Auf dem Weg zur europäischen Verteidigungsgemeinschaft?
Nach dem Brexit-Referendum war der Wahlsieg Donald Trumps in den Vereinigten Staaten der zweite große Schock für die Europäer – mit bisher unbekannten außen- und sicherheitspolitischen Konsequenzen. Bereits lange vor den Präsidentschaftswahlen am 8. November wurde darüber spekuliert, ob und in welcher Weise sich das Ergebnis auf die Sicherheitsarchitektur Europas auswirken würde. Trump hat aus seiner skeptischen Haltung zur Nato im Wahlkampf keinen Hehl gemacht und öffentlich über ihre Abschaffung nachgedacht. Auch wenn weiterhin kaum vorstellbar ist, dass sich die Amerikaner gänzlich aus der Nato zurückziehen werden, liegt eine Reduzierung des personellen und finanziellen Anteils der USA am Bündnis durchaus im Bereich des Vorstellbaren und hätte dramatische Auswirkungen auf den europäischen Sicherheitsaufbau.
Ganz neu sind solche Töne aus den Vereinigten Staaten übrigens nicht, weswegen sie von europäischer Seite dringend ernstgenommen werden sollten: Schon Präsident Barack Obama hatte eine stärkere Hinwendung zum asiatischen Raum angekündigt und damit bei seinen europäischen Verbündeten Sorge vor einer Abkehr Washingtons von Europa ausgelöst. Dieser so genannte pivot to asia ist schließlich weit weniger einschneidend ausgefallen als zunächst angenommen, trotzdem sind die Zeiten lange vorbei, in denen die Amerikaner einer größeren sicherheitspolitischen Eigenständigkeit der Europäer skeptisch bis ablehnend gegenüberstanden. Das Gegenteil ist der Fall: Barack Obama hatte immer wieder und mit zunehmender Deutlichkeit eine Stärkung der militärischen Fähigkeiten der europäischen Bündnispartner angemahnt. Dies wurde in Europa durchaus bemerkt, aber keineswegs übereinstimmend interpretiert oder überall gleichermaßen ernstgenommen. Während die einen in Europa größere Anstrengungen bei Rüstungs- und Verteidigungsausgaben und Fortschritte in der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) anmahnten, blieb bei anderen die Fokussierung auf die USA als Sicherheitsgaranten noch weitgehend ungebrochen. Dies mag sich durch die Präsidentschaft Trumps nun ändern.
Ein ernsthafter Verteidigungsfall? Das galt lange als unvorstellbar
Die Auswirkungen dieser aktuellen Debatte beschränken sich nicht auf die Brüsseler Institutionen. Vielmehr zeigt sich ein eindeutiger Trend, der sich durch alle EU-Staaten zieht: Lange Zeit stagnierende oder infolge der Wirtschafts- und Finanzkrise auch drastisch gesunkene Verteidigungsausgaben sind in den meisten Ländern der Union zuletzt wieder angestiegen oder sie sind zumindest annähernd stabil geblieben. In allen Fällen besteht ein Zusammenhang zwischen diesen Steigerungen und mindestens einer der oben beschriebenen politischen Entwicklungen. In sechs Mitgliedsstaaten (Belgien, Dänemark, Italien, Kroatien, Portugal, Slowenien und Zypern) sanken die Verteidigungsausgaben weiter, jedoch ist der politische Wille erkennbar, die Ausgaben künftig zumindest auf dem aktuellen Niveau zu stabilisieren und möglichst wieder anzuheben.
Dieser Trend beschränkt sich nicht nur auf die Verteidigungsausgaben, sondern konsequenterweise auch auf die Entwicklungen in den Armeen. Fast überall war vor 2014 eine gewisse Stagnation zu beobachten. Reformen zielten in der Regel auf einen Abbau von Fähigkeiten, Personal wurde reduziert, die Wehrpflicht vielerorts abgeschafft und Material nicht mehr erneuert. Das Augenmerk lag in den meisten europäischen Staaten hauptsächlich auf einer Begrenzung der Kosten und auf dem Erhalt eines militärischen Mindeststandards, wie er für eine eingeschränkte Beteiligung an multinationalen Einsätzen notwendig erschien. Das Eintreten eines ernsthaften Verteidigungsfalls wurde in den meisten Ländern für unrealistisch gehalten – ein Trend, der sich von Ost nach West und von Nord nach Süd erkennbar verstärkte. Diese Entwicklung ist überall dort, wo Verteidigungsausgaben stabilisiert oder gar erhöht wurden, zunächst gestoppt, und hat sich in den meisten Ländern sogar schon umgekehrt. Neue Strategieprozesse wurden angestoßen, Personal und Haushalte aufgestockt und vielerorts bereits neue Beschaffungsvorhaben gestartet, um die überfällige Modernisierung der Armeen auf den Weg zu bringen.
In ausnahmslos allen Staaten der EU und ungeachtet der Bewertung eines Zukunftsprojekts „Europäische Armee“ oder einer europäischen Verteidigungsunion sind breite Zustimmung zu einer verbesserten und verstärkten Kooperation in der Verteidigungsindustrie (Finanzierung, Forschung und Entwicklung, Schaffung eines echten gemeinsamen Verteidigungsmarktes) erkennbar. Die diesen Bereich betreffenden Beschlüsse des Europäischen Rates vom 15. Dezember 2016 wurden europaweit positiv aufgenommen – wenngleich nicht überall mit dem gleichen Optimismus hinsichtlich einer raschen Umsetzung.
Den Reden sind Taten gefolgt
Eine Trendwende hat auch Deutschland erlebt, eingeleitet mit der Münchener Sicherheitskonferenz 2014 als Signal für einen außen- und sicherheitspolitischen Paradigmenwechsel. Die „Kultur der Zurückhaltung“ (Guido Westerwelle), die Deutschland im Grunde seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges in der Außen- und Sicherheitspolitik geprägt hatte, wurde nach dem Regierungswechsel 2013 von der Großen Koalition zwar keineswegs vollständig aufgeben, aber doch grundlegend neu interpretiert. Deutschland wolle nicht mehr der kommentierende Zuschauer am Spielfeldrand sein, kündigte der damalige Außenminister Frank-Walter Steinmeier in einem konzertierten programmatischen Auftritt mit Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen und Bundespräsident Joachim Gauck auf der Sicherheitskonferenz an.
Den Reden in München folgten Taten. Deutschland spielte eine wichtige Rolle beim diplomatischen Ringen um eine friedliche Lösung für die Ukraine, bei den Verhandlungen zum Atomabkommen mit dem Iran und beim Versuch, den Syrienkonflikt diplomatisch zu entschärfen. Die Bundesregierung warf in der Suche nach einer gemeinsamen europäischen Position gegenüber Russland ihr ganzes politisches Gewicht in die Waagschale. Das alles ist nicht mehr neu. Schon während der Wirtschafts- und Finanzkrise hatte Berlin sich keineswegs in europapolitischer Zurückhaltung geübt, sondern den Kurs maßgeblich und zum Missfallen vieler von der Krise besonders hart betroffener Länder bestimmt. Dennoch hat das Selbstbewusstsein, mit dem Deutschland inzwischen außen- und sicherheitspolitisch in Europa auftritt, eine neue Qualität. Einfluss wird nicht nur stillschweigend geltend gemacht, sondern auch in der deutschen Öffentlichkeit breit kommuniziert. Waffenlieferungen an irakische Peschmerga-Kämpfer, gleichzeitig mehr als 3 000 Soldaten, die in insgesamt 13 Auslandsmissionen eingesetzt sind (Stand Ende 2016), und signifikante Steigerungen des Wehretats verbunden mit einer personellen Aufstockung der Bundeswehr – das sind Entscheidungen, die noch vor wenigen Jahren in dieser Dichte und mit so wenig Kontroverse wohl kaum vorstellbar gewesen wären.
Wo eine Grundskepsis gegenüber Auslandseinsätzen jahrzehntelang gewissermaßen zum politischen Inventar der Bundesrepublik gehörte, ist jetzt natürlich keine Militarisierung der Gesellschaft im Gange. Weiterhin lehnt eine Mehrheit der Bundesbürger eine Ausweitung von Bundeswehreinsätzen ab und steht dem Einsatz militärischer Mittel reserviert gegenüber. Von einem gesellschaftlichen Aufschrei aber, einer Mobilisierung durch die Opposition und massiven Protesten gegen den neuen Kurs kann keine Rede sein. Das Fehlen öffentlichen Protests gegen die in den vergangenen drei Jahren neu beschlossenen oder verlängerten Bundeswehrmandate sowie die Aufstockung des Verteidigungshaushalts können durchaus als stillschweigende Duldung einer militärischen Komponente deutscher Außen- und Sicherheitspolitik verstanden werden – vorausgesetzt, Deutschland engagiert sich in enger Abstimmung mit den europäischen Partnern und im Rahmen von völkerrechtlich legitimierten Einsätzen.
Um diese Duldung mittelfristig zu einem tatsächlichen Mandat für den neuen sicherheitspolitischen Kurs weiterentwickeln zu können, muss allerdings die so oft geforderte gesellschaftliche Debatte geführt werden. Das im Sommer 2016 verabschiedete Weißbuch der Bundesregierung wäre hierzu ein guter Anlass gewesen, hat allerdings in der breiteren Öffentlichkeit kaum Widerhall gefunden. Das Ausbleiben einer sicherheitspolitischen Grundsatzrede von Bundeskanzlerin Angela Merkel zum Weißbuch – das immerhin den Kompass für die deutsche Sicherheitspolitik und die Bundeswehr in den kommenden Jahren darstellen soll – im Deutschen Bundestag ist zu Recht von Bundeswehrsoldaten und Verteidigungspolitikern bemängelt worden. Offenbar herrscht immer noch eine gewisse Furcht vor einer öffentlichen Diskussion über die Rolle der Bundeswehr. Das wird auf Dauer nicht gut gehen können. Die deutsche ebenso wie die europäische Außen- und Sicherheitspolitik verändern sich, weil sich die Rahmenbedingungen gravierend verändert haben. Es ist gut, dass die Bundesregierung darauf reagiert hat, indem sie den Reden in München Taten folgen ließ und begonnen hat, die Bundeswehr auf diese neue Verantwortung personell und materiell einzustellen. Aber das allein wird nicht ausreichen. Die Soldaten der Bundeswehr, aus guten Gründen Staatsbürger in Uniform, wünschen sich nicht nur ein politisches, sondern auch ein gesellschaftliches Mandat. Dieses kommt nicht von allein und wird nicht leichter zu erreichen sein, wenn man versucht, die sicherheits- und verteidigungspolitischen Neuerungen im Windschatten breiter gesellschaftlicher Zustimmung für die traditionelle Außenpolitik durchzuwinken.
Russland und Trump lassen den Willen zu europäischer Verteidigung wachsen
Die Deutschen wünschen sich bereits jetzt, wie übrigens die überwältigende Mehrheit aller EU-Bürger, eine stärkere außen- und sicherheitspolitische Rolle der Europäischen Union. Im ARD-Deutschlandtrend vom Dezember 2016 waren 83 Prozent der Befragten dafür, dass die EU außenpolitisch stärker in Erscheinung treten soll. Laut einer im Auftrag der Körber-Stiftung durchgeführten Umfrage befürwortete im Jahr 2016 sogar mehr als die Hälfte der Deutschen die Schaffung einer europäischen Armee. Eine repräsentative europaweite Umfrage der Agentur „policy matters“ im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung im Jahr 2015 ergab ebenfalls eine breite europäische Zustimmung für eine starke sicherheitspolitische Rolle der EU.
Analysen der politischen, wissenschaftlichen und medialen Diskurse der EU-Staaten zeigen zwar, dass eine Mehrheit die Aufgaben der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU vor allem im zivilen Bereich, beim Grenzschutz und im Bereich des Krisenmanagements sieht. Allerdings finden sich in vielen Ländern Hinweise darauf, dass diese Präferenzen ins Wanken geraten angesichts der tiefen Verwerfungen mit Russland und der ungewissen künftigen amerikanischen Außenpolitik. Die Wahl Donald Trumps wird hier mit einem größeren politischen Interesse an einer starken GSVP mit eigenen Verteidigungsfähigkeiten verbunden.
Das Weißbuch der Bundesregierung formulierte jedenfalls bereits vor der US-Wahl, jedoch unmittelbar nach dem Brexit-Votum ein deutliches Bekenntnis zu einer starken GSVP. Auf die Forderung nach dem Aufbau einer europäischen Armee wurde dabei verzichtet. Damit trägt die Bundesregierung den teilweise massiven Bedenken Rechnung, mit denen der Begriff „Europäische Armee“ – im Koalitionsvertrag von 2013 noch als Ziel genannt – in vielen EU-Staaten verbunden ist. Dafür finden sich jedoch in der deutsch-französischen Initiative zur Erneuerung der GSVP die Forderungen nach dem Aufbau einer gemeinsamen europäischen Sicherheits- und Verteidigungsunion, einem ständigen zivil-militärischen operativen Hauptquartier und einer stärkeren Kooperation im Rüstungssektor. Da der Begriff des Hauptquartiers als politisch sensibel galt, weil er eine Konkurrenz zur Nato suggeriert, wurde er mit dem etwas sperrigen Begriff einer „Einrichtung eines ständigen Stabs auf strategischer Ebene für die operative Planung und Durchführung“ umschrieben. Ein solcher ständiger Stab könnte gleichwohl zu einem Nukleus einer echten, substanziell integrierten GSVP werden. Die zugleich zivile und militärische Ausrichtung einer derartigen permanenten Führungsstruktur würde das Profil der EU als eigenständiger sicherheitspolitischer Akteur schärfen und zugleich ihr Aufgabenspektrum von dem der Nato abgrenzen, die nach wie vor in erster Linie auf militärische Bündnisverteidigung ausgerichtet ist. Dass darüber hinaus im Weißbuch auf die Bedeutung der vielfältigen bi- und multilateralen militärpolitischen Beziehungsgeflechte verwiesen wird, sollte keineswegs als Abkehr vom Ziel einer starken, handlungsfähigen GSVP verstanden werden. Es können Schritte hin zu einer europäischen Armee sein, die Ziel der Bundesregierung bleibt.
In östlichen EU-Staaten herrscht große Sorge vor einer Schwächung der Nato
In nahezu allen Ländern zeigt sich eine breite Zustimmung zu mehr Rüstungskooperation – von koordinierter Forschung und Entwicklung über gemeinsame Planung und Beschaffung bis hin zu EU-Fonds zur Finanzierung. Sehr häufig zeigt sich aber auch eine tiefe Skepsis vor doppelten Strukturen. Besonders in einigen östlichen und nördlichen EU-Mitgliedsstaaten (zum Beispiel Estland, Kroatien, Litauen, Polen, Rumänien, Slowakei und Slowenien) herrscht große Sorge vor einer signifikanten Schwächung der Nato, sollte das Ziel einer starken GSVP und einer europäischen Armee ehrgeizig weiterverfolgt werden. Solcherlei Befürchtungen suchen vor allem Länder wie Deutschland, Frankreich, Spanien und in jüngerer Zeit verstärkt auch Italien zu zerstreuen. Allerdings bestätigen die Analysen der öffentlichen, politischen und wissenschaftlichen Debatten in den EU-Mitgliedsstaaten, dass dies bislang nicht in ausreichender Weise gelungen ist. Die Sorge vor einer Aushöhlung der Nato sitzt vor allem in jenen Ländern tief, die sich unmittelbar von Russlands aggressiver Außenpolitik bedroht sehen und die Nato und die USA als zentrale Garanten ihrer Sicherheit betrachten. Eine GSVP mit eigenen Strukturen und das Fernziel einer europäischen Armee werden hier überwiegend als überflüssige Symbolpolitik verstanden, die die Nato schwächt und am Ende doch nicht zu einer verteidigungsfähigen europäischen Armee führen würde. In dieser Betrachtungsweise ist jede Politik, die nicht ausschließlich eine Stärkung der Nato zum Ziel hat, riskant und unverantwortlich. Angesichts solcher Befürchtungen verwundert es nicht, dass einige Regierungen einer verstärkten Kooperation im Rüstungsbereich zwar positiv gegenüberstehen, darüber hinausgehende Vorschläge zur Stärkung des militärischen Pfeilers der GSVP jedoch teilweise entschieden ablehnen.
Nahezu alle Mitgliedsstaaten betonen, dass die EU im zivilen Bereich und beim Krisenmanagement leistungsfähiger werden und zu eigenständigem Handeln in der Lage sein muss. Eine solche Arbeitsteilung – Territorialverteidigung und Abschreckung weiterhin als zentrale Aufgabe der Nato, Krisenmanagement zunächst mit einem Schwerpunkt auf zivilen Instrumenten bei der GSVP – könnte unter den EU-Staaten durchaus konsensfähig sein. Dafür muss aber weitere Überzeugungsarbeit geleistet werden. Die schiere Versicherung, dass eine Stärkung der GSVP nicht zulasten der Nato ginge, reicht erkennbar nicht aus.
Die Stärkung der GSVP bedeutet zugleich eine Stärkung der Nato
Vor dem Hintergrund dieser Auseinandersetzungen sind beide Organisationen enger zusammengerückt. Beim Nato-Gipfel in Warschau im Juli 2016 wurde eine gemeinsame Erklärung unterschrieben, die eine engere Zusammenarbeit in sieben Bereichen festlegt, die im Dezember mit 42 Umsetzungsvorschlägen unterlegt wurden. Bei diesen Bereichen handelt es sich erstens um die Reaktion auf hybride Bedrohungen; zweitens die operationelle Zusammenarbeit (einschließlich maritimer Fragen); drittens Cybersicherheit und -verteidigung; viertens Verteidigungsfähigkeiten; fünftens Verteidigungsindustrie und Forschung; sechstens parallele und koordinierte Übungen; und siebtens Capacity building im Sicherheits- und Verteidigungsbereich. Die Erklärung gilt inzwischen als eine der drei Säulen des Maßnahmenpaketes, welches die EU auf dem Gipfel im Dezember zu Sicherheit und Verteidigung auf den Weg gebracht hat. Sie umschreibt, was von Nato und EU selbst als „Neue Ära der Kooperation“ bezeichnet wird. In der Praxis bedeutet dies regelmäßige Abstimmungs- und Planungstreffen auf administrativer und politischer Ebene und bei jeder sich bietenden Gelegenheit eine Betonung des neuen Geistes der Zusammenarbeit durch die beiden Führungspersönlichkeiten Jens Stoltenberg und Federica Mogherini.
Es kann nicht oft genug betont werden, dass eine Stärkung der GSVP gleichbedeutend mit einer Stärkung des europäischen Pfeilers in der Nato ist. Wenn die Europäer ihre Verteidigungsausgaben, ihr Material und ihre Fähigkeiten nicht nur ausbauen, sondern auch effektiver aufeinander abstimmen und dafür entsprechende Strukturen stärken, wird dadurch auch die Nato gestärkt. Angesichts der Äußerungen von Donald Trump wird den Europäern ohnehin gar nichts anderes übrig bleiben. Gerade wer die Nato als unverzichtbar für die Sicherheit Europas ansieht, muss sich spätestens seit Trumps Wahlsieg darüber im Klaren sein, dass eine starke europäische Komponente in der Nato künftig noch wichtiger sein wird. Einen Schwerpunkt zunächst auf die zivilen Fähigkeiten zu legen, ist dabei ohne Frage richtig, wird aber nicht ausreichen. Die Europäer müssen ihr militärisches Engagement in der Nato spürbar ausbauen, und zwar in einem Umfang, den sie vermutlich nur gemeinsam schaffen. Andernfalls dürfte eine Neubewertung des Stellenwertes der Nato für die Vereinigten Staaten anstehen, was gleichbedeutend mit einem massiven Verlust an Handlungsfähigkeit für das Bündnis wäre. Zudem hätte ein solcher Rückzug erhebliche psychologische Auswirkungen auf die Rückversicherungs- und Abschreckungswirkung von Artikel 5 des Nato-Vertrags.
Einige EU-Staaten haben schon früher mit öffentlichen Diskussionsbeiträgen und Gedankenspielen über die Schaffung einer Verteidigungsunion und das Fernziel einer europäischen Armee für Aufsehen gesorgt. Dass der Begriff der „Europäischen Armee“ seit Herbst 2016 nach und nach wieder aus den Verlautbarungen der Regierungen zu verschwinden scheint, kommt mitnichten einer Aufgabe dieses Ziels gleich. Vielmehr wird damit den geschilderten Bedenken vor allem der nördlichen und östlichen Mitgliedsstaaten Rechnung getragen und der Fokus verstärkt auf solche Vorhaben gelenkt, die gleichermaßen den europäischen Beitrag zur Nato stärken und als Meilensteine auf dem Weg zu einem abgestimmten europäischen Handeln angesehen werden können. Die Sorgen der kleineren Länder, dass sie in einem Europa der zwei Geschwindigkeiten zurückgelassen werden könnten, sind verständlich, aber unnötig. Im Gegenteil: Ein Vorangehen einiger EU-Mitglieder – zum Beispiel im Rahmen der „Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit“ (Permanent Structured Cooperation, PESCO), die nach dem Ausscheiden der Briten aus der EU wieder möglich wird – kann ohne Weiteres so ausgestaltet werden, dass sich jederzeit weitere Mitgliedsstaaten den Initiativen anschließen oder sie auch wieder verlassen können. Das von Deutschland in die Nato eingebrachte Konzept der Rahmennationen (Framework Nations Concept, FNC) ist auf Ebene des Bündnisses ein Äquivalent für die bereits 2009 im Lissabon-Vertrag vorgesehene PESCO und dürfte der GSVP eine gute Verzahnung mit bestehenden Vorhaben in der Nato erlauben.
Deutschland und Frankreich verfolgen durchaus unterschiedliche Vorstellungen
Angesichts der politischen und ökonomischen Verwerfungen innerhalb der Europä-ischen Union, den noch nicht abschätzbaren Folgen des Brexit und den weiterhin sehr unterschiedlichen verteidigungspolitischen Traditionen innerhalb Europas wäre ein „großer Wurf“, eine Top-down-Umsetzung einer Verteidigungsunion beziehungsweise einer gemeinsamen Armee zurzeit weder realistisch noch zielführend. Gleiches gilt möglicherweise für den Versuch, belastbare Fortschritte in der GSVP unter Einbindung aller EU-Staaten erreichen zu wollen. Umso wichtiger dürfte es sein, PESCO jetzt rasch anhand konkreter und erfolgversprechender Projekte einzusetzen, das Instrument so zu etablieren und Vorurteile und Sorgen der skeptischeren Mitgliedsstaaten abzubauen.
In Brüssel hat die EU-Kommission unter Jean-Claude Juncker Fragen der Sicherheit und Verteidigung wieder ganz oben auf die politische Agenda gesetzt. Mit der Globalen Strategie und dem dreiteiligen Paket zu ihrer Verwirklichung haben Brüssel, die EU-Institutionen und die Nato in kürzester Zeit gute Bedingungen für qualitative Fortschritte in der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik geschaffen. Nun braucht es Mitgliedsländer, die vorangehen. So richtig es ist, dass mit den Briten ein großer Blockierer der GSVP die EU verlässt, so sehr hat die kategorische Blockadehaltung Großbritanniens die außen- und sicherheitspolitischen Differenzen unter den übrigen Mitgliedsstaaten verdeckt. Diese bestehen nicht nur zwischen den Großen und Kleinen, zwischen Nord und Süd. Die Vorstellungen, die beispielsweise Deutschland und Frankreich zur Weiterentwicklung der GSVP haben, sind auf den zweiten Blick eben nicht deckungsgleich. Die zugrunde liegenden Erwartungen und Interessen weichen durchaus voneinander ab. Diese Unterschiede konnten bislang in freundschaftlichen Debatten und visionären gemeinsamen Papieren überdeckt werden, zumindest so lange wie die Briten ohnehin jeden Realisierungsversuch verhindert haben. Nun werden nicht nur Deutschland und Frankreich, sondern alle Mitgliedsstaaten, die vorangehen wollen, nicht umhinkommen, ihre Interessen und Erwartungen offen miteinander zu diskutieren.
Beim informellen EU-Gipfel in Bratislava im Sommer 2016 hat sich bereits angedeutet, dass die mit einer starken GSVP verbundenen Interessen sehr vielfältig und nur zum Teil miteinander vereinbar sind. Sobald die Briten die EU verlassen haben, wird der Druck auf die verbleibenden Mitglieder wachsen, ehrlich miteinander ins Gespräch zu kommen. Dabei können und sollten die großen Länder unbedingt mit einer gemeinsamen Vision vorangehen. Die bisherigen bilateralen Initiativen und der „Brief der Vier“ sind ein guter Anfang. Aber es wird wichtig sein, sich nicht nur auf Schlagworte zu einigen, sondern diese konkret auszuformulieren: Was sind das Ziel und der Mehrwert einer Verteidigungsunion? Wie passt sie sich in bestehende Regelwerke ein? Welche neuen Institutionen werden mit einer solchen Union verbunden sein und welche Kompetenzen erhalten sie? Wie soll die Zusammenarbeit mit der Nato konkret aussehen?
Die Mitgliedsstaaten der EU müssen nun zeigen, ob sie tatsächlich bereit sind, diese Fragen substanziell zu beantworten und konkrete Schritte in Richtung einer Verteidigungsunion zu gehen. Es gilt, in Abwandlung des Ausspruchs von Bill Clinton, der Satz „It’s the member states, stupid!“. Einen qualitativen Unterschied zur GSVP in altem Gewand wird es erst geben, wenn ausgewählte Länder zumindest in Teilfeldern eine „Ständige Strukturierte Zusammenarbeit“ beginnen und wenn in der zukünftigen Finanzplanung der Union Instrumente geschaffen oder Budgetlinien eröffnet werden, die eine eigenständige und vergemeinschaftete finanzielle Grundlage für die GSVP schaffen. Beide Optionen sind in den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 15. Dezember 2016 vorgesehen.
Für die Brüsseler Institutionen gilt es jetzt, Erwartungsmanagement zu betreiben. Sie müssen einerseits vermeiden, unrealistische Erwartungen zu befeuern und damit unvermeidlich Frustration bei jenen zu erzeugen, die schnell große Fortschritte sehen wollen. Andererseits dürfen sie ihre Ambitionen nicht zu bescheiden formulieren und müssen auf eine rasche Konkretisierung der Beschlüsse des Europäischen Rates vom Dezember 2016 drängen, um substanzielle Fortschritte zu erzielen und die Debatte in Gang zu halten. So gesehen ist die Globale Strategie der Europäischen Union weniger das Ziel, als vielmehr der Ausgangspunkt für den Weg zu strategischer Autonomie und zu mehr Sicherheit für Europa.
In der nun wieder engagiert geführten sicherheits- und verteidigungspolitischen Debatte ist deutlich geworden, dass die EU derzeit weder in der Lage ist, allein die Sicherheit ihrer eigenen Staatsbürger zu garantieren, noch effektiv Sicherheit und Entwicklung in ihrer strategischen Nachbarschaft und der übrigen Welt fördern kann. Ohne einen starken sicherheits- und verteidigungspolitischen Arm wird sie ihren eigenen Anspruch, im Rahmen eines umfassenden Ansatzes Friedensmacht zu sein und einen spürbaren Mehrwert zur Summe aller Anstrengungen der Nationalstaaten zu schaffen, kaum erfüllen können. Im Zuge der Erlangung größerer strategischer Autonomie wird es auch darum gehen, den Prozess so zu gestalten, dass Europa seine Identität als soft power nicht verliert. Dabei wird das Gründungsversprechen der Europäischen Union „Nie wieder Krieg“ in einer heute multipolaren Welt auf die Probe gestellt. Es bleibt die Maxime europäischer Friedenspolitik.
Dieses Essay basiert auf einem Beitrag in dem neuen Band von Hans-Peter Bartels, Anna Maria Kellner, Uwe Optenhögel (Hrsg.), Strategische Autonomie und die Verteidigung Europas: Auf dem Weg zur Europäischen Armee?, Bonn: Dietz Verlag 2017, 496 Seiten, 26 Euro