Auf der Suche nach neuer Orientierung
Der Ausgang der Europawahl ist in den Niederlanden unberechenbar. Derzeit werden mit höchster Polemik Positionen für und gegen den immer engeren Zusammenschluss Europas vertreten, und in den Medien gibt es kaum noch Zwischenpositionen. Doch wo nur in den Kategorien von Pro und Kontra über die europäische Integration gestritten wird, bleibt die Frage unbeantwortet, welchen Weg die EU eigentlich gehen soll. In den letzten Wochen vor der Wahl kann sich deshalb noch vieles ändern, auch weil die Kandidaten der Parteien medial bisher kaum präsent sind.
Ein wichtiges Thema ist dabei die Finanzkrise. Die Niederländer realisieren sehr wohl, wie abhängig ihre Handelsnation von der wirtschaftlichen Verflechtung mit Europa ist. Andererseits besteht eine große Abneigung gegen die neuen Steuerungsmechanismen der EU wie den Europäischen Stabilitätsmechanismus oder das Europäische Semester. Die eigentliche Frage aller Debatten um Europa ist jedoch, wo die Niederländer sich selbst einordnen. Ist ihr Land eine Art Halbinsel an der Nordsee mit dem Rücken zu Europa und dem Gesicht zu Großbritannien und der atlantischen Welt? Oder sind die Niederlande ein fester Bestandteil des Kontinents? Die wirtschaftlichen und internationalen Entwicklungen der vergangenen Jahre haben die Niederlande näher an Europa gebunden. Doch man muss abwarten, ob die Wähler das auch so sehen.
Die »Flutwelle« aus Rumänien ist ausgeblieben
Ähnlich wie in Deutschland könnte sich die neue Arbeitsmobilität aus Osteuropa zum Aufregerthema entwickeln. Beispielsweise warnte der sozialdemokratische Vizepremier und Arbeitsminister Lodewijk Asscher im August vergangenen Jahres in einem Zeitungsbeitrag vor den negativen Folgen des freien EU-Arbeitsmarktzugangs für Rumänen und Bulgaren ab 2014. Seiner Meinung nach sollte man in Europa einen Code Orange ausrufen, so wie dies geschieht, wenn Flüsse einen alarmierend hohen Wasserstand erreichen. Obwohl Asscher und sein britischer Koautor David Goodhart keine Flutwelle von Rumänen und Bulgaren beschworen, hantierten sie doch mit einer Metapher aus dem Hochwasserschutz: Die „Deiche“ seien an manchen Stellen im Begriff zu brechen.
Mittlerweile ist klar, dass seit Januar dieses Jahres nur einige hundert Bulgaren und Rumänen als temporäre Arbeitnehmer in die Niederlande gekommen sind. Von einem Deichbruch kann also nicht annähernd die Rede sein. Negativ angerechnet wurden Asscher seine Bemerkungen trotzdem nicht. Dafür ist das Interesse der Niederländer an der EU einfach zu gering. Laut einer Umfrage aus dem Januar interessieren sich nur 52 Prozent für die EU, während 24 Prozent eine gleichgültige Haltung einnehmen. Nur jeder Fünfte wusste die Zahl der EU-Mitgliedsstaaten und fast niemand kannte den Namen des Präsidenten des Europäischen Parlaments.
Desinteresse am »Elitenprojekt« Europa
In den niederländischen Medien spiegelt sich dieses geringe Interesse für die EU ebenfalls wider. Während dort ausführlich alle möglichen weltpolitischen Probleme von Mali bis Syrien besprochen werden, spielen die Themen des nächsten EU-Gipfels so gut wie keine Rolle. Erst wenn wirklich ein Deichbruch droht, rückt die EU in den Fokus – so wie es während der Finanzkrise manchmal der Fall war. Dann kommen aber eher Eurokritiker zu Wort, etwa der ehemalige EU-Kommissar Frits Bolkestein, der für einen „Neuro“ für nordeuropäische Länder und einen „Seuro“ für Südländer plädierte.
Brüssel selbst wird in den Medien oft als ein bürokratisches Monstrum dargestellt, wo bedeutungslose Politiker ohne Kontakt zu den Wählern einsame Entschlüsse fassen. Kommissionspräsident José Manuel Barroso und EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy wurden vor kurzem abwertend als „Ahörnchen und Behörnchen“ bezeichnet. Eine noch schlechtere Presse bekommt nur das Europäische Parlament. So wurde viel über Abgeordnete berichtet, die nur wegen des Tagesgeldes im Parlament säßen. Besonders wenig Verständnis haben die Niederländer zudem für das Hin und Her des Parlaments zwischen Brüssel und Straßburg – ein Wanderzirkus, der als nutzlose Geldverschwendung angesehen wird. Das Europarlament ist somit keine attraktive Station für eine Karriere in der niederländischen Politik. Es überrascht nicht, dass die Wahlbeteiligung in den Niederlanden bei der letzten Europawahl nur bei 36 Prozent lag, im EU-Durchschnitt waren es immerhin 43 Prozent.
Ebenfalls wenig verblüffend ist, dass die Europaskeptiker in den Medien oft in die Offensive gehen können, während die Befürworter in die Verteidigung gedrängt werden. Bezeichnend dafür ist das von tonangebenden Journalisten und Professoren betriebene „Bürgerforum EU“, das für den Fall jeglicher neuen Übertragung von Souveränitätsrechten an Brüssel Referenden fordert. Die Mitglieder dieser Gruppe besitzen große Deutungshoheit in den Medien. Doch obwohl sie für ihr Anliegen 55 000 Unterschriften sammeln konnten, wurde dieses im niederländischen Parlament abgelehnt, da sich die meisten Parlamentarier vor einem neuen Referendum über das Thema scheuen. Die Abstimmung über die europäische Verfassung im Jahr 2005, die als Debakel der nationalen Politik betrachtet wird, liegt ihnen noch immer schwer im Magen.
Das Referendum wird häufig als ein Beweis für die Krise der politischen Elite in den Niederlanden gesehen. Obwohl der Richtungsstreit über die EU oft quer durch die politischen Parteien hindurch verläuft, quält sich vor allem die niederländische Sozialdemokratie mit der Problematik. Allgemein wird in ihren Reihen angenommen, dass es eine große Kluft zwischen den Gewinnern und den Verlierern der Europäisierung gibt: auf der einen Seite die kosmopolitische Elite, die vom internationalen Austausch profitiert, und auf der anderen Seite die Bewohner der alten Stadtviertel, die mit den negativen Resultaten der Globalisierung konfrontiert sind.
Einflussreiche Meinungsbildner wie René Cuperus betrachten die EU als ein Projekt der Elite, die sich zu wenig um die Probleme der Handwerker oder LKW-Fahrer kümmere, die ihre Arbeitsplätze durch die Konkurrenz aus Osteuropa bedroht sehen. Cuperus findet, dass die sozialdemokratische Antwort auf die Finanzkrise nicht „Mehr Integration“ lauten sollte. Stattdessen sollten die Nationalstaaten gestärkt werden – nicht nur als Schutz für die Finanzschwachen, sondern auch zum Wohle des Zusammenhalts der vielfältigen Gesellschaften Europas.
Große Angst vor den europaskeptischen Wählern
Seit dem Referendum von 2005 ist die Angst der niederländischen Politiker vor den europaskeptischen Wählern so groß, dass sie die Begriffe der Skeptiker teilweise übernehmen, teilweise aber auch neue Verteidigungsstrategien für mehr Integration entwickeln. Die niederländischen Politiker zeigen sich immer mehr als Vernunfteuropäer, die die EU sehr pragmatisch als Mittel zur Lösung wirtschaftlicher Problemen betrachten. Gerade die sozialdemokratische PvdA tritt zurückhaltend auf. So präsentierte der als EU-freundlich bekannte Außenminister Frans Timmermans dem Parlament im vergangenen Jahr eine Subsidaritätsüberprüfung mit dem vielsagenden Motto „Europa wenn nötig, national wenn möglich“ (siehe dazu den Beitrag von René Cuperus in der Berliner Republik 5/2013). Darin heißt es, die Zeit des immer engeren Zusammenschlusses sei vorbei. Die Analyse enthält eine Liste mit 54 Punkten und Kompetenzen, die in Zukunft nicht europäisch, sondern national gehandhabt werden sollen. Diese Betonung der Subsidiarität ist seitdem die offizielle Politik des Kabinetts.
Wie bei vielen niederländischen Politikern sieht man auch bei Timmermans, dass das Glas zu Hause halb leer ist, während es im Ausland als halb voll dargestellt wird. Der Minister zeigt in seinen Vorträgen in den Niederlanden viel Verständnis für die Kritiker der EU, auf die er dann letztlich mit einem Plädoyer für eine zielgerichtete, effiziente und beschränkte Union reagiert. Im Ausland hingegen stellt sich Timmermans gern als Überzeugungseuropäer dar. Hier warnt er vor den Kritikern, die die Europäische Union mithilfe neuer Erfolge für sich einnehmen müsse. Die EU solle sich deshalb nicht mit Nebensachen beschäftigen, sondern auf die wichtigen Themen fokussieren.
Bemerkenswert sind hier nicht die zwei Gesichter eines Ministers, sondern die unterschiedlichen Mitteilungen für ein unterschiedliches Publikum. Denn seit dem Aufstieg von Geert Wilders müssen die niederländischen Politiker zu Hause und im Ausland die EU mehr erklären als zuvor. Vor allem der liberale Premier Mark Rutte ist für seine ablehnende Haltung zu Hause und seine Wendigkeit in Brüssel kritisiert worden. Das ist aber eine Fehleinschätzung. Die deutschen Politiker neigen heutzutage ebenfalls dazu, sowohl europafreundlich als auch äußerst kritisch zu sein, gerade wenn es um die Europäische Kommission geht.
Interessanterweise betreibt die niederländische Regierung mit ihrer Subsidaritätsüberprüfung Innen- und Außenpolitik zugleich. Ihr Konzept richtet sich einerseits an die Integrationskritiker, andererseits dient es dazu, die Niederlande sowohl Deutschland als auch Großbritannien anzunähern. In Berlin lässt sich das Papier einfach als ein erster Ansatz zu einem Kompetenzkatalog lesen, während es in London als ein Schritt zur neuen, abgespeckten EU wahrgenommen werden kann, wie sie David Cameron in seiner Europarede vorausgesagt hat.
Politisch gesehen befinden sich die Niederlande in der EU am liebsten inmitten des Dreiecks zwischen Deutschland, Großbritannien und Frankreich. Und dank der Finanzkrise gelingt das ziemlich gut. So sieht sich Mark Rutte gern in der Rolle des Mittlers zwischen seinem Freund Cameron und dem Rest der EU. Auch die Beziehungen zu Deutschland sind ausgezeichnet, vor allem seitdem mit Frankreich nicht mehr so gut Kirschenessen ist. Die niederländischen Informationskanäle in der EU sind alle offen, gerade auch seitdem Jeroen Dijsselbloem der Eurogruppe vorsitzt.
Die Lage der Niederlande ist heute also eine ganz andere als bei der letzten Europawahl 2009. Damals herrschte nicht ganz zu Unrecht der Eindruck vor, die Niederlande könnten kaum Einfluss auf die Entwicklungen in der EU ausüben. Seit 2010 aber haben die Niederlande auf Kosten der südeuropäischen Länder und Frankreichs deutlich an Einfluss gewonnen. Fraglich bleibt, ob sich die niederländischen Wähler dieser stärkeren Position ihres Landes in der EU bewusst sind, wenn sie im Mai ihre Stimme abgeben. Wenn die niederländische Politik in Europa doch einflussreich ist – weshalb sollte man dann noch europaskeptisch sein?
Den niederländischen Pragmatikern ist Brüssel zu komplex
In Wirklichkeit geht die Idee einer Kluft zwischen Brüssel und den niederländischen Wählern weniger auf eine Krise der niederländischen Eliten zurück, denn das Problem der Legitimität von „Eliten“ hat es schon immer gegeben. Vielmehr handelt es sich um ein Orientierungsproblem: Gehören die Niederländer zur pragmatischen, offenen atlantischen Welt? Oder sind sie Teil des alten Kontinentaleuropas mit seiner durch „die Südländer“ geprägten Höflichkeitskultur und der deutsch angehauchten Ordnungspolitik?
Offensichtlich gibt es vor allem eine Kluft zwischen der politischen Kultur in Den Haag und den Ausschüssen in Brüssel. Für die pragmatischen Niederländer sind die Brüsseler Mechanismen der Konsensbildung und Entscheidungsfindung einfach zu komplex, verrechtlicht und undurchschaubar. Die Kluft zwischen der deutschen politischen Kultur und Brüssel ist in vielerlei Hinsicht kleiner: Wie in der EU besteht in Deutschland eine Fülle von checks and balances; die deutsche föderale Struktur, die Ordnungspolitik sowie eine stark entwickelte Verfassungskultur sind in gewissem Maße mit Brüssel vergleichbar.
Ein letzter und für die Europawahl entscheidender Unterschied betrifft das politische Gewicht der Länder. Die Niederländer wissen, dass ihr Land nur eines von 28 Mitgliedsstaaten ist, das – langfristig gesehen – an Deutungshoheit in der EU verlieren wird. Deutschland hingegen ist vor allem seit der Finanzkrise in das Entscheidungszentrum der EU gezogen und wird diese Position nicht so schnell wieder abgeben. Die Niederländer fühlen sich dadurch vor allem in finanziellen Angelegenheiten abgesichert. Allerdings assoziieren sie auch die weniger populären Steuerungsmechanismen der EU mit der deutschen Europapolitik. Diese gegensätzlichen Empfindungen werden für viele Wähler in Europa sicherlich eine Rolle spielen.