Anspruch und Wirklichkeit
Symbolpolitik hat einen schlechten Ruf. Sie hat das Gschmäckle, für eine „echte“ politische Lösung habe es nicht gereicht. Dabei wird schnell vergessen, dass Politik ohne ausreichende Symbolik kommunikativ auf dünnem Eis steht. Willy Brandts Kniefall in Warschau war genauso Symbolpolitik wie das Händehalten von Kohl und Mitterrand in Verdun. Politische Gesten von solch historischer Bedeutung führen aller Welt vor Augen, wie auf Worte Taten folgen. Wo Symbole fehlen, entsteht eine Kluft zwischen dem, was Politik sagt, und dem, was sie tatsächlich tut. Die SPD ist von dieser Diskrepanz besonders betroffen. Und man darf hinzufügen: Sie ist selbst schuld daran.
Wo der Fortschritt zu Hause ist
In programmatischer Hinsicht ist die Sozialdemokratie heute wie eh und je die Bannerträgerin progressiver Politik. Ob Gleichberechtigung oder Mitbestimmung, Integration oder Homo-Ehe: Die SPD kann zu Recht von sich behaupten, fortschrittlich zu sein. Was sich die Partei vorwerfen lassen muss, ist, dass sie ihre eigenen politischen Forderungen nur unzureichend vorlebt. Ein paar Beispiele? In ihrem Erfurter Programm von 1891 forderte die SPD als erste (und für mehr als ein Vierteljahrhundert einzige) Partei das gleiche Wahlrecht für Männer und Frauen. Zeit ihrer Existenz also hat sich die Sozialdemokratie für Frauenrechte und gegen Diskriminierung eingesetzt. Doch welche Partei machte eine Frau zur ersten Bundeskanzlerin? Die Union. Trotz ihrer alles andere als feministischen Geschichte besetzen die Christdemokraten mit Angela Merkel sowohl praktisch als auch symbolisch das Feld der Gleichstellungspolitik. Dass in der SPD eine Frau wenigstens in Sichtweite der Kanzlerkandidatur kam, ist inzwischen zwanzig Jahre her: 1993 entschied sich die Parteibasis für Rudolf Scharping und gegen Heidemarie Wieczoreck-Zeul. Wo sind seitdem die potenziellen Kanzlerkandidatinnen geblieben? An begabten Frauen hat es der Partei jedenfalls nicht gefehlt.
Dabei ist die Gleichstellungspolitik nicht das einzige Thema, bei dem der SPD eine Schippe Symbolpolitik gut getan hätte. Gleiches gilt für die Migrationspolitik. Hier war die Partei stets eine treibende Kraft für Weltoffenheit und gegen den Ressentimentpopulismus, wie er bei CDU, CSU und FDP immer mal wieder durchschimmert. Dass jedoch in der SPD genügend Menschen mit Migrationshintergrund in Ämtern und Mandaten vertreten sind, lässt sich kaum behaupten. Im Gegensatz zur SPD haben die Grünen dieses Themenfeld durch die Wahl von Cem Özdemir zum Parteivorsitzenden konkurrenzlos symbolisch besetzt.
Selbst der im Übrigen glücklose Christian Wulff setzte als Präsident ein Zeichen mit seiner Aussage, der Islam gehöre zu Deutschland. Die SPD hingegen profilierte sich in der Öffentlichkeit nicht mit ihren konstruktiven Parteitagsbeschlüssen und Gesetzesinitiativen, sondern mit Thilo Sarrazins unsäglichen Thesen und einem verunglückten Parteiausschlussverfahren. So etwas bleibt hängen. Potenzielle Wähler fragen sich nicht zu Unrecht, ob die SPD ihren wohlklingenden Worten nicht auch sichtbare Taten hätte folgen lassen müssen. Dann wäre ein Rauswurf Sarrazins der beste Weg gewesen, um die eigene Glaubwürdigkeit in Integrationsfragen zu unterstreichen. Eben das hat aber nicht geklappt.
Die sichtbarste Diskrepanz zwischen Anspruch und gelebter Parteiwirklichkeit durchlebte die SPD im Jahr 2012 bei der Nominierung Peer Steinbrücks zum Kanzlerkandidaten. Seit Willy Brandt war die Sozialdemokratie stolz, die deutsche Mehr-Demokratie-wagen-Partei zu sein. Doch ihren Kandidaten suchten die Sozialdemokraten nicht in einem basisdemokratischen und ergebnisoffenen Nominierungsverfahren aus, sondern in Hinterzimmer-Runden. Wohlgemerkt: So etwas muss nicht zu schlechten Resultaten führen. Wer aber in der Öffentlichkeit für mehr Beteiligung kämpft, der muss sich auch innerparteilich an den eigenen Worten messen lassen. Es war ein politischer Fehler der Parteiführung, an dieser Stelle nicht auch symbolpolitisch mehr Demokratie gewagt zu haben. Selbst eine Ja-Nein-Entscheidung per Urwahl wäre besser gewesen als diese unvorteilhafte Posse.
Dass es auch demokratischer geht, haben mit ihrem Urwahlverfahren die Grünen gezeigt. Es ist zweitrangig, dass deren Entscheidung zu einem offenen Verfahren kein Prinzipienentschluss war, sondern durch eine machtpolitische Blockade der Parteispitze zustande kam. Entscheidend ist, dass es sich letztlich um ein transparentes, ergebnisoffenes und demokratisches Prozedere gehandelt hat, an dessen Ende mit Claudia Roth und Renate Künast auch zwei grüne Galionsfiguren über die Klinge springen mussten.
Nun mag man es für merkwürdig halten, dass gestandene Politprofis auf grünen Castingshows zum Bewerbungsgespräch gebeten wurden und sich in Rededuellen mit No-Name-Spitzenkandidaten-Kandidaten messen mussten. Symbolisch wertvoll war dies aber, weil damit kommuniziert wurde: „Alle Macht geht von der Basis aus. Wer bei uns die Spitzenkandidatur will, der hat demütig darum zu bitten.“ Innerparteilich hat der Mitgliederentscheid die Frage der Spitzenkandidatur entschieden und die Partei hinter ihrem Führungsduo vereint. Für die Öffentlichkeit war der Mitgliederentscheid ein besonderes Medienereignis, mit dem die Grünen in Umfragen gepunktet haben und sich erfolgreich von der politischen Konkurrenz im linken Spektrum absetzen konnten.
Übrigens: Die Linkspartei gibt in dieser Frage ein schlechteres Bild ab. Sie hatte erst aufgrund der eigenen Zerstrittenheit keinen Erfolg im Erklüngeln ihrer Spitzenkandidaten und lehnte aus gleichem Grund einen Mitgliederentscheid ab. Schließlich wurden zur innerparteilichen Befriedung am Ende einfach alle Interessenten zu Spitzenkandidaten ernannt. Es gibt also nicht nur Raum nach oben, sondern auch nach unten. Für die Sozialdemokratie ist das dennoch ein schwacher Trost, denn die Grünen laufen der SPD zunehmend den Rang als prägende Kraft im linken Parteienspektrum ab. Das liegt nicht einmal so sehr an überzeugenderen politischen Inhalten, sondern vielmehr am gefühlten Abstand zwischen Worten und Taten. Der fällt bei den Grünen geringer aus, etwa hinsichtlich der Nominierung der Spitzenkandidaten oder der Repräsentanz von Frauen und Migranten in Führungsämtern. Hinzu kommt, ganz banal, dass die Grünen in fast jedem Wahlkampf die gelungeneren Plakate haben. Brioni-Anzüge und Rednergagen mal beiseite: Am Ende bleibt von der SPD der Eindruck einer mäßig glaubwürdigen Partei, die den eigenen Worten keine Taten folgen lässt.
Zeichen setzen, in die Offensive gehen
Der beschriebene Eindruck ist ärgerlich – und vermeidbar. Die SPD müsste nur ein wenig mehr Mut und Geschick bei der Anwendung von Symbolpolitik an den Tag legen. Man denke nur an Klaus Wowereits inzwischen zum Kult avancierten Ausspruch „Ich bin schwul, und das ist auch gut so“. Es war das erste öffentliche Outing eines deutschen Spitzenpolitikers, was Wowereit – und mit ihm die SPD – zum Symbol einer weltoffenen und toleranten Gesellschaft machte. In der Retrospektive vergisst man leicht, wie groß die innerparteiliche Furcht vor diesem Schritt war. In die Offensive zu gehen und ein Zeichen zu setzen, das wurde von vielen als unkalkulierbares Risiko gesehen. Heute wissen wir, dass diese Sorgen unbegründet waren und sich der politische Wagemut ausgezahlt hat.
Auch in der K-Frage des Jahres 2013 hätte die SPD mit mehr Mut einen Coup landen können, wäre es nach den ursprünglichen Plänen von Parteichef Sigmar Gabriel gegangen. Der hatte nach seiner Wahl an die Parteispitze mehrfach vorgeschlagen, den künftigen SPD-Kanzlerkandidaten in einer Vorwahl nach amerikanischem Vorbild küren zu lassen. Sympathisanten ohne Parteibuch wären so an die Partei gebunden worden, die SPD hätte sich als modernste Partei Deutschlands profiliert und wäre von der Presse wochenlang gefeiert worden. So jedenfalls hatte es sich bei den französischen Sozialisten ereignet, die mit eben jenem Vorgehen François Hollande nominierten und kurz danach Nicolas Sarkozy aus dem Élysée kippten. Erfolgreiche politische Vorbilder gab es also. Doch eine solche Vorwahl war für weite Teile der Partei zu revolutionär. Man befürchtete, dass bei mehreren Kandidaten der Unterlegene politisch beschädigt würde. Entscheidend war letztlich der Widerstand jener mittleren Parteifunktionäre, die eine verbindliche Einbindung von Nicht-Mitgliedern nicht akzeptieren wollten.
Will die SPD aus der Ecke altbackener Parteipolitik heraus, gibt es dazu gute Möglichkeiten. Ein wichtiger Punkt ist die stärkere Öffnung und Entwicklung hin zu einer wirklichen „Mitmachpartei“. Heute ist die SPD eine im Großen und Ganzen selbstreferenzielle Organisation. Dass im Vorfeld der Bundestagswahl 2013 solche Formate wie der Bürger-Dialog und der Bürger-Konvent durchgeführt werden, ist ein Hoffnungszeichen. Entscheidend wird sein, ob die SPD auch unabhängig von bevorstehenden Wahlen ein Mitmach-Angebot an Sympathisanten ohne Parteibuch richtet, in dessen Rahmen sich Interessierte zu Themenfeldern einbringen können. Hierbei geht es nicht darum, durch Alibiveranstaltungen neue Mitglieder zu werben, sondern den Input der Zivilgesellschaft vollwertig in die eigene Arbeit zu integrieren.
„Mitmachpartei“ heißt aber auch, alle Parteimitglieder stärker einzubeziehen und mitentscheiden zu lassen. Wer die Realität kennt, wird zugeben, dass die innerparteiliche Willensbildung und Entscheidungsfindung nicht von unten nach oben, sondern umgekehrt verläuft. Vom Ortsverein bis zum Parteivorstand sind es fast immer einige enge Kreise, die Parteipositionen bestimmen und sich – nach wohlwollender Prüfung der Antragskommission – zur eigenen Legitimation im Nachhinein ein Vorstands- oder Parteitagsvotum einholen. Das mag gute alte Tradition sein, geht aber vollkommen am Selbstverständnis und den Ansprüchen der heute gesellschaftsprägenden Generationen vorbei. Wer heute etwas politisch bewegen möchte, geht nicht in eine Partei, sondern engagiert sich in einer NGO, einer Bürgerbewegung oder einem Verein. Warum, ist schnell klar. Zum einen kann man in NGOs vom ersten Tag an vollwertig mitarbeiten und braucht sich nicht um die berüchtigte Ochsentour zu scheren. Zum anderen pflegen NGOs häufig flache Hierarchien und verzichten auf das in Parteien verbreitete Platzhirschgehabe. Von der Zivilgesellschaft kann die SPD lernen, innerparteiliche Hierarchien abzubauen, direktere Mitsprache zu ermöglichen und mehr Räume für Sachpolitik zu öffnen. Es ist nicht mehr zeitgemäß, dass die Basis bei wichtigen inhaltlichen Weichenstellungen und Personalentscheidungen wie der K-Frage, dem Parteivorsitz sowie Bundes- und Landtagskandidaturen nicht per Urwahl entscheiden darf. Bisher scheiterten solche Initiativen auch am Widerstand von Parteiführung und Mittelbau, die einen Kontrollverlust befürchten und sich die Fäden nicht aus der Hand nehmen lassen wollen. Dabei wäre dieser Kontrollverlust ein machtvolles Signal an Partei und Öffentlichkeit, dass es die SPD mit gelebter Demokratie ernst meint und den eigenen Mitgliedern Verantwortungsbewusstsein zutraut.
Die Partei steht sich selbst im Weg
Die SPD ist zudem gut beraten, mehr Quereinsteigern sowie Vertretern bedeutender gesellschaftlicher Gruppen und Bewegungen Raum zu geben. Über eine bessere Sichtbarkeit von Frauen und Migranten wurde bereits gesprochen. Gleichermaßen sollte die Partei Repräsentanten der Zivilgesellschaft die Möglichkeit zur Kandidatur auf SPD-Ticket geben. Auch hierbei ist die politische Konkurrenz der SPD eine Nasenlänge voraus. So haben die Grünen beispielsweise mit Sven Giegold, dem Mitgründer von ATTAC Deutschland, und Barbara Lochbihler, der ehemalige Generalsekretärin der deutschen Sektion von Amnesty International, prominente Zivilgesellschaftler – und Multiplikatoren – ins Europäische Parlament geschickt. Es würde der SPD zweifellos nutzen, ebenfalls Repräsentanten wichtiger gesellschaftlicher Bewegungen einen sichtbareren Platz in ihrer Mitte zu geben und auf diese Weise Themenfelder programmatisch und symbolisch zu besetzen.
Die SPD hat eine reale Chance, sich von ihrem angestaubten Image zu lösen und wieder zu einer modernen Partei mit Führungsanspruch im progressiven Lager zu werden. Sie muss dafür aber Bereitschaft zur Selbstkritik aufbringen, statt aus falschem Stolz davor zurückschrecken, von Rezepten zu lernen, die seitens der politischen Konkurrenz und in der Zivilgesellschaft längst erfolgreich angewandt werden. Das einzige, was der Partei im Weg steht, ist sie selbst.