Wenn sich die Fakten ändern

EDITORIAL

Viele Europäer aus dem Innenraum der Europäischen Union haben den Eindruck, in einer weitgehend grenzenlosen Welt zu leben. Tatsächlich haben die Binnengrenzen der EU immer mehr von ihrer früheren Bedeutung eingebüßt. Der Eiserne Vorhang, der Europa in der Ära des Kalten Krieges so brutal trennte, ist seit einem Vierteljahrhundert beseitigt. Und nur mindestens mittelalte Menschen können sich noch daran erinnern, wie es war, auf dem Brenner vor den Grenzabfertigungsanlagen zwischen Österreich und Italien im Stau zu stehen oder sich bei der Einreise in die Niederlande ausweisen zu müssen. Auch dass wir heute in der Lage sind, ständig in Echtzeit und weltweit zu kommunizieren oder uns für wenig Geld in den nächstbesten Flieger nach Barcelona, Budapest oder Bordeaux zu setzen, trägt unter EU-Europäern zum verbreiteten Gefühl bei, Grenzen seien „irgendwie 20. Jahrhundert“ und jedenfalls heute nicht mehr wichtig.

Diese Auffassung erweist sich unterdessen als ebenso standortbedingte wie weltvergessene Fehlwahrnehmung. Tatsächlich haben Grenzen in den vergangenen Jahrzehnten seit 1989 niemals aufgehört, bedeutsam zu sein, wie jeder junge Afrikaner bestätigen kann, der gerade am Zaun von Melilla versucht, auf europäisches Hoheitsgebiet zu gelangen: Europas Offenheit im Inneren und die Verschärfung des europäischen Grenzregimes nach außen sind offensichtlich zwei Seiten derselben Medaille.

Inzwischen wächst die Einsicht, dass die Ära der Grenzenlosigkeit doch nicht angebrochen ist. Verantwortlich dafür ist nicht nur die Tatsache, dass die außer Kontrolle geratenen kriegerischen Konflikte im Nahen Osten und in Afrika immer mehr Vertriebene und Flüchtlinge veranlassen, sich nach Europa zu retten. Auch die gewalttätige Annexions- und Eroberungspolitik Russlands gegenüber der Ukraine sowie die von Russland geschaffenen frozen conflicts konfrontieren uns Europäer wieder mit der Frage, wie sicher und unangefochten unsere eigenen Grenzen eigentlich noch sind. Nur weil wir Deutschen – ein grandioser zivilisatorischer Fortschritt – in den vergangenen Jahrzehnten zu der späten Einsicht gelangten, dass Grenzveränderungen, Raumrevanchismus und territoriale Expansion unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts schlicht widersinniger Mumpitz sind, müssen sich nicht alle anderen diese Weltsicht zu eigen machen. Russlands Diktator teilt sie mit Sicherheit nicht.

Was folgt daraus für uns? „When the facts change, I change my mind“, sagte einst John Maynard Keynes. Das sollten wir tun. Denn wir haben allen Grund, unser Nachdenken über Grenzen auf den Stand sich verändernder Tatsachen zu bringen. Der Schwerpunkt dieses Heftes liefert Anregungen dafür.

In diesem Jahr ist die Berliner Republik 15 Jahre alt geworden. Richtig feiern werden wir unser Jubiläum aber erst im kommenden Januar – alle unsere Abonnentinnen und Abonnenten laden wir dazu herzlich ein. Zunächst einmal steht allerdings das Weihnachtsfest ins Haus. Wer ein intelligentes Geschenk für Freunde und Verwandte sucht, dem lege ich ein Abonnement der Berliner Republik ans Herz.

Alles erdenklich Gute zu Weihnachten und zum Jahreswechsel wünscht im Namen der gesamten Redaktion:

Ihr Tobias Dürr, Chefredakteur

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