhalten am Bestehenden auf jeden Fall ins Scheitern führt, während Erneuerung und Bewegung immerhin die Chance bieten, eine bessere Zukunft zu gewinnen. Auch hier bedarf es heftiger Debatten, aber insgesamt stimmt die Richtung. Angesichts der verbreiteten deutschen Stimmungsmischung aus Desinteresse und Zynismus ist dieser Aufbruch zum Besseren mutig und verdient Unterstützung. „Anfangen können“ sei der Kern der Freiheit, zitiert Heiko Geue in seinem klugen Essay Hannah Arendt. „If you build it, they will come“, sagen sie in Amerika. 

Tobias Dürr, Chefredakteur

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