Polen zum Beispiel

EDITORIAL

Viel unterscheidet die neue Berliner Republik von der alten Bonner. Vor ein paar Jahren war das noch heiß umstritten. Nicht wenige glaubten tatsächlich, von Berlin aus werde sich mehr oder weniger bruchlos fortsetzen lassen, was das halbe Deutschland im Westen fünfzig Jahre lang praktiziert hatte. Längst ist klar, dass es so nicht kommen konnte. Allzu viele Bedingungen, Umstände, Koordinaten haben sich verändert und verschoben - innen wie außen, gesellschaftlich, politisch, ökonomisch, kulturell und lebensweltlich. Kaum eine Sphäre bleibt ausgespart. Und wenigstens diffus wahrgenommen hat das inzwischen auch fast jeder. Was dagegen bis heute auf vielen Feldern noch aussteht, ist die präzise Benennung der Differenz. Wir erleben den Wandel, oft hautnah und Tag für Tag, aber das Neue bringen wir noch nicht so recht auf den Begriff. Ob eine neue politische Generation zur eigenen "Definition" (Heinz Bude) der veränderten Verhältnisse im Stande sein wird oder nicht, wird gerade auch davon abhängen, ob sie zuvor eine genaue Diagnose der veränderten Verhältnisse hinbekommt. In der Berliner Republik soll diese Suche nach der gesellschaftlichen und politischen Wirklichkeit ihren Ort haben.

Polen ist ein Beispiel, eines der besten vielleicht sogar. Seit mehr als einem Jahrzehnt ist das Land mitten in Europa mit seinen fast 40 Millionen Einwohnern Nachbar aller Deutschen. Gerade eine Stunde braucht die Regionalbahn vom Berliner Ostbahnhof bis an die Grenze, etwas länger dauert die Fahrt nach Posen oder Warschau, Breslau oder Krakau. In jedem Sinne offen ist Polen heute allemal. Doch noch immer wenden die Deutschen ihrem zukünftigen Partner in der EU meist den Rücken zu. Vielen gilt Polen weiterhin bloß als Land des Papstes, der Autodiebe und der Spargelstecher. Eine umfassende empirische Studie des Warschauer Institutes für öffentliche Angelegenheiten hat die traurige Nicht-Beziehung der Deutschen zu ihrem großen östlichen Nachbarland gerade erst eindrücklich nachgewiesen: Mehr als zwei Drittel waren noch nie in Polen - mehr als zwei Drittel wollen auch gar nicht nach Polen. Für nahezu ein Viertel der Deutschen ist Polen ein Land ohne Bedeutung in Europa, und jeder Zweite bestreitet, dass in Polen eine funktionierende Marktwirtschaft existiert. Sehr bündig mit "nichts" antwortet fast jeder fünfte Deutsche auf die Frage, was er mit Polen assoziiere. Das alles ist zutiefst bedenklich, weil es an die kollektive Verweigerung sich wandelnder Wirklichkeit grenzt. Längst gibt es ja in Polen eine junge, dynamische Gesellschaft im Aufbruch - eine Gesellschaft, die wir entdecken müssen, wenn wir begreifen wollen, wer wir heute sind und wo wir stehen. In Europa und überhaupt. Weil es höchste Zeit dafür ist, fängt die Berliner Republik in dieser Ausgabe damit an.

Der Herausgeberkreis der Berliner Republik hat sich erneut erweitert. Neu eingetreten ist vor wenigen Wochen Hans Martin Bury, Staatsminister beim Bundeskanzler und Bundestagsabgeordneter aus Bietigheim-Bissingen in Baden-Württemberg. Herzlich willkommen, Herr Minister!

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